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Eine Sekunde später erschien er in Eunice Weldons Zimmer.

 

»Ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte er. Ein düsterer und unheimlicher Ausdruck lag in seinem Gesicht. »Meine Liebe, Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Ihre Freunde sind draußen und wollen in das Haus einbrechen; in einer halben Stunde werden Sie frei sein. Ich will Sie nur in eine Lage bringen, die Sie hindert, Aussagen gegen mich, zu machen, bis ich aus dem Hause bin und genügend Vorsprung habe. Nein, ich will Sie nicht töten«, sagte er fast lachend, »und wenn Sie nicht vernünftig genug sind, einzusehen, warum ich das tun muß, sind Sie eine Närrin. – Aber Sie sind doch so klug, Eunice.«

 

Sie sah etwas Helles, Glänzendes in seiner Hand und schrak entsetzt vor ihm zurück.

 

»Rühren Sie mich nicht an!« rief sie atemlos. »Ich schwöre Ihnen, daß ich nichts verraten will!«

 

Aber er hatte sie schon am Arm ergriffen.

 

»Wenn Sie schreien oder Spektakel machen«, sagte er drohend, »werden Sie es bitter zu bereuen haben.«

 

Plötzlich fühlte sie einen Stich in ihrem Arm und versuchte ihn fortzuziehen, aber er hielt sie wie mit eiserner Klammer fest.

 

»Nun ist ja alles gut – es hat doch gar nicht weh getan.«

 

Sie hörte ihn furchtbar fluchen, und als er ihr sein Gesicht zuwandte, war es dunkelrot vor Wut.

 

»Sie haben die Haustür eingebrochen«, sagte er bitter.

 

Sie ging auf ihn zu. Ihr Gesicht war merkwürdig ruhig. »Gehen Sie jetzt?« fragte sie nur.

 

»In ein paar Minuten werden wir gehen«, sagte Digby und betonte das ›Wir‹ sehr scharf.

 

Aber auch das schien sie kaum zu bemerken. Sie war in einen merkwürdig apathischen Zustand verfallen. Es war ihr furchtbar schwer, ja geradezu unmöglich, sich darauf zu besinnen, was noch vor einer Minute geschehen war. Sie setzte sich auf einen Stuhl und streichelte nur ihren Arm. Sie wußte doch, daß sie gestochen worden war, aber sie fühlte keinen Schmerz. Es war ihr alles gleichgültig; auch um Digby Groat kümmerte sie sich nicht mehr. Es kam ihr alles so seltsam und doch so angenehm vor.

 

»Setzen Sie Ihren Hut auf«, sagte er, und sie gehorchte. Sie dachte gar nicht daran, sich ihm zu widersetzen.

 

Er führte sie zum Kellergeschoß durch eine Tür, die mit einer Garage in Verbindung stand. Es war nicht der Raum, in dem sein eigener Wagen untergebracht war. Jim hatte sich schon oft den Kopf darüber zerbrochen, warum Digby sein Auto so weit entfernt von seinem Haus untergebracht hatte. Hier stand nur ein geschlossener, Lieferwagen, wie ihn die Firmen gebrauchen, um ihre Waren zu befördern.

 

»Steigen Sie ein«, sagte Digby, und Eunice gehorchte wieder mit einem seltsamen Lächeln.

 

Sie stand unter dem Einfluß einer Mischung von Morphium und Hyacin, die ihr Gedächtnis und ihren Willen zerstört hatte.

 

»Setzen Sie sich auf den Boden«, befahl er, und sie folgte ihm. Er zog, unter dem Führersitz aus dem Kasten eine alte Chauffeurjacke hervor, die früher einmal hellgrau gewesen, jetzt aber durch Farbe und Schmutz befleckt war. Er knöpfte sie bis oben zu, dann holte er noch eine alte Kappe hervor, stülpte sie über den Kopf und zog den Schirm so tief ins Gesicht, daß er seine Augen fast bedeckte.

