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Eine Entscheidung nahte. Digby Groat war viel zu vernünftig, um die Anzeichen nicht zu verstehen.

 

Seit zwei Jahren stand er in Verhandlungen mit einem Landagenten in San Paolo und hatte den Kauf einer großen Plantage so weit gefördert, daß er jeden Augenblick abschließen konnte. Durch allerhand Machinationen hatte er schlau die Identität seiner Person als Käufer nicht bekanntwerden lassen. Auf diesen ungeheuren Ländereien wollte er ein herrliches Leben führen. Es war möglich, daß er fliehen mußte, und in diesem Fall war der Aufenthalt auf seinen großen Besitzungen in Südamerika eine angenehme Abwechslung von dem ewigen Einerlei des Londoner Gesellschaftslebens. Er war fest entschlossen, Eunice Weldon mit sich zu nehmen. Sie sollte wenigstens ein Jahr lang dieses Leben mit ihm teilen. Was nachher wurde – er zuckte die Schultern. Auch früher waren ihm schon Frauen begegnet, hatten ihn fasziniert, stark angezogen und dann gelangweilt, und schließlich waren sie wieder aus seinem Gesichtskreis verschwunden. Wahrscheinlich würde Eunice denselben Weg gehen, aber darüber mußte .man sich ja den Kopf nicht zerbrechen.

 

*

 

Die Morgenstunden gingen zu langsam für Jim vorüber. Der Geschäftsführer sollte um ein Uhr ankommen, und Jim wartete auch pünktlich um diese Zeit im Büro der Schiffahrtsgesellschaft. Der Zug mußte jedoch Verspätung gehabt haben, denn es war schon über zwei, als der Ersehnte ankam. Ein Träger mit einem großen Paket begleitete ihn. Jim wurde sofort in das Privatbüro gebeten.

 

»Wir haben das Logbuch der ›Battledore‹ gefunden, aber nun habe ich das Datum vergessen.«

 

»Es war der 21. Juni.«

 

Das Logbuch lag offen auf dem großen Tisch, und es herrschte eine eigentümliche Atmosphäre und Spannung im altertümlichen Büro.

 

»Hier!« sagte der eine Partner. »Die ›Battledore‹ verließ Tilbury um neun Uhr vormittags bei abnehmender Flut, Wind Ost-Süd-Ost, See ruhig, etwas nebelig!« Er las weiter, »Ich glaube, jetzt kommt das, was Sie brauchen.«

 

Es war einer der dramatischsten Augenblicke im Leben Jims. Nach einigen einleitenden Worten kam der alte Herr plötzlich zu der Eintragung, die so wichtig für die Frau war, die Jim mehr als sein Leben liebte.

 

»›Schwere Nebelbänke, Geschwindigkeit um 11.50 Uhr auf die Hälfte reduziert. Um 12.10 Geschwindigkeit auf ein Viertel abgestellt. Obermaat Bosun berichtete, daß wir kleines Ruderboot in den Grund gebohrt haben und daß er zwei Personen im Wasser gesehen hat. Matrose Grand, ein tüchtiger Schwimmer, geht über Bord und rettet ein Kind. Zweite Person nicht gefunden. Später Geschwindigkeit wieder vergrößert, Versuch gemacht, nach Dungeneß zu signalisieren. Wetter zu diesig für Flaggensignale.‹«

 

Jim nickte.

 

»›Geschlecht des Kindes weiblich, Alter erst einige Monate. Kind der Stewardeß übergeben.‹«

 

Eintragung folgte auf Eintragung, aber das Kind wurde nicht wieder erwähnt, bis der Dampfer in Funchal einlief.

 

»Liegt auf der Insel Madeira«, erklärte der ältere Herr. »›Ankunft in Funchal sechs Uhr morgens. Dem britischen Konsul die Rettung des Kindes gemeldet. Konsul verspricht, nach London zu drahten.‹«

 

Die nächste Eintragung war in Dakar gemacht.

