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Chefinspektor Hallick fuhr nach dem Gefängnis von Princetown, um einen letzten Versuch zu machen. Er wußte allerdings schon von Anfang an, daß er keinen Erfolg haben würde. Der Direktor der Anstalt traf ihn am Eingang.

 

»Ich glaube ja nicht, daß Sie mit diesen Kerlen weiterkommen. Die haben ihre Strafe bald abgesessen und wollen natürlich nichts mehr verraten.«

 

»Das kann man niemals voraussagen«, entgegnete Hallick lächelnd. »Ich habe einmal eine sehr wertvolle Information von einem Gefangenen erhalten, der am nächsten Tage entlassen wurde.«

 

Dann gingen beide zusammen zu dem Büro des Direktors.

 

»Mein Oberwärter sagt, daß die beiden nicht sprechen werden, und der versteht es, sich das Vertrauen der Gefangenen zu erwerben. Als sie damals gefangengenommen wurden und eine lange Strafe bekamen, haben Sie doch alles versucht, um ein Geständnis aus ihnen herauszubringen. Glauben Sie mir, es gibt eine Menge Leute in unserer Anstalt, die gar zu gern wissen möchten, wo das Gold versteckt liegt. Persönlich bin ich davon überzeugt, daß die beiden keine Ahnung von dem Verbleib des Goldes haben. Bei der Gerichtsverhandlung sagten sie doch aus, daß O’Shea sich mit der Beute aus dem Staube gemacht habe, und das halte ich auch für wahrscheinlich.«

 

Der Chefinspektor lächelte.

 

»Möchte nur wissen, wo so viel Geld versteckt liegen mag. Als ich sie verhaftete, war ich auch überzeugt, daß O’Shea sie betrogen hatte, aber inzwischen habe ich meine Meinung geändert.«

 

In diesem Augenblick trat der Oberwärter ins Büro und begrüßte den Chefinspektor.

 

»Ich habe die beiden heute morgen in ihren Zellen gelassen – Sie wollen doch mit ihnen sprechen?«

 

»Ich möchte zuerst Connor sehen.«

 

»Gut, ich werde ihn sofort herunterbringen.«

 

Er verließ das Büro und ging über den großen, asphaltierten Hof zum Eingang des mächtigen häßlichen Gebäudes. Ein Stahlgitter versperrte die Zugangstür. Nachdem er das komplizierte Schloß geöffnet hatte, trat er durch die Tür in die Halle. Diese wurde in mehreren Geschossen von Galerien umgeben, an denen die einzelnen Zellentüren lagen. Er ging den untersten Gang entlang, blieb vor einer Tür stehen und öffnete sie. Der Gefangene saß in Sträflingskleidung auf der Ecke seines Bettes und hatte das Gesicht in die Hände gestützt. Als ihn der Wärter anrief, erhob er sich verdrießlich.

 

»Connor, ein Herr von Scotland Yard ist gekommen, um mit Ihnen zu sprechen. Wenn Sie vernünftig sind, dann beantworten Sie seine Fragen, so gut Sie können.«

 

Connor starrte ihn düster an.

 

»Ich habe nichts zu sagen«, erklärte er finster. »Warum können die einen nicht einmal im Gefängnis in Ruhe lassen? Selbst wenn ich wüßte, wo das Geld versteckt liegt, würde ich es doch nicht sagen!«

 

»Seien Sie doch nicht so dumm! Was können Sie schon dadurch erreichen, daß Sie dauernd Ihre Aussagen verweigern?«

 

»Nun, die Dummheit ist mir hier im Gefängnis gründlich ausgetrieben worden! Zehn Jahre bin ich hier eingeschlossen worden. Ich kenne jeden Ziegelstein – wer will mich denn sprechen?«

 

»Chefinspektor Hallick.«

 

Connor verzog das Gesicht. »Will er Marks auch sprechen? Ich dachte, Hallick wäre tot.«

 

»Da haben Sie sich aber mächtig geirrt, der ist sehr lebendig.«

 

Connor wurde von einem Wärter zum Büro des Direktors geführt. Er begrüßte Hallick mit einem Kopfnicken. Er war dem Beamten nicht übel gesinnt und trug ihm nichts nach. Zwischen beiden bestand eine merkwürdige Kameradschaft, wie sie sich manchmal zwischen Polizei und Verbrechern findet.

