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Die beiden Detektive kamen um halb elf bei Mr. Jackson Crayleys Haus an und gaben sich dem etwas phlegmatischen Hausmeister zu erkennen. Er führte sie ins Wohnzimmer. Ein halb ausgetrunkenes Glas Whisky-Soda stand auf dem Tisch, und eine halb aufgerauchte Zigarre lag daneben.

 

»Ich werde Mr. Crayley melden, daß Sie hier sind«, sagte der Mann.

 

Nach ein paar Minuten kam er aber zurück und erklärte, daß sein Herr nicht anwesend sei.

 

»Ich habe ihn seit ungefähr einer Stunde nicht mehr gesehen. Aber er geht öfter abends in den Garten. Manchmal fährt er auch mit seinem Motorboot auf den Strom hinaus.«

 

»Wo ist es denn verankert?« fragte der Wetter.

 

Der Hausmeister brachte sie zu der Stelle.

 

»Das Boot ist aber hier. Er muß also mit seinem Auto fortgefahren sein.«

 

Tatsächlich fanden sie auch die Garage leer.

 

»War heute abend jemand hier?«

 

»Nein. Wir haben überhaupt wenig Besuch. Um diese Jahreszeit sind wir ja auch meistens nicht in Marlow. Nur der Unglücksfall in Heartsease hat alle Pläne über den Haufen geworfen.«

 

»Sind Sie wirklich sicher, daß heute abend niemand hier war?«

 

Der Wetter sah den Mann scharf an.

 

»Ja, natürlich.«

 

Long dachte einen Augenblick nach.

 

»Wie oft sind Sie heute abend antelephoniert worden?«

 

»Ich glaube, zweimal.«

 

»Wo ist Ihr Apparat?«

 

Das Telephon befand sich im Wohnzimmer. Der Wetter nahm den Hörer ab und rief die Vermittlungsstelle an. Er hatte einen Überwachungsbeamten in der Zentrale sitzen, seitdem Jackson Crayley unter Verdacht stand. Aber da er niemand finden konnte, der genügende dänische Kenntnisse besaß, hatte er ihn wieder abberufen müssen.

 

»Zweimal ist angerufen worden, Mr. Long«, lautete die Auskunft. »Beidemal von London. Ich habe mich eingeschaltet, aber die Gespräche wurden wie gewöhnlich in Dänisch geführt.«

 

»Können Sie mir nicht genaue Zeitangaben machen?«

 

»Eins der beiden Gespräche kam ungefähr vor einer halben Stunde, das andere früher am Abend.«

 

Der Wetter war davon überzeugt, daß Jackson Crayley auf den zweiten Anruf hin das Haus verlassen hatte.

 

Hierher hatten sie Nora also nicht gebracht – wo mochte sie nur sein? Er wußte, daß Shelton am Flußufer mehr als das eine Versteck unterhalten hatte, das sie ausgehoben hatten. Er schickte Sergeant Rouch zu einem nahen Bootshaus, um ein Motorboot zu mieten, und ging auf dem Rasen auf und ab, bis es um die Biegung kam und vor dem Landungssteg hielt.

 

Die Uhr auf dem Kirchturm von Marlow schlug elf, als sie den Strom hinauffuhren.

 

Halbwegs zwischen Marlow und der Temple-Schleuse hörte der Wetter einen Schrei und steuerte sofort darauf los.

 

»Ach, da macht sich jemand am Ufer einen Scherz«, meinte Rouch.

 

Aber der Schrei wiederholte sich in nächster Nähe, und nun sah der Wetter auch das weiße Motorboot. Er stellte den Scheinwerfer an und suchte das Wasser ab. Plötzlich entdeckte er den Kopf einer Frau im Wasser.

 

In diesem Augenblick pfiff das erste Geschoß an ihm vorbei. Jemand feuerte auf ihn, aber er schaltete den Scheinwerfer nicht aus. Immer näher kam er zu der Schwimmerin. Nun konnte er sie erkennen und rief ihren Namen.

