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Polizeistationen sind sehr unromantisch und langweilig. Digby Groat, der in höchster Wut dorthin kam, um seine Leute zu befreien, war so aufgeregt, daß er nicht einmal die humorvolle Seite der Sache entdeckte.

 

Vor dem Gebäude entließ er Antonio Fuentes mit einem schrecklichen Fluch und überhäufte den unglücklichen Jackson mit Vorwürfen.

 

»Sie verrückter, dummer Tölpel, ich habe Ihnen doch nur den Befehl gegeben, den Mann nicht außer Sicht zu lassen. Bronson hätte meinen Auftrag ausgeführt, ohne daß Steele auch nur das Geringste davon merkte. Warum haben Sie einen Revolver mitgenommen?«

 

»Wie konnte ich wissen, daß er einen so gemeinen Trick gegen mich ausführen würde?« brummte Jackson. »Nebenbei bemerkt, habe ich noch nicht gewußt, daß das verboten ist.«

 

Digby wußte, daß er in einer unangenehmen, sogar gefährlichen Lage war, als er in seiner Bibliothek saß und darüber nachdachte. Es war seine alte Theorie, daß große Pläne durch Kleinigkeiten über den Haufen geworfen wurden, und großzügig angelegte Verbrechen durch kleine, erbärmliche Versehen zu Fall kommen. Es war Jim gelungen, auf die einfachste und leichteste Art die Polizei gegen die Bande der Dreizehn in Bewegung zu bringen. Auf zwei Mitglieder war die Polizei nun aufmerksam geworden. Aber das schlimmste war, daß er selbst in die ganze Sache verwickelt war. Jackson war sein Hausmeister, und es konnte nicht weiter auffallen, daß er ein berechtigtes Interesse an ihm hatte. Fuentes zu kennen hatte er entschieden in Abrede gestellt, und nur weil der Spanier ein Freund seines Dieners war, hatte er auch für ihn Bürgschaft geleistet.

 

Wenn die Bande der Dreizehn einen großen Schlag führte, waren ihre Spuren so sorgsam verborgen und ihre Vorbereitungen so sorgfältig getroffen, daß niemand etwas entdecken konnte. Und hier waren nun durch eine kleine Gesetzesübertretung zwei Mitglieder der Bande unter polizeiliche Aufsicht geraten!

 

Digby Groat verbrachte eine schlaflose Nacht. Er konnte nicht einmal drei Stunden ruhen, und das war das Minimum, das er brauchte. Der Arzt, der zu Mrs. Groat gerufen wurde, blieb bis drei Uhr morgens.

 

»Sie hat keinen Schlaganfall erlitten, der Zusammenbruch ist durch einen plötzlichen Schrecken veranlaßt worden.«

 

»Da mögen Sie recht haben«, antwortete Digby. »Glauben Sie, daß sie sich wieder erholen wird?«

 

»Ach ja, es wird ihr schon morgen früh wieder besser gehen.« Digby nickte. Er hörte zu, ohne gerade besonders davon erfreut zu sein.

 

Anscheinend wuchsen die Schwierigkeiten täglich. Neue Hindernisse türmten sich ihm entgegen. Und wenn er über die Einzelheiten nachdachte, kam er immer wieder auf Jim zurück – er war an allem schuld!

 

Nachdem er am nächsten Morgen einen Winkeladvokaten angerufen und ihm die Verteidigung der beiden Leute übergeben hatte, ließ er Eunice Weldon holen.

 

»Miss Weldon«, begann er, »ich muß verschiedene Änderungen hier im Haushalt vornehmen. Ich möchte meine Mutter nächste Woche aufs Land mitnehmen. Die Luft hier in der Stadt scheint ihr nicht zu bekommen. Ich glaube nicht, daß sie sich erholen kann, wenn sie nicht eine ganz andere Umgebung bekommt.«

 

Sie nickte ernst.

 

»Ich glaube, daß ich sie nicht dorthin begleiten kann.«

 

Er sah sie scharf an.

 

»Wie meinen Sie das, Miss Weldon?«

 

»Ich habe hier nicht genügend Arbeit und mich deshalb entschlossen, wieder in meine alte Stelle zurückzugehen.«

 

»Es tut mir leid, das zu hören, Miss Weldon«, sagte er ruhig, »ich will Ihnen natürlich nichts in den Weg legen. In der letzten Zeit sind hier viel unangenehme Dinge vorgekommen, und Sie haben gerade nicht die besten Erfahrungen gemacht. Ich verstehe es vollkommen, wenn Sie Ihre Stellung bei uns aufgeben wollen. Ich hätte allerdings gern gesehen, wenn Sie noch bei meiner Mutter geblieben wären, bis sie sich auf dem Land heimisch fühlt. Aber selbst in dieser Beziehung will ich keinen Druck auf Sie ausüben.«

 

Sie hatte erwartet, daß er ärgerlich sein würde, und seine Höflichkeit machte deshalb größeren Eindruck auf sie.

