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Jim hatte Eunice noch nie im Abendkleid gesehen und war erstaunt von ihrer fast überirdischen Schönheit. Sie trug ein verhältnismäßig einfaches Kleid aus hellfarbiger Seide, das nur in der Mitte durch golddurchwirkte Spitzen betont war. Sie erschien Jim größer und schlanker, und das Gewand hob die Grazie ihrer Erscheinung und ihre feinen Gesichtszüge noch mehr hervor.

 

»Nun«, sagte sie, als sie neben ihm im Wagen saß und sie Piccadilly entlangfuhren, »wie gefalle ich Ihnen?«

 

Jim konnte sich nicht satt an ihr sehen:

 

»Sie sind wunderbar schön«, sagte er hingerissen.

 

Er saß steif neben ihr im Wagen und wagte nicht, sich zu bewegen. Sie war für ihn der Inbegriff allen Glückes, die Erfüllung seiner letzten Träume.

 

»Ich habe fast Angst vor Ihnen, Eunice.«

 

Sie lachte silberhell.

 

»Aber Jim, sprechen Sie doch nicht so«, entgegnete sie und legte ihren Arm in den seinen.

 

Sie empfand eine gewisse Genugtuung, daß sie einen so großen Eindruck auf ihn machte.

 

»Ich muß Sie sehr viel fragen«, sagte sie, als sie in einer Ecke des großen Speisesaals im Ritz-Carlton-Hotel Platz genommen hatten. »Haben Sie meinen Brief bekommen? Es war eigentlich nicht richtig von mir, und ich glaube, ich war etwas verrückt, daß ich Ihnen die Schokolade geschickt habe. Sicherlich war es Mr. Groat gegenüber unrecht, aber Ihr Verdacht hat mich angesteckt, Jim. Ich werde bald eine nervöse alte Jungfer werden!«

 

Er lachte liebenswürdig.

 

»Ich habe mich sehr über Ihren Brief gefreut. Die Schokolade –« Er zögerte.

 

»Nun?«

 

»Ich würde Mr. Groat an Ihrer Stelle sagen, daß sie ganz vorzüglich ist«, meinte er lächelnd.

 

»Das habe ich schon getan. Aber Lügen sind mir verhaßt, selbst wenn es sich um nebensächliche Dinge handelt.«

 

»Wenn er Ihnen die nächste Bonbonniere schenkt, müssen Sie mir drei oder vier Stück Schokolade schicken.«

 

Sie war bestürzt und sah ihn schnell an. »Ist doch etwas drin entdeckt worden?«

 

Ihre Frage war ihm sehr unangenehm. Er wollte und konnte ihr nicht sagen, was der Chemiker ihm mitgeteilt hatte. Auf der anderen Seite wollte er sie auch nicht unnötig einer Gefahr aussetzen. Er mußte also irgend etwas erfinden, wurde verlegen und brachte nur lahme Entschuldigungen hervor, die sie nicht überzeugten.

 

Sie erkannte genau, daß er ihr nicht alles sagen wollte, aber sie war verständig genug, nicht in ihn zu dringen. Außerdem brannte sie zu sehr darauf, ihm von ihren Erlebnissen zu erzählen und ihn nach seiner Meinung über das Zeichen der blauen Hand zu fragen.

 

»Das klingt ja ganz geheimnisvoll«, meinte Jim, als sie ihm alles erzählt hatte. Aber sein Ton war ernst. »Es ist schwer, derartige Dinge in unserer nüchternen Zeit zu erklären. Aber eins ist sicher. Diese merkwürdige Frau verbindet irgendeine Absicht damit. Auch daß der Abdruck der Hand blau ist, hat eine besondere Bedeutung. Aber anscheinend hat Digby Groat das noch nicht erkannt. Und jetzt wollen wir einmal von uns selbst sprechen«, sagte er lächelnd und legte seine Hand einen Augenblick auf die ihre.

 

Sie machte keinen Versuch, sie fortzuziehen, bis der Kellner erschien. Und dann entfernte sie sie nur langsam, und er merkte, daß sie es nur widerwillig tat.

