19

 

»Wer sind Sie, und was wünschen Sie?« fragte sie.

 

Er sah, wie sie ihre Hand senkte.

 

»Ach, Mr. Steele«, sagte sie, als sie ihn erkannt hatte.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie störe«, erwiderte Jim und schloß die Tür hinter sich, »aber ich möchte Sie dringend sprechen.«

 

»Nehmen Sie bitte Platz. Haben Sie mein« – sie zögerte – »mein Gesicht gesehen?«

 

Er nickte ernst.

 

»Jawohl, ich kenne Sie – Sie sind Mrs. Fane«, sagte er ruhig.

 

Langsam hob sie ihre Hand und nahm den Schleier ab. »Ja, ich bin Mrs. Fane. Sie denken vielleicht, daß ich Sie in hinterhältiger Weise täuschen wollte; aber, ich habe meine Gründe – schwerwiegende Gründe –, warum ich mich tagsüber nicht sehen lasse. Ich wünsche nicht erkannt zu werden als die Frau, die nachts ausgeht.«

 

»Dann waren Sie es, die den Schlüssel in meinem Buch zurückließen.«

 

Sie nickte und sah ihn an.

 

»Ich fürchte, daß ich Ihnen nicht viel sagen kann, weil ich in diesem Augenblick noch nicht darauf vorbereitet bin, weitere Auskünfte zu geben. Es ist überhaupt nicht viel, was ich Ihnen sagen könnte.«

 

Vor wenigen Minuten hatte er noch daran gedacht, wie schön es wäre, ihr seinen ganzen Kummer anvertrauen zu dürfen. Es kam ihm so unwirklich vor, daß er um diese mitternächtliche Stunde nun mit ihr in einem so prosaischen Büro zusammentraf und mit ihr sprach. Er sah auf ihre zarten, weißen Hände und lächelte. Sie hatte schnell seinen Gedankengang erraten.

 

»Sie dachten eben an die ›Blaue Hand‹?«

 

»Ja, ich dachte daran.«

 

»Vielleicht glauben Sie, daß es reine Schikane ist und daß diese Hand keine Bedeutung hat?«

 

»Merkwürdigerweise denke ich das nicht. Ich vermute hinter diesem Symbol eine sehr interessante Geschichte. Aber erzählen Sie sie mir nur, wenn Sie es an der Zeit halten, Mrs. Fane.«

 

Sie ging im Raum auf und ab, tief in Gedanken versunken. Er wartete gespannt, wie sich dieses Abenteuer weiterentwickeln würde.

 

»Sie sind hierhergekommen, weil Sie aus Südafrika die Nachricht erhielten, daß ich Nachforschungen nach dem Mädchen angestellt habe. – Befindet sie sich denn nicht in Gefahr?«

 

»Nein, im Augenblick bin nur ich in Gefahr, weil ich sie über alle Maßen beleidigt habe.«

 

Sie sah ihn scharf an, aber sie fragte nicht nach einer weiteren Erklärung.

 

»Wenn sie meine Warnungen für bedeutungslos hält, könnte ich sie nicht tadeln«, sagte sie nach einer Pause. »Aber ich mußte sie in einer Weise verständigen, die Eindruck auf sie macht.«

 

»Ich kann bei der ganzen Angelegenheit eines nicht verstehen, Mrs. Fane. Wenn nun Eunice diesem Digby Groat etwas von dieser Warnung gesagt hätte –«

 

»Er weiß davon«, erwiderte sie ruhig. Jim erinnerte sich an das Zeichen der blauen Hand an der Tür des Laboratoriums. »Aber er kann die tiefere Bedeutung nicht verstehen. Ich wollte nicht, daß Eunice ein Unglück zustößt.«

 

»Haben Sie einen Grund, daß Sie sie beschützen möchten?«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Vor einem Monat glaubte ich es noch. Ich vermutete, daß sie jemand sei, den ich seit langer Zeit suche. Ein Zufall und eine flüchtige Ähnlichkeit führten mich auf ihre Spur. Aber sie war nur ein Schatten, wie alle die anderen, denen ich nachjagte«, sagte sie mit bitterem Lächeln. »Sie interessierte mich. Ihre Schönheit, ihre Unbefangenheit, ihr kindliches Gemüt und ihr guter Charakter haben tiefen Eindruck auf mich gemacht, obgleich ich jetzt weiß, daß sie nicht die ist, die ich suche. Sie scheinen sich ja auch sehr für sie zu interessieren, Mr. Steele?« Sie sah ihn forschend an.