 

»Sie verschwenden nur Ihre Zeit mit mir, Mr. Hallick«, sagte er und fügte dann plötzlich ärgerlich hinzu: »Ich kann Ihnen doch weiter nichts sagen. Ich gebe Ihnen nur den einen guten Rat: Suchen Sie O’Shea ausfindig zu machen. Der kann Ihnen Aufklärung geben. Und dann noch eins: Sie müssen ihn finden, bevor ich ihn fasse, wenn Sie von ihm noch etwas erfahren wollen.«

 

»Wir werden ihn schon finden«, sagte Hallick ruhig.

 

»Sie wollen doch nur das Geld haben«, erwiderte Connor verächtlich. »Nur deshalb machen Sie all diesen Aufwand. Sie wollen der Bank das Geld wiederbeschaffen und die Belohnung einstecken, die darauf steht. Versuchen Sie es doch einmal mit Marks, vielleicht macht der gemeinsame Sache mit Ihnen.«

 

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Marks wurde ins Zimmer geführt. Er hatte sich während der Jahre der Gefangenschaft kaum verändert. Das hagere, asketische Gesicht war vielleicht noch ein wenig härter, die dünnen Lippen waren noch etwas schmäler geworden, und die Augen lagen tiefer in den Höhlen. Aber er sprach noch ebenso gebildet und war ebenso höflich wie früher.

 

»Ach, da sind Sie ja, Mr. Hallick! Sie sind hergekommen, um uns in unserem Landhaus einmal aufzusuchen?«

 

Nun bemerkte er auch Connor und nickte ihm zu. Ja, er machte sogar eine kleine Verbeugung vor ihm.

 

»Das ist ja sehr liebenswürdig und freundlich von Ihnen, Mr. Hallick. Haben Sie sich auch schon den Park und die Garage angesehen oder das hübsche Billardzimmer?«

 

»Nun ist es aber genug«, ermahnte ihn der Oberaufseher streng.

 

»Ach, verzeihen Sie«, sagte Marks und verneigte sich ironisch vor dem Beamten. »Es war alles nur Scherz. Ich habe nicht die Absicht gehabt, jemanden zu kränken. Es ist aber merkwürdig, daß ich Sie hier wiedersehe, Mr. Hallick! Hoffentlich ist es nur ein kurzer Besuch. Sie wollen doch nicht etwa länger bleiben?« Hallick lächelte.

 

»Sie wissen doch, warum ich hergekommen bin?«

 

Marks schüttelte den Kopf, dann sah er den anderen so überrascht an, daß man es kaum für Schauspielerei halten konnte.

 

»Sie sind doch nicht etwa hergekommen, um mich und meinen armen Freund nach dem verschwundenen Goldtransport zu fragen; aber ich sehe, daß es doch so ist. Sie wollen wohl wissen, wo das Geld versteckt ist? Und ich wünschte, ich könnte es Ihnen sagen. Aber am besten ist es, Sie wenden sich an Mr. O’Shea.«

 

»Marks, sei doch vernünftig«, sagte Connor ärgerlich, worauf Marks seinen Kameraden gekränkt anschaute. »Es fällt mir im Traum nicht ein, irgendwelche Fragen zu beantworten«, fuhr Connor fort. »Du kannst ja tun, was du nicht lassen kannst, und wenn sie O’Shea bisher nicht gefunden haben, so werde ich ihn bestimmt finden. Wenn ich ihn erst beim Wickel habe, wird er schon merken, was das zu bedeuten hat. Wenn ich hier entlassen werde, kümmere ich mich um niemanden anders mehr. Ich will auch nicht, daß Marks mir hilft, O’Shea zu finden. Ich habe Marks die letzten zehn Jahre Tag für Tag gesehen, und ich kann ihn nicht mehr ausstehen. Ich werde den Mann schon zu fassen kriegen, der mich verraten hat, ganz allein!«

