26

 

»Mit dem Handwerk mache ich Schluß!« sagte Scottie entschieden.

 

»Du bist doch nicht etwa plötzlich fromm geworden?« fragte Big Martin ängstlich.

 

Scottie saß auf seinem Bett in dem kleinen Haus in der Castle Street. Big Martin war derselbe, der damals nach oben geeilt war, als Andy an die Haustür geklopft hatte.

 

Er hieß Big Martin, weil er ungewöhnlich klein war. Es hatte eine Zeit gegeben, in der in ganz London kein geeigneterer Mann zu finden war, wenn es galt, durch ein unglaublich kleines Kellerfenster zu schlüpfen.

 

Aber später hatte er zu gut gelebt, immer mehr zugenommen und war nun durchaus nicht mehr in der Lage, seinen Spezialberuf irgendwie auszuüben.

 

Scottie war er schon in vielfacher Hinsicht nützlich gewesen. Er war ein unermüdlicher Zeitungsleser, wußte alles und ersetzte ihm ein ganzes Auskunftsbüro. Er hatte eine unglaubliche Fertigkeit, ein Haus auszukundschaften. Scottie hatte während seines abwechslungsreichen Daseins noch keinen Mann kennengelernt, der dazu geeigneter gewesen wäre.

 

Gewöhnlich erschien Big Martin als Hausierer an Küchentüren, unterhielt sich mit den Dienstboten und wußte ihnen so interessante Geschichten zu erzählen, daß er immer gern gesehen war. Auf diese Weise konnte er sich viele Informationen verschaffen, die für seine Auftraggeber wertvoll waren.

 

Scottie war über eine solche Tätigkeit erhaben. Sein Spezialgebiet waren Juwelen, denn um hier auf der Höhe zu sein, mußte man mehr Verstand und Erfahrung besitzen als Big Martin. Trotzdem war ihm der Kleine von großem Nutzen. Er hielt das Haus in der Castle Street während seiner Abwesenheit in Ordnung, erledigte kleine Aufträge, machte die Betten und konnte zur Not auch ein einfaches Essen kochen.

 

»Nein, fromm bin ich nicht geworden, aber vorsichtig«, brummte Scottie, hauchte seine Brillengläser an und wischte sie mit einem Bettuchzipfel ab. »Hast du schon einmal etwas von dem Wasserkrug und dem Brunnen gehört?«

 

»Nein«, sagte Big Martin argwöhnisch. »Was ist denn los?«

 

»Ich habe jetzt genug Geld gemacht, um ein anständiges Leben führen zu können.«

 

Big Martin legte die Stirn nachdenklich in Falten.

 

»Wenn du das Ding nicht drehen willst, macht es ein anderer. Sie fordert es ja direkt heraus, sie läuft herum wie ein geschmückter Christbaum.«

 

Es ist mein Schicksal, dachte Scottie. »Du brauchst mir nichts von ihr zu erzählen«, unterbrach er sein Nachrichtenbüro. »Ich habe sie bereits kennengelernt. Sie heißt Mrs. Crafton-Bonsor, ist aus Amerika und wohnt jetzt in Zimmer 907 im ›Great Metropolitan Hotel‹.«

 

»Eine Bank hätte nicht genug Geld, um ihre Perlen zu kaufen«, drängte Big Martin. »Sie sind so groß« – er zeigte die Größe mit Daumen und Zeigefinger. »Und Brillanten! So etwas hast du noch nie gesehen.«

 

»Ich weiß, aber sie hat sie im Hotel-Safe einschließen lassen«, meinte Scottie.

 

»Nein«, sagte Big Martin, »das hat sie nicht getan. Meine Kusine ist dort in der Küche beschäftigt, die weiß es. Sie schält dort nämlich Kartoffeln.«

 

»Wer? Mrs. Bonsor?«

 

»Nein, meine Kusine.«

 

Scottie war nachdenklich geworden. Er trommelte mit den Fingern einen Marsch auf seinen Knien und schaute abwesend ins Leere.