 

»O ja, ich interessiere mich stark für sie.«

 

»Lieben Sie Eunice?«

 

Die Frage kam ihm so unerwartet, daß es ihm unmöglich war, gleich zu antworten. Er war ein schweigsamer und zurückhaltender Mann, der nicht über seine Gefühle sprechen konnte.

 

»Wenn Sie Eunice nicht wahr und aufrichtig lieben, so kränken Sie sie nicht, Mr. Steele. Sie ist noch sehr jung, und sie ist zu schade dazu, einem Mann ein vorübergehendes Abenteuer zu sein, wie Mr. Groat das beabsichtigt.«

 

»Wie? Das will er tun?« fragte Jim empört.

 

Sie nickte.

 

»Es liegt noch eine große Zukunft vor Ihnen, und ich hoffe, daß Sie Ihre Karriere nicht ruinieren, nur weil Sie im Moment einem Phantom nacheilen, das Ihnen die wahre Liebe zu sein scheint.«

 

Er schaute auf und sah in ihr Gesicht. Sie hatte eindringlich gesprochen, und ein feines Rot lag auf ihrem Gesicht. Er dachte, daß er außer Eunice noch niemals eine so schöne Frau gesehen hätte.

 

»Ich bin jetzt am Ende meiner vielen Nachforschungen angekommen«, fuhr sie fort. »Und wenn wir erst Digby Groat und seine Mutter zur Verantwortung gezogen haben, ist meine Aufgabe gelöst.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe weiter keine Hoffnung im Leben, nichts, wofür ich leben könnte.«

 

»Worauf hatten Sie denn gehofft?«

 

»Zu finden, was ich suchte. Aber ich war töricht genug, etwas zu suchen, daß außer jeder Reichweite ist. Und ich muß für die Jahre, die mir noch zu leben übrigbleiben, mit dem zufrieden sein, was mir Gott schenkt. Dreiundvierzig Jahre umsonst gelebt!« Sie streckte die Arme mit einer leidenschaftlichen Bewegung aus. »Dreiundvierzig Jahre habe ich gelitten. Meine Kindheit war arm an Liebe, meine Ehe war trostlos und eine bittere Enttäuschung. Ich habe alles verloren, Mr. Steele, alles! Meinen Mann, mein Kind und meine Hoffnung.«

 

»Großer Gott«, sagte er plötzlich, »dann sind Sie –«

 

»Ich bin Lady Mary Danton.« Sie sah ihn fest an. »Ich dachte, Sie hätten es schon längst vermutet.«

 

Jim erschrak. »Lady Mary Danton!«

 

»Dann war sie also gefunden, dachte Jim enttäuscht. Das war ein sonderbares Ende seiner Untersuchungen, das ihm keine Belohnung und kein Avancement brachte, und beides brauchte er doch so bitter.

 

»Sie sehen enttäuscht aus«, sagte sie. »Sie hatten sich doch als Ziel gesetzt, Lady Mary zu finden?«

 

Er nickte.

 

»Nun haben Sie sie gefunden; erscheint sie Ihnen weniger anziehend, als Sie sich eingebildet haben?«

 

Er antwortete nicht. Er konnte ihr doch nicht sagen, daß er eigentlich nach ihrem toten Kind gesucht hatte.

 

»Wissen Sie auch, daß ich Sie monatelang jeden Tag gesehen habe, Mr. Steele? Ich habe in Eisenbahnzügen an Ihrer Seite gesessen, in der Untergrundbahn, ich habe im Lift neben Ihnen gestanden«, sagte sie mit einem leichten Lächeln. »Ich habe Sie überwacht, und ich habe Ihren Charakter studiert. Und ich habe Sie liebgewonnen.« Das letzte betonte sie besonders, und ihre schöne Hand ruhte einen Augenblick auf seiner Schulter. »Prüfen Sie sich wegen Eunice, und wenn Sie finden, daß Ihre Gefühle nicht ernst sind, dann erinnern Sie sich daran, daß diese Welt groß ist und daß Sie Ihr Glück auch sonst noch finden können und werden.«

 

»Ich liebe Eunice«, erwiderte Jim ruhig. Sie nahm ihre Hand wieder von seiner Schulter. »Ich liebe sie, wie ich nie wieder eine andere Frau lieben werde. Sie ist der Anfang und das Ende aller meiner Träume.« Er schaute nicht auf, aber er konnte hören, daß sie schneller atmete.

 

»Ich dachte mir, daß es so ist«, sagte sie dann leise.

 

Jim richtete sich plötzlich auf und sah sie offen an.

