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»Eine gute Tat«, sagte Scottie, »trägt ihre Belohnung in sich selbst. Und ich fühle, daß ich ganz so handle, wie es in diesen schönen Geschichten steht, die von gebesserten Sträflingen handeln. Als ich zum letztenmal im Gefängnis war, habe ich dort eine ganze Bibliothek von Büchern über die guten Taten ehemaliger Sträflinge gefunden. Oft wurden sie durch das Lächeln eines Kindes von weiterer Schande gerettet. Manchmal war es die Tochter des Gefängnisdirektors, manchmal die Schwester des Geistlichen. Ihr Alter schwankte zwischen neun und neunzehn Jahren. Und die Erinnerung an ihre blauen Augen bewog jeden, seine Verbrecherlaufbahn aufzugeben. Das war das Ende!«

 

»Sie reden nur soviel, damit ich nicht weinen muß«, sagte Stella leise.

 

Im Kamin rauchte wieder ein Haufen verbrannter Papiere.

 

»Die Stecknadel hätten Sie nicht verbrennen sollen,« Scottie hob sie sorgfältig auf, so heiß sie auch war, und steckte sie unter seinen Rockaufschlag. »Verbranntes Papier ist verbranntes Papier, aber nehmen Sie einmal an, Artur Wilmot rennt wirklich zur Polizei und erzählt die Geschichte von den beiden Wechseln, die mit einer Stecknadel zusammengeheftet waren, und man findet dann die Asche der Papiere und eine angebrannte Stecknadel? Das würde doch seine Aussagen bestätigen, und das wäre mir sehr peinlich.«

 

»Sie haben alles gehört?« fragte sie und trocknete ihre Augen.

 

»Das meiste«, gestand Scottie. »Ich stand gerade im Garten, als er mit Ihnen an der Haustür sprach. Die Tür blieb offen, und ich konnte fast alles hören. Der Mann ist noch lange kein richtiger Erpresser. Der müßte erst noch fünf Jahre in die Lehre gehen, bis er so etwas ordentlich anfängt. Er ist zu nervös, außerdem schwatzt er zuviel. Aber diese Eigenheit besitzen alle Bewohner von Beverley Green. Sie sehen mich so zweifelnd an, Miss Nelson – vielleicht denken Sie, daß ich auch zuviel rede? Das stimmt, aber was ich sage, hat Hand und Fuß. Ich weiß Bescheid. Wenn man, wie ich, die ganze Welt gesehen hat, durch Kanada, die Vereinigten Staaten, Australien, Südafrika und diese Inseln gekommen ist, erweitert man seine Kenntnisse. Und ein gelegentlicher Aufenthalt im Gefängnis vertieft das Wissen.«

 

»Ich gehe jetzt in mein Zimmer, Mr. – Scottie. Ich kann Ihnen nicht genug danken. Ich werde es Mr. Macleod sagen.«

 

Scottie schüttelte heftig den Kopf.

 

»Das dürfen Sie unter keinen Umständen tun, das bringt ihn nur in große Verlegenheit. Meine lange Erfahrung mit Polizeibeamten hat mich zwei Dinge gelehrt – ich weiß, was sie wissen wollen und was sie nicht wissen wollen. Und es ist ein Fehler, wenn man ihnen etwas erzählt, das sie nicht wissen wollen.«

 

Sicher hatte er recht. Sie war auch nicht in der Verfassung, mit ihm darüber zu streiten. Diese letzte Aufregung hatte sie vollständig die Nerven gekostet, und sie mußte jetzt allein sein, um sich zu beruhigen. An Artur Wilmot dachte sie gar nicht mehr. Er bedeutete für sie nicht mehr als die Asche, die dort im Kamin lag.

 

»Gute Nacht – und noch vielen herzlichen Dank.«

 

»Träumen Sie etwas Schönes«, sagte Scottie und schaute nicht eher von seinem Buch auf, als bis sie gegangen war.

 

Dann nahm er sorgfältig die ganze Asche aus dem Kamin, trug sie in die Küche und vermischte sie dort in einem Glas mit Wasser. Dieses goß er aus, wusch das Glas wieder ab und trocknete es.

 

*

 

Am nächsten Morgen kam ein klug aussehender Journalist mittleren Alters nach Beverley Green. Er war bei keiner bestimmten Zeitung angestellt, aber alle Blätter nahmen seine Artikel gerne, denn er war einer der tüchtigsten Reporter. Er war sehr gewissenhaft. Für ihn hatte sich alles der Wahrheit unterzuordnen. Wer auch immer beleidigt oder verletzt sein mochte und wessen Interessen gefährdet wurden, war ihm gleichgültig. Seine Methoden waren unnachsichtig und erbarmungslos. Er scheute vor nichts zurück, um die volle Wahrheit herauszubringen. Er brach jedes Versprechen mit derselben Leichtigkeit, mit der er sich ein Frühstück bestellte. Feierliche Gelöbnisse, die Quelle nicht zu verraten oder über gewisse Dinge nicht zu sprechen, gehörten bei ihm zum Handwerk. Die Mehrzahl seiner Kollegen, die in diesen Dingen ehrenhafter waren, verachteten ihn, und sie machten auch kein Geheimnis daraus. Aber sie mußten zugeben, daß er immer großen Erfolg hatte, und sie wünschten manchmal insgeheim, daß sie ebenso gewissenlos handeln könnten wie er.

