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An demselben Nachmittag trat Jim in Mr. Salters Büro.

 

»Ich gehe jetzt zum Tee«, sagte er.

 

Mr. Salter schaute auf die altmodische Uhr an der gegenüberliegenden Wand.

 

»Es ist gut. Sie gehen in letzter Zeit immer sehr pünktlich zum Tee, Steele – warum werden Sie denn rot? Handelt es sich um ein Mädchen?«

 

»Nein«, erwiderte Jim unnötig laut. »Ich treffe zwar ab und zu eine Dame beim Tee, aber –«

 

»Machen Sie, daß Sie fortkommen«, sagte der alte Mann ärgerlich. »Grüßen Sie sie von mir.«

 

Jim mußte lachen, während er die Treppe hinunterstieg und auf die Marlborough Street hinaustrat. Er beeilte sich, weil es schon etwas spät war. Erleichtert atmete er auf, als er in das stille, ruhige Lokal trat und den Tisch, an dem er gewöhnlich saß, noch unbesetzt fand.

 

Als er am Tisch Platz genommen hatte, kam die Kellnerin strahlend auf ihn zu, um nach seinen Wünschen zu fragen.

 

»Ihre junge Dame ist noch nicht gekommen, Sir«, sagte sie.

 

Es war das erste Mal, daß sie Eunice Weldon erwähnte, und Jim war es höchst peinlich.

 

»Die junge Dame, die manchmal mit mir Tee trinkt, ist nicht meine junge Dame«, erwiderte er etwas kühl.

 

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte die Kellnerin und kritzelte auf ihrem Notizblock, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

 

»Sie bestellen wohl wie gewöhnlich?«

 

»Ja. Bringen Sie alles wie sonst.«

 

In diesem Augenblick trat eine Dame zur Tür herein, und er erhob sich schnell, um sie zu begrüßen.

 

Sie war von schlankem Wuchs und ging sehr, aufrecht. Etwas Liebenswürdiges und Elegantes lag in ihren Bewegungen, so daß die Herren, die auf den Straßen umherschlenderten, stehenblieben, wenn sie vorbeiging. Eunice hatte ein reines, fast madonnenhaftes Gesicht, aber ihre fröhlich lachenden, blauen Augen und ihre schöngeschwungenen Lippen waren sehr lebhaft und schienen nicht gewillt, das Leben in klösterlicher Abgeschlossenheit zu vertrauern. In ihren Augen lag ein eigentümlicher Glanz, in dem sich eine Bitte und auch zugleich eine Warnung ausdrückte. Es lag Reinheit in ihrem ganzen Wesen, in all ihren Zügen, in dem ausdrucksvollen Mund, in dem runden, jugendlichen Kinn. Es lag wie ein Hauch von Taufrische über ihrer weißen, klaren, fast durchsichtigen Haut. Alle Schönheit der Jugend schien in ihr vereinigt zu sein.

 

Sie ging Jim mit ausgestreckter Hand entgegen.

 

»Ich bin etwas spät dran«, sagte sie vergnügt. »Wir hatten eine langweilige Herzogin im Atelier, die ich in siebzehn verschiedenen Stellungen aufnehmen mußte – sie sah nicht besonders schön aus, aber gerade mit den unansehnlichsten Menschen hat man meistens die größte Mühe.«

 

Sie setzte sich, zog ihre Handschuhe aus und erwiderte freundlich den Gruß der Kellnerin.

 

»Die einzige Möglichkeit, schön zu sein, besteht für Leute mit Durchschnittsgesichtern in einer effektvollen Fotografie«, sagte Jim.

 

Eunice Weldon war in einem bekannten fotografischen Atelier in der Regent Street angestellt. Jim hatte sie vor einiger Zeit erst in dem Lokal, in dem sie augenblicklich saßen, beim Tee kennengelernt, und zwar bei einer besonderen Gelegenheit. Die Gardinen am Fenster, in dessen Nähe sie saß, hatten Feuer gefangen. Jim löschte die Flammen und verbrannte sich dabei die Hand. Und Miss Weldon hatte ihn verbunden.