 

Sie hatte das Bewußtsein verloren, als er sie aus dem Wasser zog. Mit Hilfe des Sergeanten trug er sie in die Kabine des Motorbootes. Als er wieder herauskam, war das andere Fahrzeug verschwunden. Wenn er sich nicht mit Nora hätte beschäftigen müssen, hätte er gesehen, daß es in die Nähe des Ufers fuhr und im Schatten der überhängenden Baumäste verschwand.

 

»Wir wollen zu Crayleys Haus fahren«, sagte er.

 

Der Steuermann wandte das Boot.

 

Nora war wieder zu sich gekommen, als sie an dem Bootssteg des Rosengartens anlegten. Mit Longs Beistand ging sie zum Hause hinauf. Aber es dauerte lange, bis sie ihm von ihren Erlebnissen erzählen konnte.

 

Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Bezirken von Buckinghamshire und Berkshire führten zu einer Verzögerung. Es dauerte eine Stunde, bis die ersten Polizeimannschaften von Maidenhead in einem Motorboot ankamen und die Nachforschungen aufnahmen. Das unbesetzte Motorboot der Verbrecher fanden sie mitten im Strom treibend. Den Kahn hatten sie schon vorher entdeckt. Von Crayley selbst bemerkten sie jedoch nichts, obgleich sie die Ufer sorgfältig absuchten.

 

Der Schleusenwärter berichtete, daß keine anderen Boote durch die Schleuse gefahren seien, und daß er nichts gesehen hätte.

 

Jenseits der Schleuse kamen sie zu dem alten Haus Clay Sheltons. Wetter Long öffnete die Tür mit einem Stemmeisen. Die Kerze war vollkommen niedergebrannt. Menschen schienen nicht in dem Raum zu sein. Inspektor Long ging in das Schlafzimmer und fand es ebenfalls verlassen. Die Tür am Ende des kleinen Ganges war geschlossen.

 

»Es ist niemand hier, und es ist auch sehr unwahrscheinlich, daß sie zurückkommen. Machen Sie doch einmal Licht.«

 

»In einer Stunde wird es Tag, Mr. Long«, sagte der Inspektor der Berkshirepolizei. »Ich glaube, wir verschieben unsere weiteren Nachforschungen besser, bis es hell wird.«

 

Es war aber schon hell genug, um die Wagenspuren auf der Straße zu erkennen, und nach einiger Zeit entdeckten sie den kleinen Zweisitzer, der Jackson Crayley zu diesem einsamen, verlassenen Haus gebracht hatte. Der Wagen stand in einem kleinen Gebüsch, etwa hundert Meter vom Hause entfernt.

 

»Ich wundere mich nur, wie er hierher gekommen ist«, meinte der Wetter. »Und noch mehr, wie er wieder von hier fortkam.«

 

»Sie lassen wahrscheinlich einen Verhaftungsbefehl gegen ihn ausstellen?« fragte der Inspektor.

 

»Ja.« Die Stimme des Wetters klang nicht sehr überzeugt. »Das hätte ich schon längst tun können, aber ich glaube nicht, daß uns seine Verhaftung weiterbringt.«

 

Er kannte Jackson Crayleys Gewohnheiten gut genug, um zu wissen, wie sehr dieser Mann einer Fahrt in der Nacht abgeneigt war.

 

Aber wo mochte Jackson Crayley sein? Wenn man seiner habhaft werden könnte, würde sich wahrscheinlich das Geheimnis aufklären lassen. Er war das schwächste Glied in der Bande des Schreckens.

 

Später am Morgen fanden sie ihn. Jackson Crayley war an einem Baum aufgehängt, und quer über sein weißes Frackhemd war mit Blut das Wort »Sorroeder« geschrieben.

 

»Zum Teufel, was soll das bedeuten?« fragte der Inspektor der Berkshire-Polizei verwundert.

 

Wetter Long antwortete nicht. Seine Kenntnisse im Dänischen waren nicht groß, aber er wußte, daß Sorroeder »Verräter« hieß.