 

Er war ein untersetzter Mann mit etwas derben Gesichtszügen, trug eine große Brille und rauchte von morgens bis abends Zigarren. Gewöhnlich sah er etwas verdrießlich und unzufrieden aus. Aber er konnte von bezaubernder Liebenswürdigkeit sein, wenn er jemanden aushorchen wollte. Darin lag seine Macht und für sein Opfer die große Gefahr.

 

Es ist eine Tatsache, daß er mit dem Bischof von Grinstead drei Stunden lang, ohne einen Fehler zu machen, über theologische Spitzfindigkeiten sprach, bis ihm der Bischof, um eine seiner Ansichten zu belegen, die bis dahin streng geheimgehaltene Geschichte des Geistlichen Stoner Jelph erzählte, der sich das Leben genommen hatte. Natürlich hatte der Bischof keinen Namen erwähnt, er nannte den Mann nur Mr. X. Aber Downer – so hieß nämlich dieser Journalist – hatte die Geschichte herausbekommen und veröffentlicht. Er nannte in seinem Bericht auch keinen Namen, aber jeder wußte, um wen es sich handelte.

 

Andy war der erste, der Downer in Beverley Green ankommen sah. Er hatte ihn schon seit dem Tag des Mordes erwartet. Der Zeitungsmann wandte sich direkt an ihn.

 

»Guten Morgen, Macleod. Ich hielt es für das beste, Sie aufzusuchen, bevor ich meine eigenen Nachforschungen anstelle. Ich finde immer, daß es nicht fair ist, den betreffenden Beamten nicht davon zu informieren, daß man sich selbst um die Aufdeckung des Verbrechens bemüht. Ein Berichterstatter kann auf diese Weise viel Schaden anrichten. Ich glaube, die wichtigsten Tatsachen weiß ich. Ist in den letzten Tagen noch irgend etwas Neues dazugekommen?«

 

Andy bot ihm eine Zigarre an.

 

»Ich freue mich, daß Sie gekommen sind, Downer, aber Sie kommen etwas spät. Neues kann ich Ihnen leider nicht mitteilen.«

 

»Haben Sie wirklich gar keine neuen Anhaltspunkte? Wer ist eigentlich dieser geheimnisvolle Albert Selim, hinter dem Sie her sind? Mir kommt der Name bekannt vor, ich weiß nur nicht, wo ich ihn unterbringen soll.«

 

»Das wäre eigentlich eine Geschichte für Sie, Downer.« Andy blies dicke Rauchwolken von sich und sah den Journalisten unter gesenkten Lidern hervor an. »Keiner der anderen Reporter hat die Wichtigkeit seiner Person erkannt. Es ist noch nicht geglückt, Selim zu fassen.«

 

»Gut, Macleod, Sie können sich auf mich verlassen. Ich werde Ihnen nicht in die Arbeit pfuschen.«

 

Es wäre falsch gewesen zu sagen, daß Downer sich vor Andy gefürchtet hätte. Er hatte vor nichts Angst. Er achtete Andy, aber wenn es möglich war, ging er ihm aus dem Weg. Macleod war der einzige Detektiv, der fähig und willens war, sich an ihm zu rächen, wenn er etwas gegen ihn unternahm. Downer respektierte diese Tatsache.

 

»Sie haben ›Vieraugen-Scottie‹ hier, wie ich erfahren habe? Er hat doch neulich ein Alibi gehabt und ist freigesprochen worden?«

 

»Ja, er ist hier in Beverley Green. Freunde von mir haben ihn aufgenommen.«

 

»Sie glauben, daß er etwas von der Geschichte weiß?« fragte Downer. »Das wäre möglich. Er ist ein verflucht gerissener Bursche. Ich will ihn in meinem Bericht nicht weiter erwähnen.«

 

Andy beobachtete ihn, wie er später langsam und scheinbar ziellos auf Merrivans Haus zuging. Er hatte ihm alles gesagt, was Scottie betraf, weil er wußte, daß Downer es früher oder später doch herausbekommen würde. Darin hatte er auch klug gehandelt, denn Downer war schon am vorigen Abend in Beverley Green gewesen, hatte Scottie gesehen und war ihm bis zu seiner Wohnung gefolgt.

 

Am Nachmittag war die Leichenschau. Der kleine Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Mr. Boyd Salter, der in der Nähe des Coroners saß, winkte Andy zu sich heran.