 

Wenn ein Herr einer Dame einen Dienst erweist, so führt das meistens nicht zu einer näheren Bekanntschaft. Wenn aber umgekehrt eine junge Dame einem Mann hilft, so ist das unweigerlich der Beginn einer Freundschaft.

 

Seit dieser Zeit hatten sie sich täglich hier beim Tee getroffen. Einmal versuchte Jim auch, sie zum Theater einzuladen, aber sie schlug seine Bitte ab.

 

»Haben Sie weitere Erfolge gehabt bei Ihrer Suche nach der verlorenen jungen Dame?« fragte sie, während sie sich Marmelade auf ein Brötchen strich.

 

Jims Stirn legte sich in Falten.

 

»Mr. Salter hat mir heute klargemacht, daß es wenig an den Verhältnissen ändern würde, wenn ich sie fände.«

 

»Es wäre aber doch wundervoll, wenn das Kind gerettet worden wäre. Haben Sie jemals an diese Möglichkeit gedacht?«

 

Er nickte. »Leider dürfen wir uns keine Hoffnung in dieser Richtung machen, so schön es auch wäre. Und am meisten würde ich mich freuen«, meinte er lachend, »wenn Sie die vermißte Erbin wären!«

 

»Das ist hoffnungslos«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich bin die Tochter armer, aber ehrlicher Eltern, wie es immer so schön heißt.«

 

»Ihr Vater lebte immer in Südafrika?«

 

»Ja, er war Musiker. Auf meine Mutter kann ich mich kaum besinnen, sie muß sehr lieb gewesen sein.«

 

»Wo wurden Sie denn geboren?«

 

»In Kapstadt-Rondebosch, um genau zu sein. Aber warum geben Sie sich denn solche Mühe, die verlorene Dame aufzufinden?«

 

»Weil ich nicht will, daß dieser schreckliche, ungebildete Mensch, das große Erbe der Danton-Millionen antreten soll.«

 

Sie richtete sich erstaunt auf.

 

»Wer ist denn dieser ungebildete Mensch? Sie haben mir bis jetzt seinen Namen noch gar nicht genannt.«

 

Das stimmte, Jim Steele hatte ihr erst vor ein paar Tagen von dieser Sache erzählt, die ihn so sehr beschäftigte.

 

»Der junge Mensch heißt Digby Groat.«

 

Sie schaute ihn verwirrt an.

 

»Was haben Sie denn?« fragte er erstaunt.

 

»Als Sie vorhin den Namen Danton erwähnten, erinnerte ich mich daran, daß unser erster Fotograf neulich sagte, Mrs. Groat sei die Schwester Jonathan Dantons«, sagte sie langsam.

 

»Kennen Sie die Familie Groat?«

 

»Ich kenne sie nicht«, sagte sie langsam, »wenigstens nicht sehr gut –« Sie zögerte. »Aber ich werde eine Stellung bei Mrs. Groat als Sekretärin annehmen.«

 

Er sah sie groß an. »Und davon haben Sie mir noch nichts gesagt?«

 

Aber als sie die Augen niederschlug, erkannte er, daß es falsch von ihm war, so zu fragen.

 

»Natürlich«, fügte er schnell hinzu, »es liegt ja kein Grund vor, warum Sie mir das sagen sollten.«

 

»Ich weiß es selbst erst seit heute. Mr. Groat ließ sich fotografieren, und seine Mutter begleitete ihn zum Atelier. Sie waren schon ein paarmal da, aber ich habe kaum von ihnen Notiz genommen. Heute rief mich der Chef zu sich und sagte, daß Mrs. Groat eine Sekretärin brauchte und daß es eine sehr gute Stelle für mich sein würde. Sie will fünf Pfund die Woche zahlen, die ich vollständig sparen kann, denn ich werde in ihrem Hause wohnen.«

 