 

»Nein, ich glaube, es geht nicht, Martin«, sagte er schließlich. »Macleod würde doch gleich wissen, daß ich es war, und außerdem…« Er vollendete den Satz nicht.

 

Big Martin hätte es doch nicht verstanden, wenn er ihm erzählt hätte, daß er es Stella Nelsons wegen nicht tun könnte. Es wäre nicht richtig gewesen zu sagen, daß Scottie sich gebessert hätte und ein ganz neuer Mensch geworden wäre oder daß er seine früheren Missetaten bereut hätte. Der einzige Beweggrund, sich zu ändern, lag in seiner persönlichen Sicherheit. Er hatte auch wirklich keinen Grund mehr, seine Haut weiter zu Markte zu tragen. Es ging ihm gut; die große Beute aus der Regent Street hatte er gut untergebracht – einer der Käufer war obendrein ein Zeuge, der ihm bei seinem Alibi geholfen hatte. Außerdem hatte er noch größere Reserven versteckt, so daß er verhältnismäßig gut und bequem bis an sein Ende leben konnte.

 

»Ich werde Mrs. Bonsor einmal besuchen«, sagte er. Big Martin rieb sich vergnügt die Hände. »Ich glaube nicht, daß sie so dumm ist, wie du sie dir vorstellst. Sie kommt aus Santa Barbara – vielleicht kennt sie einige meiner Freunde an der Westküste. Da wir gerade von Freunden reden, Martin, ich habe dich gestern abend mit einem fein gekleideten Herrn aus Finnagins Lokal herauskommen sehen.«

 

Big Martin machte ein dummes Gesicht.

 

»Es war ein Zeitungsmensch.«

 

»Welch eine Neuigkeit«, sagte Scottie ironisch. »Als ob ich nicht wüßte, wer es war. Was wollte er denn von dir?«

 

»Er fragte mich über eine Sache aus, die schon vier Jahre zurückliegt«, erwiderte Big Martin. »Ich bekam damals achtzehn Monate, du weißt doch – die Geschichte mit Harry Weston.«

 

»Wenn er sich nicht mehr darauf besinnen konnte, hätte er es doch leicht herausbringen können. Jeder Polizist hätte es gewußt.«

 

»Er war sehr nett und wollte wissen, was aus Harry geworden ist.«

 

Scottie runzelte die Stirn.

 

»Als ob er das nicht wüßte, daß Harry seine sieben Jahre in Parkhurst absitzt! Na, du altes Klatschweib, was hast du denn wieder ausposaunt?«

 

Big Martin wurde unruhig. Was hatte er eigentlich alles gesagt?

 

»Und wenn ich auf der Stelle sterben sollte, ich habe nichts von dir erzählt. Er wußte, daß du hier bist und fragte, wie es deiner Hand ginge.« Scottie brummte böse. »Aber ich habe es ihm nicht gesagt. Er mag dich gut leiden, Scottie. Er sagte, wenn du jemals in der Patsche säßest, so sollten wir nur nach ihm schicken. Das hat er wirklich gesagt – genau mit den Worten!«

 

»Du hast ihm doch nicht etwa erzählt, daß Macleod von der Sache weiß?«

 

»Das brauchte ich gar nicht, das wußte er schon«; erwiderte Big Martin mit Genugtuung.

 

»Du kannst aber auch nichts für dich behalten«, sagte Scottie resigniert.

 

Er zog sich sorgfältig an, nahm aus einem Kästchen ein Päckchen Visitenkarten heraus, wählte eine davon aus und steckte sie in seine Brieftasche. Die Karte nannte ihn Professor Bellingham und als Adresse war Pantagalla, Alberta, angegeben. Eine solche Stadt gab es natürlich auf der Landkarte nicht, aber er hatte früher einmal in einer Vorstadt in einer kleinen Pension gewohnt, die diesen Namen führte. Er hatte ihm sehr kanadisch geklungen.

