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Mr. Downer kam aus dem Presseklub. Er trug seinen Regenschirm unter dem Arm und hatte eine lange Zigarre im Mundwinkel.

 

Der Tag war heiß; nicht der leiseste Wind regte sich. Der Schirm schien völlig überflüssig zu sein, aber Mr. Downer wäre ebensowenig ohne seinen Regenschirm ausgegangen wie ein anderer ohne Kragen und Krawatte. Er freute sich auf das Wochenende in seinem kleinen Häuschen an der Küste.

 

Unangenehm war dagegen das Bewußtsein, einen Mißerfolg gehabt zu haben. Die Zeitungen brachten auf den hinteren Seiten nur noch ein paar Zeilen über den Verlauf der Nachforschungen. Downer wußte, daß Andrew Macleod in die Stadt zurückgekehrt war, er hatte zweimal wegen anderer Dinge mit ihm zu tun gehabt.

 

Es war bei der zuständigen Behörde darum nachgesucht worden, Artur Wilmot als Erben des Merrivanschen Nachlasses zu bestätigen, und der junge Mann hatte die Absicht geäußert, Merrivans Haus zu verkaufen, sobald er ein passendes Angebot dafür bekommen würde.

 

Downer war auf dem Weg, ein Manuskript bei der Redaktion eines Magazins abzugeben. Die Redaktion lag in einer wenig vornehmen Stadtgegend, und er kam durch viele kleine Straßen. Er machte gerade an einer Straßenecke halt, an der ein kleines Warenhaus stand, als eine junge Dame, die ein Paket unter dem Arm trug, aus der Tür trat und schnell davonging. Ihre Gestalt kam ihm bekannt vor, und anstatt weiterzugehen, folgte er ihr. Sie bog um eine andere Straßenecke, und bei dieser Gelegenheit konnte er ihr Gesicht einen Augenblick sehen. Es war Stella Nelson. Was mochte sie hier, in dieser Gegend, zu tun haben? Er ging ihr vorsichtig nach.

 

Vor der Tür eines kleinen Hauses blieb sie stehen, schloß auf und ging hinein. Es war ein sehr kleines Gebäude. Downer merkte sich die Hausnummer und schlenderte die Straße entlang, bis er eine Frau müßig an ihrer Tür stehen sah. Sie hatte die Arme verschränkt und schien nur auf jemand zu warten, der Zeit hatte, mit ihr zu klatschen.

 

»Nein, Sir, sie wohnt nicht hier«, sagte sie, als Downer fragte und einen falschen Namen nannte.

 

»Ich bin seit Jahren nicht mehr in dieser Straße gewesen«, bemerkte Downer lächelnd, »es hat sich nicht viel verändert.«

 

»Hier verändert sich überhaupt nichts«, erwiderte die Frau redselig. »In hundert Jahren wird die Gegend noch genauso aussehen.«

 

»Und nun glaube ich, die junge Dame zu kennen, die in Nummer 73 wohnt. Es ging ihr sonst immer recht gut.«

 

»Sie wohnt nicht wirklich hier; sie kommt jeden Morgen und geht abends wieder fort. Sie ist eine vornehme Dame, und doch macht sie die ganze Hausarbeit selbst. Ich habe sogar gesehen, wie sie die Straße gekehrt hat.«

 

»Wer wohnt denn dort?«

 

»Ach, ein Seemann, soviel ich weiß. Vielleicht ihr Vater.«

 

»Ein Seemann? Ein Matrose?«

 

»So etwas Ähnliches muß er sein. Manchmal ist er monatelang fort, aber sie habe ich früher nie hier gesehen.«

 

Mr. Downer sog an seiner kalten Zigarre. Er witterte einen neuen Skandal.

 

»Er ist wohl ein hübscher Kerl – groß und schlank?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Man kann nicht gerade behaupten, daß er sehr gut aussieht. Obendrein ist er jetzt krank, und ich glaube, daß sie gekommen ist, um ihn zu pflegen. Sie hat es zu etwas gebracht in der Welt, hat aber ihren alten Vater nicht vergessen. Das finde ich nett von ihr.«

 

Die Frau war nun im besten Fahrwasser und wollte einen längeren Vortrag über junge Mädchen im allgemeinen halten, doch Mr. Downer wußte genug. Er zog den Hut tiefer ins Gesicht, nahm den Schirm von einem Arm unter den anderen und ging den Weg zurück, den er gekommen war.

 

Es war bezeichnend für ihn, daß er die Frau mitten in ihrer Erzählung einfach stehenließ, ohne sich zu entschuldigen. Er hatte erfahren, was er wissen wollte, das genügte. Er gab sich zwar die größte Mühe, neue Bekanntschaften zu machen, aber er verschwendete keinen Augenblick damit, nutzlose Bekanntschaften fortzusetzen.