»Wann hat sich denn Mrs. Groat entschlossen, eine Sekretärin anzustellen?«

 

»Das weiß ich nicht – warum fragen Sie mich, danach?«

 

»Ich habe sie vor einem Monat in unserer Kanzlei gesehen. Mr. Salter machte ihr damals den Vorschlag, sich eine Sekretärin zu halten, um ihre Korrespondenz in Ordnung zu bringen. Sie erklärte aber, daß sie das unter keinen Umständen täte, sie wolle keine Fremde um sich haben, die weder Dienstbote noch Freundin sei.«

 

»Sie wird ihre Absicht eben geändert haben«, meinte Eunice lächelnd.

 

»Das bedeutet also, daß wir uns nicht weiter beim Tee treffen können. Wann werden Sie Ihre neue Stelle antreten?«

 

»Schon morgen früh.«

 

Jim ging in düsterer Stimmung in sein Büro zurück. Sein Leben schien plötzlich arm und traurig geworden zu sein.

 

›Du hast dich verliebt, alter Kerl‹, sagte er zu sich selbst.

 

Es gehörte zu seinen Pflichten, das große Tagebuch zu führen, und wütend blätterte er die Seiten um.

 

Mr. Salter war schon nach Hause gegangen. Jim steckte seine Pfeife an und trug die Vorgänge nach den kurzen Bleistiftnotizen seines Chefs ein, die er auf dem Schreibtisch zurückgelassen hatte.

 

Als er fertig war, ging er noch einmal in das Zimmer seines Chefs, um zu sehen, ob er nicht etwas vergessen hätte.

 

Mr. Salters Schreibtisch war für gewöhnlich in bester Ordnung, aber er hatte die merkwürdige Angewohnheit, wichtige Akten oder Notizen beiseite zu legen, man hätte fast sagen können, sie zu verstecken. Jim hob alle Gesetzbücher auf, die auf dem Tisch standen, ob er nicht noch irgendeine Notiz darunter finden könnte. Ein dünnes, goldgerändertes Notizbuch war zwischen zwei Bänden eingeklemmt gewesen und fiel nun auf die Tischplatte. Er konnte sich nicht besinnen, es früher gesehen zu haben. Als er es öffnete, entdeckte er, daß es ein Tagebuch für das Jahr 1929 war. Mr. Salter pflegte für seinen Privatgebrauch Notizen zu machen und tat das in einer sonderbaren, nur ihm verständlichen Kurzschrift. Keinem seiner Schreiber oder Sekretäre war es jemals gelungen, sie zu entziffern. Auch dieses Tagebuch war in dieser Geheimschrift abgefaßt.

 

Jim drehte die Blätter neugierig um und wunderte sich, daß ein so vorsichtiger und ordentlicher Mann ein Tagebuch herumliegen ließ. Er wußte, daß in dem großen, grünen Geldschrank ganze Stapel solcher kleinen Bände aufbewahrt wurden. Vielleicht hatte der Rechtsanwalt einen herausgenommen, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Es waren Hieroglyphen für Jim. Nur ab und zu stand ein Wort in offener Schrift dazwischen.

 

Aber plötzlich stutzte er, denn unter dem vierten Juni fand er eine lange Eintragung. Sie schien erst später von dem Rechtsanwalt gemacht worden zu sein, denn sie war mit grüner Tinte geschrieben. Aus diesem Umstand konnte er feststellen, wann sie geschrieben war, denn vor achtzehn Monaten hatte ein Augenarzt Mr. Salter gesagt, daß es ihm leichter fiele, grüne Schrift zu lesen, und seit diesem Zeitpunk hatte der Rechtsanwalt stets grüne Tinte für seine Schriftsätze benutzt. Jim hatte den Absatz gelesen, bevor er sich darüber klar wurde, daß er eigentlich nicht dazu berechtigt war.