 

Im ›Great Metropolitan Hotel‹ erfuhr er, daß Mrs. Crafton-Bonsor auf ihrem Zimmer sei, und ein Boy brachte ihr seine Karte. Während Scottie es sich in einem Klubsessel in der Halle bequem machte und scheinbar in Gedanken vertieft war, beobachtete er genau alle Leute, die durch das Vestibül kamen. Den Hoteldetektiv hatte er sofort erkannt.

 

Der Boy kam zurück und führte ihn zu einer Flucht komfortabler Räume im dritten Stock. Scottie wußte, daß diese Wohnung täglich ein kleines Vermögen kostete.

 

Die Dame am Fenster drehte sich um, als Scottie eintrat.

 

»Guten Morgen«, sagte sie kurz, »Mr. …«

 

»Professor Bellingham«, erwiderte Scottie. »Ich hatte bereits das Vergnügen –. Sie entsinnen sich?«

 

»Gewiß – ich konnte nur Ihre Karte nicht lesen, weil ich meine Brille nicht zur Hand hatte. Nehmen Sie bitte Platz, Professor. Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich zu besuchen.«

 

Scottie hatte die Erfahrung gemacht, daß die Menschen sich im allgemeinen bei einer zweiten Begegnung von einer anderen Seite zeigten als bei der ersten, und er war auf einen so liebenswürdigen Empfang nicht vorbereitet. Mrs. Crafton-Bonsor trug noch kostbareren Schmuck als damals. Diese Steine waren wirklich herrlich. Wenn sie die Hand hob, glitzerte es wie im Schaufenster eines Juwelierladens. Sie hatte an jedem Finger mindestens einen Ring und an jedem Handgelenk drei Brillantarmbänder, die allein ein Vermögen wert waren.

 

Scotties Instinkte erwachten wieder. Es war eine Schande, daß diese Frau all die wunderbaren Dinge besitzen sollte, während er sich verhältnismäßig mühselig durchs Leben schlagen mußte.

 

»Es ist mir ein Vergnügen, Sie zu besuchen. Ich bin aus Pantagalla, und da Sie aus Santa Barbara sind, dachte ich, es sei doch nett, einmal vorbeizukommen …«

 

»Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Professor …«

 

»Bellingham«, ergänzte er.

 

»Es ist zu dumm, das Mädchen hat meine Brille verlegt, und ich kann absolut nichts lesen ohne sie. London ist eine trostlose Stadt. Ich war vor einigen Jahren schon hier, aber jetzt ist alles neu und fremd, und ich bin froh, wenn ich wieder nach Hause komme.«

 

»Halten Sie sich schon lange hier auf?«

 

»Vierzehn Tage. Aber ich habe noch keinen einzigen netten Menschen getroffen. Die Leute hier sind so hochmütig. Und dabei haben sie vermutlich trotz ihrer hochtrabenden Titel keinen Pfennig Geld. Ich besuchte eine Dame, die ich in San Franzisko kennengelernt hatte. Mein Mann, der Senator, war damals wirklich sehr liebenswürdig zu ihr. Und jetzt hat sie mich nicht einmal zum Tee eingeladen.«

 

Sie unterhielten sich über Santa Barbara und über Leute in San Franzisko, deren Namen Scottie glücklicherweise kannte, dann kehrte Mrs. Crafton-Bonsor wieder zu ihrem Lieblingsthema zurück, sprach über den ungastlichen und unfreundlichen Charakter der Menschen in fremden Ländern und klagte über die Dienstboten, die in der letzten Zeit so unzuverlässig geworden seien.

 

»In diesen Zimmern hätte doch zum Beispiel heute morgen abgestaubt werden müssen«, sagte sie und nahm ein Stäubchen von dem Stuhl, auf dem sie saß. »Sehen Sie her – nicht einmal einen Staublappen haben die Leute hier in Bewegung gesetzt!«

 

Scottie schwieg. Mrs. Crafton-Bonsor konnte seine Karte nicht lesen, weil sie ihre Brille nicht zur Hand hatte, aber sie konnte ohne Mühe ein winziges Stäubchen entdecken? Ein merkwürdiges Augenübel! Aber er dachte nicht weiter darüber nach.