 

»Ein Hafen an der Westküste von Afrika, französisches Protektorat«, erklärte der Mann wieder. »›Telegramm vom britischen Konsul in Funchal erhalten mit der Mitteilung, daß der Londoner Polizei kein Kind als vermißt gemeldet wurde.‹«

 

Drei Tage vor der Ankunft in Kapstadt war wieder eine für Jim interessante Eintragung gemacht worden.

 

»›Mr. Weldon, ein Einwohner von Kapstadt, der mit seiner Frau eine Erholungsreise macht, bot an, das Kind zu adoptieren, das wir am 21. Juni auf See retteten, da er kürzlich sein eigenes Kind verloren hat. Mr. Weldon ist dem Kapitän persönlich bekannt, ferner ist seine Identität durch mehrere Passagiere bestätigt. Das Kind wurde ihm zur Pflege übergeben unter der Bedingung, daß die Angelegenheit den Behörden in Kapstadt gemeldet werden sollte.‹«

 

Eine vollständige Beschreibung der Größe, des Gewichtes, der Haut-, Haar- und Augenfarbe des kleinen Wesens folgte, und unter der Rubrik ›Besondere Merkmale‹ stand: ›Narbe am rechten Handgelenk, Schiffsarzt meint, daß sie von einer Brandwunde herrührt.‹

 

Jim atmete tief.

 

»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, meine Herren. Sie haben mir die Mittel in die Hand gegeben, ein großes Unrecht wieder gutzumachen. Auch das Kind ist Ihnen zu großem Dank verpflichtet, es ist allerdings inzwischen eine erwachsene Frau aus ihm geworden. – Es ist möglich, daß wir Sie bitten müssen, dieses Logbuch bei Gericht vorzulegen. Aber ich hoffe, daß die Rechtsansprüche unserer Klientin so klar zutage treten, daß es nicht zu einer Verhandlung kommt.« Er ging die Threadneedle Street hinunter. Er brauchte frische Luft. Die Tatsache, daß er, während er ein Vermögen für Eunice gewonnen hatte, selbst das größte Glück verloren hatte, störte seine Freude nicht.

 

Er hatte eine oberflächliche Kopie der Eintragungen des Logbuches gemacht und legte dieses Schriftstück, ohne ein Wort zu sagen, vor Mr. Salter auf den Tisch.

 

Die Augen des Rechtsanwaltes leuchteten beim Lesen auf.

 

»Die Angelegenheit liegt vollständig klar. Das Logbuch beweist die Identität von Lady Marys Tochter. Ihre Nachforschungen sind also nun zu Ende?«

 

»Noch nicht ganz«, lächelte Jim. »Wir müssen erst noch Jane Groat und ihrem Sohn das Erbe entziehen. Und außerdem müssen wir Miss Danton zu überreden versuchen, das Haus von Mr. Groat zu verlassen.«

 

»In diesem Falle ist vielleicht der Rat eines älteren Mannes wirkungsvoller als der Ihrige, mein Junge«, sagte der Rechtsanwalt und erhob sich. »Ich werde Sie begleiten.«

 

Ein neues Dienstmädchen öffnete ihnen, und Digby erschien sofort in der Tür seines Arbeitszimmers.

 

»Ich möchte Miss Weldon sprechen«, sagte Mr. Salter.

 

Digby wurde steif und formell bei seinem Anblick. Er hätte sich noch unsicherer gefühlt, wenn er gewußt hätte, welche Botschaft Salter zu überbringen, hatte.

 

Digby sah dem alten Mann ins Gesicht, aber Jim glaubte, in seiner ganzen Haltung Ungewißheit und Angst zu entdecken.

 

»Es tut mir leid, daß Sie Miss Weldon nicht sprechen können«, erwiderte Digby langsam. »Sie ist heute früh mit meiner Mutter nach Frankreich gefahren und ist in diesem Augenblick wahrscheinlich schon in Paris.«

 

»Das ist eine verdammte Lüge«, sagte Jim ruhig.