 

»Lady Mary, haben Sie die Hoffnung ganz aufgegeben, Ihre Tochter jemals wiederzufinden?«

 

Sie nickte. »Wenn nun Eunice Ihre Tochter wäre – würden Sie sie mir geben?«

 

Sie hob den Blick zu ihm.

 

»Ich würde dankbar sein, wenn ich sie Ihnen anvertrauen könnte. Sie sind der einzige Mann in der Welt, dem ich gern ein Mädchen anvertrauen würde, das ich liebe. Aber auch Sie jagen hinter einem Schatten her. Eunice ist nicht mein Kind. Ich habe mich nach ihren Eltern erkundigt, und es besteht kein Zweifel in dieser Frage. Sie ist die Tochter eines Musikers in Südafrika.«

 

»Haben Sie die Narbe an ihrem Handgelenk gesehen?« fragte er langsam. Es war seine letzte Hoffnung, daß sie sie daran erkennen würde, und als sie traurig den Kopf schüttelte, verlor er den Mut.

 

»Es ist mir ganz unbekannt, daß sie eine Narbe am Handgelenk hatte. Wie sieht sie denn aus?«

 

»Es ist ein kreisrundes, kleines Brandmal, so groß wie ein Halbschillingstück.«

 

»Dorothy hatte keine solche Narbe, sie war fleckenlos am ganzen Körper. Glauben Sie mir, Mr. Steele, Ihre Nachforschungen sind vergeblich, sie sind ebenso sinn- und zwecklos wie die meinen. Nun will ich Ihnen noch etwas von mir selbst erzählen«, sagte sie. »Aber ich werde Ihnen noch nicht das Geheimnis entschleiern, wie ich verschwand – das hat noch Zeit. Dieser Gebäudeblock gehört mir. Mein Mann kaufte ihn und schenkte ihn mir in einer großmütigen Anwandlung einen Tag später. Er gehörte schon damals mir, als alle Leute glaubten, daß er sein Eigentum sei. Im allgemeinen war er nicht großzügig und edelmütig, aber ich will Ihnen nichts davon erzählen, wie er mich behandelte. Von den Einkünften dieses Besitzes hatte ich genügend zu leben, und außerdem besitze ich ein Vermögen, das ich von meinem Vater erbte. Meine Familie war sehr arm, als ich Mr. Danton heiratete; aber kurze Zeit darauf starb ein Vetter meines Vaters, Lord Pethingham, und mein Vater erbte dessen großes Vermögen. Der größte Teil fiel später an mich.«

 

»Wer ist denn Madge Benson?«

 

»Müssen Sie das wissen? Sie bedient mich.«

 

»Warum war sie denn im Gefängnis?«

 

Lady Mary preßte die Lippen zusammen.

 

»Sie müssen mir versprechen, mich nicht über die Vergangenheit auszufragen, bis ich Ihnen selbst davon erzähle, Mr. Steele. Und jetzt können Sie mich nach Hause begleiten.« Sie sah sich im Zimmer um. »Gewöhnlich erhalte ich hier ein Dutzend Telegramme, die ich beantworten muß. Ein vertrauenswürdiger Sekretär kommt jeden Morgen und bringt die Telegramme zur Post, die ich hier zurücklasse. Ich habt alle Behörden von Buenos Aires bis Schanghai in Bewegung gesetzt und ich bin so müde – so furchtbar müde! – Aber noch ist meine Arbeit nicht zu Ende«, fuhr Lady Mary fort, und ihre Stimme wurde plötzlich hart und entschlossen. »Noch haben wir eine harte Arbeit vor uns, Jim –« sie gebrauchte seinen Vornamen schüchtern und lächelte wie ein Kind, als sie sah, daß er rot wurde. »Selbst Eunice wird nichts dagegen haben, wenn ich Jim sage – es ist doch ein so hübscher Name!«

 

Er wollte sie gerade fragen, warum sie denn in einer so unansehnlichen Wohnung lebte, die obendrein noch an der Eisenbahn lag, wenn sie ein so großes Vermögen besaß; aber er ahnte, daß sie ihm doch nur eine unbefriedigende Antwort geben würde.

 

Er verabschiedete sich von ihr an ihrer Wohnungstür.

 

»Gute Nacht, Frau Nachbarin«, sagte er lächelnd.

 

»Gute Nacht, Jim«, erwiderte sie leise.

 

Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Fenster fielen, saß Jim immer noch in seinem großen Sessel und dachte über alles nach, was er in dieser Nacht erlebt hatte.