 

Scottie zeigte sich als ein so angenehmer Gesellschafter, daß sie ihn zum Abendessen einlud.

 

»Ich speise gewöhnlich auf meinem Zimmer. Was in den Hotels gekocht wird, ist gerade gut genug für meine Katze.«

 

Als er, äußerst zufrieden mit dem Resultat seines ersten Besuches, das Hotel wieder verlassen wollte, klopfte ihm jemand auf den Arm, und er schaute in ein ihm bekanntes Gesicht.

 

»Andy würde Sie gern einmal sprechen«, sagte der Detektiv. »Ich soll Ihnen bestellen, daß Sie ihn im Büro aufsuchen möchten.«

 

Scottie war unangenehm berührt, nickte aber nur.

 

*

 

»Hallo, Scottie! Geht es Ihnen besser? Nehmen Sie Platz. Einer meiner Leute sagte, daß Sie Mrs. Crafton-Bonsor besuchten, die reiche Amerikanerin im ›Great Metropolitan Hotel‹. Was haben Sie denn da wieder vor?«

 

»Darf man sich denn nicht auch einmal ein wenig zerstreuen?« fragte Scottie gekränkt.

 

»Soviel Sie wollen«, erwiderte Andy vergnügt, »aber ich handle in Ihrem eigensten Interesse, wenn ich Sie ein wenig im Zaum halte. Diese Frau ist eine wandelnde Kimberley-Diamantmine. Und ich sehe es nicht gerne, daß Sie wieder in Versuchung geraten. Ich bin eben aus Beverley Green zurückgekommen«, fügte er scheinbar gleichgültig hinzu. »Miss Nelson hat sich sehr nach Ihnen erkundigt.«

 

Scottie schluckte.

 

»Das ist sehr liebenswürdig von Miss Nelson«, entgegnete er langsam. »Ich habe wirklich keine bösen Absichten mit den Brillanten dieser Frau, Macleod. Wenn Sie wüßten, was es für mich bedeutet, auch einmal mit so reichen Leuten zu verkehren, würden Sie mir diese kleine Abwechslung gönnen.«

 

»Ich gönne sie Ihnen ja. Wir haben diese Dame beobachtet, seit sie in London ist, und wir haben auch schon zwei Ihrer ehemaligen Freunde gewarnt, Harry Murton und John Dutch. Und es wäre nicht fair, wenn ich Ihnen nicht mitteilte, daß Ihre Schritte sozusagen von Schutzengeln überwacht werden.«

 

»Soll das heißen, daß ich sie nicht wieder besuchen darf?«

 

»Sie können die Dame besuchen, sooft Sie wollen. Aber wenn sie hierherkommt und sich darüber beklagt, daß ihr Brillantdiadem auf geheimnisvolle Weise verschwunden ist, das Sie einige Minuten vorher so sehr bewundert hatten, dann geht es Ihnen schlecht, Scottie!«

 

Scottie lächelte.

 

»Hat Ihnen denn nicht jemand gesagt, daß ich mit meinem früheren Leben gebrochen habe?« fragte er mit einem unschuldigen Grinsen.

 

»Ich habe davon gehört«, antwortete Andy lachend. »Aber, Scottie, ich meine es ernst. Ich möchte nicht, daß Sie wieder in Unannehmlichkeiten geraten, und ich glaube, daß diese Mrs. Bonsor eine gefährliche Bekanntschaft für Sie ist. Ich tue es doch nur Ihretwegen. Sicher, Sie können sie sehen, aber es ist doch etwas riskant, nicht wahr? Nehmen wir einmal an, ein anderer macht sich auch an sie heran, und plötzlich vermißt sie etwas von ihrem Schmuck …«

 