 

Dann öffnete er die Tür der Garage, die in eine Hintergasse führte. Mit Ausnahme einer Frau, die mit einem Milchmann sprach, war niemand zu sehen, und auch die beiden waren so sehr in ihre Unterhaltung vertieft, daß sie nicht auf den Wagen achteten.

 

Digby Groat zeigte keinerlei Eile. Er stieg wieder vom Fahrersitz herunter, machte das Garagentor zu und verschloß es. Dann zündete er sich eine Pfeife an und fuhr langsam in Richtung nach der Bayswater Road davon.

 

Er hielt nur an einer Tankstelle, um Treibstoff einzunehmen, dann fuhr er, aber stets mit mäßiger Geschwindigkeit, weiter. Er kam durch die Vorstädte, bis er die lange Straße erreichte, die von Staines nach Ascot führt. Hier hielt er an und stieg ab.

 

Er nahm einen kleinen, flachen Kasten aus seiner Tasche, füllte die Spritze wieder, öffnete den Verschlag und schaute in den Wagen.

 

Eunice lehnte mit dem Rücken an der Wand des Autos, und ihr Kopf nickte schläfrig. Sie sah ihn verwirrt an. –

 

»Haben Sie keine Angst.« Digby stieß die Nadel wieder in ihren Arm.

 

Sie verzog das Gesicht vor Schmerz ein wenig und streichelte ihren Arm.

 

»Das tut weh«, sagte sie.

 

Als er aus Ascot herauskam, wurde vor ihm ein Auto von Polizisten angehalten. Auch Digby mußte halten, weil der vordere Wagen ihm den Weg nicht freigab. Gespannt beobachtete er die Untersuchung des Wagens vor ihm.

 

»Wir suchen nach einem Herrn und einer Dame«, sagte einer der Beamten zu den Insassen, als sie den Wagen schnell durchsucht hatten. »Sie können weiterfahren.«

 

Jetzt kam Digby an die Reihe. Er nickte dem Polizisten freundlich zu.

 

»Kann ich passieren?«

 

»Ja.« Der Sergeant gab sich nicht die Mühe, in das Innere des Wagens zu schauen, auf dem der Name einer bekannten Londoner Möbelfirma stand.

 

Digby atmete schneller. Er durfte ein solches Risiko nicht noch einmal auf sich nehmen. An der nächsten Straßenkreuzung würde eine zweite Wegsperre sein. Er mußte nach London zurückfahren; die Polizei würde einen Wagen in der Richtung auf die Stadt nicht anhalten. Er bog also in eine kleine Nebenstraße ein und erreichte die Hauptstraße, indem er einen anderen Wachposten passierte. Die Polizisten nahmen gar keine Notiz von ihm. Sie hielten nur alle Wagen in entgegengesetzter Richtung an, und eine lange Reihe von Autos wartete dort. Es gab viele Plätze, zu denen er Eunice bringen konnte, aber der sicherste war die Garage, die er auf der Rückseite eines Häuserblocks in Paddington gemietet hatte. Diese Garage hatte schon der Bande der Dreizehn die besten Dienste geleistet. Jetzt war sie fast ein ganzes Jahr nicht benutzt worden, nur Jackson war öfter dort gewesen und hatte die Räume in Ordnung gehalten.

 

Er erreichte den Westen Londons, als es zu regnen begann. Alles ging nach Wunsch. Die Straße, in der die Garage lag, war vollkommen verlassen, und er hatte die Tore geöffnet und den Wagen hineingefahren, bevor die Inhaber der nächsten Garagen neugierig herauskamen, um zu sehen, wer diese Garage nach so langer Zeit wieder benutzte.

 

Digby hatte sich einen Hauptschlüssel für all die verschiedenen Garagen, Häuser und Räume, die von ihm benutzt, wurden, machen lassen, der alle Schlösser öffnete.

 

Halb führte, halb trug er Eunice aus dem Wagen. Sie seufzte, denn sie fühlte sich zerschlagen und müde.

 

»Hier hinauf«, sagte er und drängte sie vor sich her auf eine dunkle Treppe. Oben auf dem Podest blieb er stehen und schaltete das Lieht an.