 

»Ich werde noch einen weiteren Monat bei Mrs. Groat bleiben, und wenn es dann keine weitere Arbeit dort für mich gibt, gehe ich zum fotografischen Geschäft zurück – wenn man mich dort wiederhaben will.«

 

»Ich weiß jemand, der Sie noch viel dringlicher haben möchte als der Fotograf, jemand, dessen Herz schmerzt, wenn er Sie fortgehen sieht.«

 

Sie fühlte, wie ihr Herz heftig schlug. Ihre Hände zitterten.

 

»Wer ist denn dieser Jemand?« fragte sie leise.

 

»Jemand, der Sie nicht eher um Ihre Hand bitten will, bis er Ihnen eine gesicherte Stellung im Leben anbieten kann. Jemand, der den Boden verehrt, auf dem Sie wandeln, jemand, der überall Teppiche vor Ihnen ausbreiten und Ihnen ein schöneres Heim geben möchte, als die kleine, dürftige Wohnung, die neben dem Eisenbahngeleise liegt.«

 

Er schwieg. Er hatte, von ihrer Gegenwart und dem Augenblick überwältigt, mehr gesagt, als er je zu sagen gewagt haben würde, und er hatte Worte gewählt, die ihm viel zu leer und schal schienen für seine Empfindungen.

 

Lange Zeit sprach sie nichts, und er glaubte, er hätte sie beleidigt. Sie wurde blaß und wieder rot, und ihr zarter Busen hob und senkte sich schneller als gewöhnlich.

 

»Jim«, sagte sie nach einer Weile, ohne ihn anzusehen, »ich würde mich selbst in einer ganz schlichten, einfachen Wohnung wohl fühlen, und ich würde gerne auch die Eisenbahnschienen in Kauf nehmen!« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, und er sah, daß Tränen in ihren Augen schimmerten. »Wenn Sie sich nicht mehr in acht nehmen, Jim Steele«, sagte sie mit einem leisen Anflug von Spott, »dann mache ich Ihnen noch einen Heiratsantrag!«

 

»Gestatten Sie, daß ich mir eine Zigarette anzünde?« entgegnete Jim heiser nach einer Pause. Sie nickte.

 

Sie wunderte sich, warum er so ruhig wurde und kaum noch sprach. Sie konnte nicht wissen, daß das große Glück, das ihm so plötzlich widerfuhr, sein Herz ganz erfüllte und ihn beinahe betäubte.

 

Auf der Heimfahrt wünschte sie, daß er sie im Dunkel des Wagens in seine Arme geschlossen hätte. Wie gerne hätte sie an seiner Brust geruht! Sie sehnte sich danach, seine Küsse auf ihren Lippen und Augen zu fühlen. Wenn er sie jetzt gebeten hätte, mit ihm davonzulaufen oder die größte Torheit zu begehen, hätte sie ihm freudig ihre Zustimmung gegeben, denn ihre Liebe zu ihm wuchs immer mehr, wie ein großer, reißender Strom, und die innere Glut mußte zum Ausbruch kommen. Es gab keine Vernunft, keine Schranken und keine Grenzen mehr für sie.

 

Aber er saß ruhig an ihrer Seite, hielt nur ihre Hand in der seinen und träumte von einer goldenen Zukunft.

 

»Gute Nacht, Jim.« Ihre Stimme klang kühl und ein wenig, enttäuscht, als sie ihre Handschuhe anzog und ihm dann die Hand gab. Sie standen vor der großen, breiten Treppe von Mr. Groats Haus.

 

»Gute Nacht«, sagte er leise mit zitternder Stimme und küßte ihr die Hand.

 

Sie wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, als sie in ihr Zimmer ging und die Tür hinter sich schloß. Lange schaute sie forschend in den Spiegel, dann schüttelte sie den Kopf.

 

»Ich wünschte, er wäre nicht so gut – oder in mancher Beziehung ein größerer Held.«