»Ich danke Ihnen, Macleod.« Scottie nahm seinen Hut und erhob sich. »Ich glaube, daß ich trotzdem wieder hingehen werde. Sie interessiert mich wirklich sehr, ganz abgesehen von ihren Brillanten. Kennen Sie sie schon?«

 

»Nein, ich habe nichts damit zu tun. Ich vertrete Steel nur, weil er augenblicklich auf Urlaub ist. Das ist ein Glück für Sie, denn Steel wäre Ihnen gegenüber nicht so rücksichtsvoll gewesen.«

 

»Also besten Dank. Wissen Sie übrigens, Macleod, daß dieser Downer wieder an der Arbeit ist?«

 

Das war keine Neuigkeit für Andy.

 

»Ja, er ist wieder in Beverley oder vielmehr in einem Dorf, das ein oder zwei Meilen davon entfernt liegt. Ist er hinter Ihnen hergewesen?«

 

Scottie nickte.

 

»Er hat einen meiner Freunde ausgeholt. Er wußte übrigens, daß Miss Nelson mich in der Castle Street besucht hatte. Auf Wiedersehen!«

 

Am Abend ging er wieder ins ›Great Metropolitan Hotel‹, obwohl er wußte, daß er beobachtet wurde. Es wurde ein vergnügter Abend, denn Mrs. Bonsor hatte sich vorgenommen, ihren Professor gut zu bewirten. Nebenbei erfuhr er, daß ihr verstorbener Mann, der ›Senator‹, überhaupt kein Senator gewesen war. Wahrscheinlich hatten ihm Mitbürger diesen Spitznamen gegeben. Nach diesem Geständnis verstanden sich die beiden noch viel besser. Scottie hatte sich auch schon gewundert, daß ein gebildeter Mann in so hoher Stellung eine solche Frau geheiratet haben sollte. Sie sprach von ihrem palastartigen Heim in Santa Barbara, von ihren Autos, ihren Dienstboten, ihren Gesellschaften. Und bei jeder Bewegung funkelte sie in allen Regenbogenfarben.

 

*

 

»Scottie hat diese Mrs. Bonsor nun schon zum drittenmal besucht«, berichtete ein Detektiv. »Er speist jeden Abend mit ihr, und heute nachmittag hat er sie auf einem Ausflug begleitet.«

 

»Lassen Sie auch Big Martin beobachten, damit wir herausbringen, ob die beiden tatsächlich etwas planen.«

 

Er hatte Scottie persönlich gern, aber als Beamter durfte er ihm nicht trauen. Eines Nachmittags erhielt Mrs. Bonsor Besuch von einem Polizeibeamten, und als Scottie im Glanz eines neuen Fracks zum Abendessen erschien, war sie sehr kühl und ablehnend gegen ihn.

 

»Ich hätte Sie beinahe überhaupt nicht heraufkommen lassen, mein Herr«, sagte sie. Diese Anrede war schon von böser Vorbedeutung. »Aber ich dachte, ich müßte Ihnen doch eine Erklärung geben. Die Polizei ist hinter Ihnen her.«

 

»Hinter mir?«

 

Er war verstimmt, aber nicht gekränkt. Es war ja die Pflicht dieser Leute, Mrs. Bonsor vor ihm zu warnen. Und er hatte sich schon gewundert, daß Andy ihn so lange frei gewähren ließ, ohne einzugreifen.

 

»Man hat mir mitgeteilt, daß Sie ein Verbrecher, ein gewisser Scottie sind.« Sie schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß mich das sehr getroffen hat.«

 