 

Obwohl fast einen Monat lang nicht abgestaubt worden war, sah der Raum, dessen Fenster auf den Hinterhof gingen, hübsch und gemütlich aus und war nett möbliert. Er zog die schweren Vorhänge zu, bevor er die Lampe anmachte, Dann fühlte er ihren Puls und schaute ihr in die Augen.

 

»Sie fühlen sich jetzt wohl«, sagte er lächelnd. »Sie müssen hier nur solange warten, bis ich zurückkomme. Ich will etwas zu essen kaufen.«

 

»Jawohl«, erwiderte sie.

 

Nach zwanzig Minuten kam er wieder und sah, daß sie ihren Mantel abgelegt und sich die Hände und das Gesicht gewaschen hatte. Sie trocknete sich die Hände, als er eintrat. Es war etwas rührend Kindliches in ihrer ganzen Haltung, und ein Mann, der weniger roh gewesen wäre als Digby Groat, würde es nicht übers Herz gebracht haben, sie weiter gefangenzuhalten.

 

Aber er hatte nicht das geringste Mitleid mit ihr. Er überlegte sich gerade, ob es nicht besser und sicherer sei, ihr noch eine Spritze zu geben. Um eine schnellere Wirkung bei ihr hervorzurufen, hatte er die Dosis kräftiger genommen, als gut war, und fürchtete nun, daß sie zusammenbrechen oder eine Herzschwäche bekommen könnte. Das wäre für ihn ebenso unangenehm gewesen wie für sie, und er entschied sich dafür, zu warten.

 

»Essen Sie«, sagte er.

 

Sie setzte sich gehorsam an den Tisch.

 

Er hatte kalten Braten, Käse; Butter und Brot gebracht. Aus der nebenanliegenden Küche holte er noch zwei Gläser und füllte sie mit Wein.

 

Plötzlich legte sie Messer und Gabel nieder. »Ich fühle mich so furchtbar müde«, sagte sie.

 

Um so besser, dachte Digby Groat. Dann würde sie jetzt einschlafen.

 

Der hintere Raum war ein Schlafzimmer. Er beobachtete sie, während sie ihre Schuhe auszog, und den Gürtel ihres Kleides löste, bevor sie sich niederlegte. Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich der Wand zu und war schon fest eingeschlafen, bevor er auf die andere Seite des Bettes gehen konnte, um ihr Gesicht zu sehen.

 

Digby Groat rauchte lange, nachdem er gegessen hatte. Eunice war nun ganz in seiner Gewalt, aber sie konnte warten. Eine viel wichtigere Angelegenheit beschäftigte ihn jetzt. Er war in die Lage gekommen, die er schon lange vorausgesehen, für die er also auch schon alle Vorkehrungen getroffen hatte. Die Situation war nicht gerade angenehm, aber er fand Trost bei dem Gedanken an die schöne Plantage in Brasilien, wo er den Rest seiner Tage verbringen wollte. Er erhob sich, nahm aus einer Schublade Rasierzeug und ein Handtuch, machte Wasser auf dem Gasherd in der Küche heiß und rasierte sich den Schnurrbart ab. Mit seinem Nachschlüssel öffnete er den Schrank, der in den Raum eingebaut war, und musterte die Anzüge und Mäntel, die dort hingen. Das obere Fach war mit Kasten angefüllt, und er nahm zwei oder drei Schachteln herunter, um ihren Inhalt zu prüfen. Aus der einen nahm er ein prachtvolles Abendkleid aus Silberspitzen und legte es über die Stuhllehne. Dann wählte er ein dazu passendes Unterkleid aus Seidensatin. Aus einem anderen Kasten nahm er ein Paar weiße Seidenschuhe und Strümpfe. Er schien mit seiner Wahl sehr zufrieden zu sein, denn seine Blicke ruhten mit Wohlgefallen auf den Dingen. Auch seine eigene Verkleidung hatte er schon gewählt.

 

Er legte jetzt eine Chauffeuruniform an und ging dann zum Telefon.