 

»Glauben Sie das?« fragte Hallick schnell. »Wissen Sie denn, wo er ist?«

 

»Ich weiß nur eins«, entgegnete Connor düster, »und Marks weiß es auch. Er hat es an jenem Morgen gesagt, als wir auf den Goldtransport warteten, es ist ihm so herausgefahren. O’Shea wollte sich zurückziehen und sich irgendwo verstecken, aber ich werde Ihnen weiter nichts erzählen. Vier Monate muß ich noch absitzen, und wenn die vorüber sind, werde ich O’Shea suchen und finden.«

 

»Ach, das ist doch alles Unsinn«, erwiderte Hallick. »Den finden Sie nicht, die Polizei hat die ganzen letzten Jahre nach ihm gesucht.«

 

»Nach wem haben Sie denn Ausschau gehalten?« fragte Connor, ohne sich um den warnenden Blick zu kümmern, den Marks ihm zuwarf.

 

»Doch nach niemandem anders als nach Len O’Shea.«

 

Connor lachte laut. »Sie suchen nach einem gesunden Mann, aber da irren Sie sich. Ich habe Ihnen früher nicht gesagt, warum Sie ihn nicht finden. Nämlich deshalb, weil er verrückt ist. Sie wußten das nicht, aber Marks weiß es auch. O’Shea war vor zehn Jahren wahnsinnig. Ich möchte bloß wissen, was er jetzt treibt. Der Kerl ist ebenso verschlagen und schlau, wie es nun einmal Verrückte sind. Fragen Sie Marks.«

 

Davon hatte Hallick noch nichts gehört. Er sah Marks fragend an, aber der lächelte nur.

 

»Ich fürchte, Connor hat recht«, gab er liebenswürdig zu. »O’Shea ist so klug, weil er nicht ganz bei Verstand ist. Selbst in Dartmoor erfahren wir manchmal etwas Neues, Mr. Halliek, und es geht das Gerücht, daß vor ein paar Jahren drei Beamte von Scotland Yard spurlos verschwanden. Und Sie werden ja schließlich kein Staatsgeheimnis verraten, wenn Sie mir bestätigen, daß diese drei O’Shea verhaften sollten.«

 

Er sah, daß sich Hallicks Gesichtsausdruck änderte, und lachte.

 

»Man erzählt sich auch«, fuhr er fort, »daß sie England verlassen hätten und später von Paris aus ihre Entlassungsgesuche nach Scotland Yard, schickten. Aber es ist Ihnen vielleicht nicht unbekannt, daß O’Shea jede Handschrift nachmachen kann, und ich sage Ihnen nur, daß die England überhaupt nicht verlassen haben.«

 

Halliek wurde blaß.

 

»Wenn ich denken müßte –« begann er.

 

»Die sind gar nicht aus England herausgekommen«, erklärte Marks rücksichtslos. »Sie suchten O’Shea – und der hat sie eher erkannt als sie ihn.«

 

»Wollen Sie damit sagen, daß sie tot sind?«

 

Marks nickte langsam.

 

»Zweiundzwanzig Stunden am Tag ist er vernünftig wie alle anderen Leute, aber zwei Stunden …« Er zuckte die Schultern. »Mr. Hallick, Ihre Beamten müssen O’Shea in einem unglücklichen Augenblick begegnet sein.«

 

»Wenn ich ihn treffe –« mischte sich Connor ein, aber Marks drehte sich schnell nach ihm um.

 

»Wenn du ihm begegnest, dann mußt du dran glauben«, sagte er ärgerlich. »Wenn ich ihn aber sehen sollte –« Sein Gesicht verzerrte sich so sehr, daß Hallick erschrak.

 

»Was dann?« fragte der Inspektor. »Wo wollen Sie ihn denn suchen?«

 

Marks hob den Arm, und seine Finger krallten sich ineinander, als ob sie einem unsichtbaren Feind die Kehle zudrückten.

 

»Ich weiß, wo ich ihn finden kann!«