 

»Ich werde Sie natürlich nicht eher verlassen, als bis ich alles getan habe, was in meinen Kräften steht«, sagte sie darum, wie er es erwartet hatte. »Und ich habe mich wirklich hier ganz wohl gefühlt, Mr. Groat.«

 

»Mr. Steele ist mir nicht sehr wohlgesinnt, nicht wahr?« fragte er lächelnd.

 

Sie machte ein abweisendes Gesicht: »Mr. Steele weiß nichts von meinen Plänen. Ich habe ihn in den letzten Tagen überhaupt nicht gesehen.«

 

Die beiden haben sich also entzweit, dachte Digby. Darüber müßte er Genaueres erfahren. Er war zu hinterhältig, um sie offen zu fragen, aber er wußte schon, daß die beiden sich am vergangenen Tage nicht getroffen hatten.

 

Eunice war froh, als die Unterredung zu Ende war und sie in Mrs. Groats Zimmer gehen konnte, die heute etwas früher nach ihr geschickt hatte.

 

Die alte Frau lag im Bett. Rücken und Arme waren durch Kissen gestützt; sie schien sich wieder gut erholt zu haben.

 

»Sie sind ziemlich lange ausgeblieben«, sagte sie vorwurfsvoll.

 

»Ihr Sohn hat mich sprechen wollen, Mrs. Groat.« Die alte Frau brummte etwas, das Eunice nicht verstehen konnte. »Machen Sie die Tür zu, und drehen Sie den Schlüssel um. Haben Sie Ihren Notizblock dabei?«

 

Eunice stellte einen Stuhl neben das Bett und war gespannt, welchen wichtigen Brief Mrs. Groat ihr diktieren würde. Sie wußte, daß die alte Frau ihre Briefe am liebsten mit der Hand schrieb und war um so mehr erstaunt.

 

»Ich möchte, daß Sie in meinem Namen einen Brief an Mary Weatherwale schreiben. Notieren Sie sich den Namen.« Die alte Frau buchstabierte. »Sie wohnt in Somerset Hill Farm, Retherley. Schreiben Sie ihr, daß ich sehr krank bin, daß sie unseren alten Streit vergessen möchte und daß ich sie bitte, hierherzukommen und mich zu besuchen. Unterstreichen Sie bitte, daß ich sehr krank bin«, sagte Jane Groat nachdrücklich. »Schreiben Sie ihr, daß ich ihr für ihre Bemühungen fünf Pfund wöchentlich geben will. Ist das zu viel?« fragte sie. »Nein, schreiben Sie lieber nichts von dem Gehalt. Dann bin ich daran gebunden, wenn sie kommt. Den Weatherwales geht es gerade nicht sehr gut. Schreiben Sie ihr, sie soll gleich kommen, unterstreichen Sie das auch, bitte.«

 

Eunice schrieb alles genau auf.

 

»Also hören Sie, Miss Weldon«, sagte Jane Groat leise. »Sie müssen den Brief schreiben, aber Sie dürfen meinem Sohn nichts davon sagen. Haben Sie mich verstanden? Bringen Sie den Brief selbst zur Post, und überlassen Sie ihn nicht diesem schrecklichen Jackson. Aber denken Sie vor allem daran, mein Sohn darf nichts davon erfahren.«

 

Eunice wunderte sich darüber, daß die alte Frau so geheimnisvoll war, aber sie führte den Auftrag gewissenhaft aus.

 

Von Jim hatte sie nichts mehr erfahren, obwohl sie vermutete, daß er der geheimnisvolle Fremde war, der Jackson in der Halle niedergeschlagen hatte. Die lange Wartezeit fiel ihr auf die Nerven. Sie achtete auf jedes Geräusch, und diese Nervosität hatte sie schließlich zu dem Entschluß veranlaßt, das Haus am Grosvenor Square zu verlassen und die weniger aufregende Tätigkeit in dem fotografischen Atelier wieder aufzunehmen.

 

Warum schrieb Jim nicht? Mit unerbittlicher Logik fragte sie sich indessen gleich darauf, warum sie denn nicht an Jim schrieb.

 

Am Nachmittag machte sie einen kleinen Spaziergang im Park und hoffte, ihn dort zu treffen. Aber obwohl sie eine ganze Stunde lang unter seinem Lieblingsbaum saß, tauchte er nicht auf, und sie kehrte niedergeschlagen und ärgerlich nach Hause zurück.

 

Eine kleine Postkarte hätte genügt, ihn hierherzubringen, aber sie konnte sich nicht überwinden, diese Postkarte zu schreiben.

 

Am nächsten Tag kam Mrs. Weatherwale, eine untersetzte, gutmütige, frisch aussehende Frau von etwa sechzig Jahren. Sie stellte ihr Gepäck unten in der Halle ab und begrüßte Eunice wie eine alte Freundin.

 

»Wie geht es dir denn, mein Liebling? Die arme, alte Jane! Ich habe sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Früher waren wir gute Freundinnen, aber sie – nun ja, wir wollen Vergangenes vergessen sein lassen. Führen Sie mich bitte in ihr Zimmer.«

 

Mrs. Weatherwale mußte sich sehr zusammennehmen, um den Schrecken zu verbergen, den sie bei dem Anblick ihrer früheren Freundin empfand.