»Warum?« fragte Scottie ruhig. »Ich habe Ihnen doch nichts gestohlen, und ich würde nicht einmal eine Haarnadel von Ihrem schönen Kopf nehmen.« Scottie meinte es ehrlich. »Ich gebe zu, daß ich Scottie genannt werde. Ich heiße eigentlich nicht so, aber unter diesem Namen kennt man mich in zwei oder drei verschiedenen Ländern. Ich gebe auch zu, daß meine Vergangenheit nicht ganz einwandfrei ist, aber wissen Sie, Mrs. Crafton-Bonsor« – seine Stimme zitterte ein wenig – »was es für einen Mann wie mich bedeutet, eine Frau wie Sie zu treffen, eine Dame von Welt, gleichsam in der Blüte ihrer Jahre, die Interesse an einem Abenteurer nimmt? Nicht Ihr Geld und Ihre Juwelen haben mich fasziniert. Ich hätte sie schon bei meinem ersten Besuch stehlen können«, fuhr er rücksichtslos fort. »Ich kam damals, um mir Ihre Steine genauer anzusehen, von denen alle Welt sprach. Und ich bin tatsächlich ein Spezialist in Juwelen. Aber als ich Sie gesehen und mit Ihnen gesprochen hatte – erschien mir alles wie ein Traum. Ein Mann in meiner Stellung trifft nicht oft eine Dame wie Sie.«

 

»Sie übertreiben«, warf Mrs. Crafton-Bonsor ein. Sie unterbrach nicht gern Scotties Redestrom, der so viele Liebenswürdigkeiten und Schmeicheleien enthielt, aber sie hatte doch das Gefühl, daß sie aus Bescheidenheit jetzt in irgendeiner Form etwas dagegen einwenden mußte.

 

»Ich hatte nicht vermutet, daß Sie Amerikanerin sind, als ich das erstemal mit Ihnen sprach. Leute mit einem gütigen Charakter wie Sie sind drüben sehr selten. Und als ich Sie erst einmal besucht hatte, wußte ich, daß ich Sie wiedersehen müßte. Ich machte mir wegen meiner Torheit Vorwürfe, aber jeden Tag bezauberten Sie mich aufs neue.«

 

»Das war nicht meine Absicht«, murmelte sie.

 

»Es wird mir sehr schwer werden, die Besuche bei Ihnen aufzugeben«, sagte Scottie traurig, als er sich erhob und ihr die Hand reichte. »Leben Sie wohl, Mrs. Bonsor – es war für mich wie ein Leben in einer anderen Welt.«

 

Sie nahm seine Hand, und es tat ihr eigentlich leid, daß diese Bekanntschaft, die ihr so angenehm gewesen war, schon enden sollte.

 

»Leben Sie wohl, Mr. Scottie. Ich würde mich freuen, Sie wiederzusehen, aber –«

 

»Ich verstehe vollkommen«, erwiderte Scottie höflich. »Was würde man von Ihnen denken, – was würden all diese feingeschniegelten Leute im Hotel dazu sagen.«

 

Mrs. Crafton-Bonsor warf den Kopf zurück.

 

»Wenn Sie glauben, daß ich mich im mindesten um die Meinung anderer Menschen kümmere«, entgegnete sie empört, »sind Sie im Irrtum. Sie kommen morgen zum Abendessen wieder zu mir.«

 

Ihre Worte klangen wie ein Befehl, und ihre Miene war ein wenig hoheitsvoll. Scottie sagte nichts, er verabschiedete sich nur durch eine Verbeugung und entfernte sich schnell. Am Ende hätte sie ihre Absicht wieder geändert, wenn er noch geblieben wäre.

 

Als er die Treppe hinunterging, versuchte er, sich die ganze Unterhaltung mit allen Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen.

 

Er kannte viele Bücher, die man Gefangenen zum Lesen gab und die geschrieben waren, um sie wieder einem besseren Leben zugänglich zu machen. In diesen Bänden wurde jedesmal davon erzählt, daß der ehemalige Sträfling der Dame, deren wohlwollender Einfluß ihn bekehrt hatte, eine Art Dankrede hielt. Also ging er in die nächste Buchhandlung.

 

»Haben Sie nicht irgendein Buch mit dem Titel ›Gerettet durch ein Kind‹ oder ›Nur ein Verbrecher‹?«

 

»Nein«, sagte der junge Mann, »wir führen keine Kinderbücher.«

 

»Das ist das richtige Wort«, erwiderte ›Vieraugen-Scottie‹.