 

»Ein Monat Zuchthaus im Holloway-Gefängnis. Entlassen am 2. Juli. Madge Benson (dieser Name war unterstrichen) 14, Palmer’s Terrace, Paddington. 74, Highcliffe Gardens, Margate. Hatte lange Besprechungen mit dem Bootsmann, dem die ›Saucy Belle‹ gehörte.

 

Keine Spur von –«

 

Hier endete der Abschnitt in offener Schrift.

 

»Was, in aller Welt, mag das bedeuten?« murmelte Jim vor sich hin. »Das muß ich mir notieren.«

 

Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß er im Begriff war, etwas Unehrenhaftes zu tun, aber er war so interessiert an diesem neuen Hinweis, daß er seine Bedenken überwand.

 

Offenbar bezog sich diese Bemerkung auf die verschwundene Lady Mary. Wer diese Madge Benson war, und was die Erwähnung des Gefängnisses in Holloway bedeutete, wollte er herausbringen.

 

Als er die Notizen abgeschrieben hatte, ging er in sein Zimmer zurück, schloß seinen Schreibtisch ab, ging nach Hause und überlegte angestrengt, welche weiteren Nachforschungen er anstellen könnte.

 

Er hatte eine kleine Wohnung in einem Häuserblock, von dem aus man Regent’s Park übersehen konnte. Von seinen eigenen Zimmern aus hatte man allerdings keinen Blick ins Freie. Man konnte nur die unangenehmen Rückseiten anderer Mietshäuser sehen, und unten führte die Eisenbahn vorbei. Er hätte von seinem Fenster aus Kupfermünzen auf die vorbeifahrenden Wagen werfen können, so dicht lagen die Schienen bei seinem Hause. Dafür war aber auch die Miete nur halb so hoch wie für ähnliche Wohnungen in besserer Lage. Er hatte ein kleines Privateinkommen von zwei bis drei Pfund wöchentlich, und wenn er sein Gehalt dazunahm, konnte er verhältnismäßig gut leben. Seine drei Zimmer waren mit wertvollen, alten Möbeln ausgestattet, die er aus dem Zusammenbruch seines väterlichen Vermögens gerettet hatte; denn als sein etwas leichtsinniger Vater starb, konnten von seiner Hinterlassenschaft gerade die zahlreichen Schulden beglichen werden.

 

Jim war im vierten Stock aus dem Lift gestiegen und wollte eben aufschließen, als er hörte, daß die gegenüberliegende Tür sich öffnete. Er wandte sich um.

 

Die ältere Frau, die heraustrat, trug die Tracht einer Krankenschwester. Sie nickte ihm freundlich zu.

 

»Wie geht es Ihrer Patientin?« fragte Jim.

 

»Es geht ihr gut. Das heißt, so gut es einer so kranken Dame eben gehen kann. Sie ist Ihnen sehr dankbar für die Bücher, die Sie ihr schickten.«

 

»Die arme Frau«, meinte Jim bedauernd. »Es muß doch schrecklich sein, wenn man nicht mehr ausgehen kann.«

 

»Sicherlich, aber Mrs. Fane scheint es nichts mehr auszumachen. Man gewöhnt sich daran, wenn man schon sieben Jahre krank liegt.«

 

Es kamen Schritte die Treppe herunter, und sie schaute hinauf.

 

»Der Postbote kommt«, sagte sie. »Ich dachte, er wäre schon dagewesen. Vielleicht bringt er uns etwas.«

 

Die Briefträger ließen sich im Fahrstuhl bis zum sechsten Stock fahren und teilten im Hinuntergehen die Post aus.

 

»Ich habe nichts für Sie, Sir«, sagte er zu Jim, während er das Paket Briefe in seiner Hand durchsah.

 

»Miss Madge Benson – das sind Sie doch, Schwester, nicht wahr?«

 

»Jawohl«, entgegnete die Frau schnell, nahm dem Postboten den Brief aus der Hand, verabschiedete sich durch ein kurzes Kopfnicken von Jim und ging die Treppe hinunter.

 

Madge Benson! Der Name, den er eben in Salters Tagebuch gelesen hatte!