 

»Aber, Jane, was ist denn mit dir los?«

 

»Nimm Platz, Mary. Es ist schon gut, Miss Weldon, Sie brauchen nicht zu warten.«

 

Eunice war froh, daß ihre Gegenwart nicht benötigt wurde. Als Digby Groat später am Nachmittag zurückkehrte, ging sie gerade durch die Eingangshalle. Er schaute auf das Gepäck, das noch nicht entfernt worden war, und wandte sich stirnrunzelnd an Eunice.

 

»Was hat das zu bedeuten?« fragte er. »Wem gehört denn das?«

 

»Eine Freundin von Mrs. Groat ist gekommen.«

 

»Eine Freundin meiner Mutter?« fragte er schnell. »Wissen Sie vielleicht ihren Namen?«

 

»Mrs. Weatherwale.«

 

Seine Gesichtszüge veränderten sich.

 

»Meine Mutter hat sie wahrscheinlich eingeladen«, sagte er ärgerlich, zog seine Handschuhe aus und legte sie auf den Tisch in der Halle. Dann eilte er die Treppe hinauf.

 

Was sich in dem Krankenzimmer ereignete, konnte Eunice nur vermuten. Als sie sah, daß Mrs. Weatherwale gekränkt die Treppe herunterkam, wußte sie, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Der zerdrückte Hut der Frau zitterte. Sie sah Eunice und rief sie zu sich heran.

 

»Lassen Sie mir, bitte, durch die Dienerschaft einen Wagen holen, mein Liebling. Ich gehe nach Somerset zurück. Es ist doch unerhört, daß man mich aus meinem Geschäft herausholt! Was denken Sie davon – eine Frau meines Alters und von meinem Ansehen! Hat mich doch dieser verrückte kleine Teufel von einem Jungen hinausgewiesen, den ich nicht einmal in meinem Viehhof duldete!« Sie war äußerst aufgebracht, und ihre Stimme zitterte vor berechtigtem Ärger. »Ich spreche von Ihnen«, rief sie mit lauter Stimme und schien damit jemand anzureden, den Eunice nicht sehen konnte. Anscheinend war es Digby. »Sie sind immer so eine kleine grausame Kanaille gewesen, und wenn Ihrer Mutter etwas passiert, gehe ich zur Polizei und zeige Sie an!«

 

»Es wäre besser, Sie gingen fort, bevor ich einen Polizisten hole«, schrie Digby wütend.

 

»Ich kenne Sie!« Sie drohte mit der Faust nach oben. »Ich habe Sie schon vor dreiundzwanzig Jahren gekannt, mein Junge! Ein gemeinerer und niederträchtigerer Bengel hat noch nie gelebt!«

 

Digby kam langsam die Treppe herunter. Er lächelte spöttisch. »Wirklich, Mrs. Weatherwale, Sie benehmen sich einmal wieder recht unvernünftig. Ich kann nicht dulden, daß meine Mutter sich mit Leuten Ihres Schlages abgibt. Ich bin nicht für ihren Geschmack verantwortlich, aber wohl für alles das, was hier in meinem Hause passiert.«

 

Das rosige Gesicht der Frau war dunkelrot geworden.

 

»Gewöhnlich! Sie gemeiner Ausländer! Sehen Sie, das sitzt! Ich kenne Ihr Geheimnis, Mr. Groat!«

 

Wenn Blicke töten könnten, dann wäre sie in diesem Augenblick leblos umgefallen. Digby machte am Fuß der Treppe kehrt, ging in sein Laboratorium und schmetterte die Tür hinter sich zu.

 

»Wenn Sie irgend etwas wissen wollen, was darin vorgeht –«, Mrs. Weatherwale zeigte auf die Tür seines Studierzimmers, »dann fragen Sie mich nur. Ich habe Briefe von seiner Mutter, als er noch ein Kind war. Die Kröte war erst so hoch, aber wenn Sie die Briefe lesen, stehen Ihnen die Haare zu Berge, mein Liebling!«

 

Als schließlich ihr Wagen kam und sie wieder abfuhr, atmete Eunice erleichtert auf.

 

Da habe ich also ein weiteres Familiengeheimnis kennengelernt, dachte sie, aber sie hatte auch schon die Knochen und schrecklichen Präparate gesehen, die Digby im Schrank aufbewahrte. Sie wäre gern fortgegangen wie Mrs. Weatherwale; doch Digby Groat hatte andere Pläne, von denen sie nichts wußte.

 

Diese Pläne reiften, und er dachte gerade wieder darüber nach, als laut an die Haustür geklopft wurde. Er ging in die Halle hinaus.

 

»War das ein Telegramm an mich?« fragte er.

 

»Nein, für mich«, sagte Eunice. Er brauchte nicht zu fragen, von wem sie eine Botschaft erhalten hatte, denn ihre leuchtenden Augen und ihr Erröten verrieten alles.