 

»Ich habe meinen Parkwächter mitgebracht. Vielleicht ist seine Aussage für die genaue Zeitbestimmung des Mordes wertvoll. Außerdem habe ich versucht, weitere Einzelheiten über Albert Selim ausfindig zu machen. Es scheint, daß er vor etwa fünfunddreißig Jahren mit seiner geschäftlichen Tätigkeit begonnen hat. Ein alter Freund von mir, der natürlich nicht genannt sein will, hatte einmal mit ihm zu tun, als er noch Student war. Er hat Selim aber nie gesehen und kannte auch niemand, der den Geldverleiher persönlich getroffen hätte. Vor etwa fünfundzwanzig Jahren ist er dann wohl nach London gekommen und hat glänzende Verbindungen zwischen Reedern, Exporteuren und Schiffsagenten angeknüpft, über deren finanzielle Lage er ungewöhnlich gut informiert war.«

 

Andy dankte ihm und ging zu seinem Platz zurück.

 

Reeder und Schiffsagenten! Er war doch neulich einmal in einem solchen Büro gewesen! Plötzlich erinnerte er sich an die Firma – Wentworth & Wentworth, deren Geschäfte nicht mehr gutgingen und deren Räume gleich neben denen Selims lagen. Es mochte Zufall sein, aber man konnte sich noch einmal nach diesen Leuten umsehen.

 

Als er diesen Entschluß gefaßt hatte, wurde er aufgerufen, um den Eid zu leisten.

 

Er machte seine Zeugenaussage nach Artur Wilmot, der angegeben hatte, daß der Tote, Mr. Darius Merrivan, sein Onkel sei, und daß er ihn am Abend vor der Tat noch gesehen habe.

 

Dann folgte der Hausmeister. Er erzählte seine Geschichte, die er schon mindestens einem Dutzend Zeitungsleuten berichtet hatte. Andy kannte sie schon auswendig.

 

Andy war gespannt, ob Artur Wilmot noch einmal zurückgerufen werden würde, um die Namen der Freundinnen seines Onkels zu nennen. Er war darüber nicht befragt worden, als er seine Aussage machte. Der Coroner, der die Leichenschau leitete, berührte die Tatsache nicht, daß man die Stimme einer Frau im Arbeitszimmer Mr. Merrivans gehört hatte. Er schien sich weit mehr für den aufgefundenen Drohbrief zu interessieren. Der Hausmeister zeigte an Hand einer Skizze genau die Stelle, wo er den Brief gefunden hatte.

 

»War der Brief zusammengefaltet, oder lag er offen da?«

 

Der Hausmeister war sich darüber nicht klar. Er glaubte, daß er halb offen war, als er ihn aufhob.

 

»Hat man einen Briefumschlag gefunden?«

 

Andy wurde zur Beantwortung dieser Frage wieder in den Zeugenstand gerufen, er konnte aber auch nur angeben, daß man nach einer sehr eingehenden und genauen Untersuchung keinen Briefumschlag entdeckt hatte. Das war Andy selbst schon recht sonderbar erschienen. Der Brief wies kein Datum auf und konnte auch schon früher am Tage Merrivan übergeben worden sein.

 

»Haben Sie einen Anhaltspunkt gefunden, der zu der Annahme führen könnte, Merrivan habe für sein Leben gefürchtet?«

 

»Ich fand einen geladenen Revolver«, antwortete Andy. »Er lag in einem Schrank hinter dem Schreibtisch, und Mr. Merrivan hätte ihn leicht mit der Hand erreichen können. Keine der Patronen war abgeschossen worden.«

 

Es wurden noch viele Zeugen vernommen, zunächst der Polizist, der den Toten zuerst gesehen hatte, dann Mr. Vetch, der Rechtsanwalt des Toten, der Parkwächter Madding, Merrivans Köchin und das hysterische Dienstmädchen, das wieder zu weinen begann und aus dem Gerichtssaal geführt werden mußte. Als letzter wurde Polizeiinspektor Dane aufgerufen. Die Verhandlung schien schon zu Ende zu sein, als der Coroner, ein nervöser, alter Herr, plötzlich noch einmal Dr. Macleod aufrief.

 

»Es muß noch die Sache mit der Frau geklärt werden, deren Stimme der Hausmeister hörte.«

 

Andy ging ruhig zum Zeugenstuhl.

 

»Ich habe hier einen Zeitungsbericht, der besagt, daß Sie um elf Uhr eine Frau Mr. Merrivans Haus verlassen sahen. Sie ging unter Ihrem Fenster am Gästehaus vorbei, scheinbar auf dem Weg nach Beverley. Im allgemeinen kümmere ich mich wenig um Zeitungsberichte, aber das hier ist ausdrücklich in einem Interview festgelegt, das Sie einem der Berichterstatter gewährten, und ich besinne mich nicht darauf, daß dieser Punkt während der Verhandlung erwähnt wurde.«