 

Nach seinem Besuch auf der Redaktion kam er auf seinem Weg zum Bahnhof an Scotland Yard vorbei. Er blieb ein wenig stehen und überlegte. Nachdem er einen Entschluß gefaßt hatte, ging er auf das düstere Gebäude zu.

 

»Doktor Macleod ist im Laboratorium, Mr. Downer.« Der Sergeant in der Portierloge schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß er Besuch empfängt.« Er dämpfte seine Stimme. »Er ist mit dem Giftmord beschäftigt – Sie wissen doch, die Frau, die von ihrem Mann umgebracht wurde – Fall Sweitzer. Inspektor Reeder bearbeitet die Sache. Aber der Doktor hat die ärztliche Untersuchung zu machen. Heute nachmittag hat er den berühmten Spezialisten Tensey zugezogen. Das wäre eine Geschichte für Sie.«

 

Downer nickte. Er hatte selbst schon die Absicht gehabt, diesen Fall aufzugreifen. Der ›Daily Globe Herald‹ hatte ihn dazu aufgefordert, aber diese Zeitung zahlte bekanntermaßen etwas schlecht.

 

»Sehen Sie einmal zu, ob er sich sprechen läßt, und wenn es möglich ist, geben Sie ihm meine Karte.«

 

Der Beamte verschwand. Es dauerte einige Zeit, bis er wieder erschien und mit der Visitenkarte winkte: »Kommen Sie, Mr. Downer.«

 

Andy trug noch seinen weißen Arbeitskittel. Er wusch sich gerade die Hände, als Downer eintrat.

 

»Nehmen Sie Platz. Ich kann Ihnen nicht viel über diesen Fall mitteilen. Die Obduktion der Leiche ist noch nicht beendet, aber Sie können schreiben, daß Sweitzer heute morgen verhaftet wurde, als er an Bord eines französischen Passagierdampfers ging.«

 

Andy trug Downer nichts nach. Der Mann mußte ja schließlich auch leben. Zweifellos war er sonst sehr gewissenhaft in seinen Berichten und hatte die Polizei bei ihren Nachforschungen früher wirksam unterstützt. Das würde auch in Zukunft der Fall sein.

 

»Ich bin nicht deswegen hergekommen. Die Nachricht von seiner Verhaftung wird ja sowieso in den Abendzeitungen erscheinen.« Downer warf seinen Zigarrenstummel in den Papierkorb. »Ich kam, um mit Ihnen über Miss Nelson zu sprechen.«

 

Andy hatte sich die Hände abgetrocknet und hängte das Handtuch auf.

 

»Ich dachte, Ihr Interesse an Miss Nelson hätte sich inzwischen verflüchtigt. Was haben Sie denn schon wieder entdeckt?«

 

»Sie ist hier in London.«

 

»Hier?«

 

Andys Überraschung war nicht geheuchelt.

 

»Wohnt sie hier – oder haben Sie sie nur auf der Straße gesehen?«

 

»Ich weiß nicht, wo sie wohnt, aber seit zwei Wochen besucht sie regelmäßig einen kranken Matrosen in der Castle Street Nummer 73.«

 

»Castle Street Nummer 73?«

 

Downer hatte den Eindruck, daß diese Nachricht Andy irgendwie beunruhigte.

 

»Das ist doch eine ziemlich armselige Gegend, nicht wahr?«

 

Downer nickte. »Ich dachte, es würde Sie interessieren.«

 

»Ich wüßte nicht, warum sie nicht einen kranken Matrosen pflegen sollte.«

 

»Nein, da ist nichts dabei.«

 

»Sie wissen doch wahrscheinlich, daß Miss Nelson eine ausgebildete Krankenpflegerin ist – im Krieg war sie lange in Lazaretten tätig.«

 

»Das wußte ich allerdings nicht.« Downer nahm sein Etui heraus und nahm sich eine neue Zigarre. »Vielleicht setzt sie jetzt ihre guten Werke fort.«

 

»Sehr wahrscheinlich.«

 

Downer erhob sich.

 

»Ich dachte schon daran, nächste Woche einmal wieder nach Beverley zu gehen, vielleicht kann man dort einen neuen Anhaltspunkt finden.«

 

»Auf Ihren alten Gewährsmann können Sie wohl nicht mehr rechnen«, sagte Andy lächelnd.

 

»Sie meinen Wilmot?«

 

Andy nickte.

 

»Das ist ein merkwürdiger Mensch.« Downer steckte seine Zigarre an. »Was treibt der denn eigentlich? Er muß doch irgend ein Büro hier in der Stadt haben?«

 

»Ich weiß es nicht, ich habe mich noch nie darum gekümmert.«

 

»Könnte er vielleicht mit Albert Selim identisch sein?«

 

»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen, aber ich habe ihn nicht weiter verfolgt. Warum versuchen Sie sich nicht an dieser Aufgabe? Ich glaube, Sie würden eine glänzende Geschichte daraus machen.«