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Es war vier Uhr, als Goodman die kleine Station erreichte, die einen Kilometer von Monkshall entfernt lag. Er machte sich zu Fuß auf den Weg ins Dorf.

 

Er war eine gute Viertelstunde unterwegs, als er das Geräusch eines Autos hinter sich hörte. Er machte sich nicht die Mühe, sich umzuschauen, und war darum überrascht, als der Wagen langsamer fuhr und jemand ihn anrief. Es war Ferdie Fane, der am Steuer saß.

 

»Steigen Sie ein, junger Mann«, sagte er vergnügt. »Warum wollen Sie Ihre Sohlen ablaufen, wenn Sie die Reifen eines Bekannten abnützen können?«

 

Fane hatte ein rotes, erhitztes Gesicht, und seine Augen glänzten hinter der großen Hornbrille.

 

Mr. Goodman fürchtete, daß Fane zuviel getrunken hatte.

 

»Nein, danke vielmals, ich will lieber zu Fuß gehen.«

 

»Ach, reden Sie doch nicht solchen Unsinn. Steigen Sie ein!« erwiderte Ferdie bestimmt. »Ich kann viel besser fahren, wenn ich einen hinter die Binde gekippt habe, als wenn ich mit nüchternem Magen durch die Gegend gondele. Aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich nichts getrunken habe.«

 

Zögernd und vorsichtig stieg Goodman in den Wagen und nahm neben Fane Platz.

 

»Ich werde langsam fahren, Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben.«

 

»Glauben Sie, daß ich Angst habe?« fragte Goodman etwas heiser. »Das weiß ich bestimmt«, entgegnete Fane belustigt. »Wo sind. Sie denn eigentlich an diesem Tag gewesen?««

 

»Ich bin nach London gefahren.«

 

»Oh, das ist eine interessante Stadt, aber es wohnt sich nicht sehr nett dort.«

 

Fane hielt sein Wort und fuhr mit äußerster Vorsicht, wie Mr. Goodman beruhigt feststellen konnte. Er war neugierig, wie Ferdie zu dem Wagen gekommen war, und fragte ihn danach.

 

»Ich habe das Auto gegen schweres Geld von einem Räuber und Straßendieb aus dem Dorf geliehen. Können Sie auch fahren?«

 

Mr. Goodman schüttelte den Kopf.

 

»Es ist ein sehr glatter, guter Weg für einen Personenwagen, aber es ist unendlich schwer, hier mit einem Lastwagen entlangzufahren, besonders wenn man schwer geladen hat. Kennen Sie Lark Hill?«

 

Mr. Goodman nickte.

 

»Ein Lastwagen ist dort oben steckengeblieben, und ich glaube, er wird auch vorläufig nicht von der Stelle kommen, obwohl im Augenblick die Straße trocken ist. Wie schwierig muß es erst sein, mit einer schweren Last in einer regnerischen Nacht dort entlangzufahren! An dem steilen Hügel ist schon mehr als ein Chauffeur gescheitert.«

 

Er sprach über gleichgültige Dinge, bis sie zum Fuß des steilen Hügels kamen, wo der schwere Lastwagen noch verlassen an der Straßenseite stand.

 

»Sehen Sie, dort steht der Kasten«, sagte er mit Genugtuung. »Es wird eine ganze Menge Mühe und Arbeit kosten, um ihn wieder flott zu bekommen. Nur ein außerordentlich tüchtiger Chauffeur bringt so etwas fertig.«

 

Goodman lächelte.

 

»Ich habe niemals gewußt, daß es auch unter den Chauffeuren besonders tüchtige Leute gibt. Aber schließlich scheint es in jedem Beruf, so einfach er auch sein mag, einen Napoleon zu geben.«

 

»Darauf können Sie sich verlassen«, entgegnete Ferdie.

 

Bald hatten sie Monkshall erreicht, und Fane gab einem der Angestellten, der den Wagen ins Dorf zurückbringen sollte, ein Trinkgeld. Dann verschwand er ins Haus.

 

Goodman schaute sich um. Trotz seines Alters war seine Sehkraft noch sehr gut. In der Nähe der Ruine bemerkte er eine schlanke Gestalt – es war Mary. Sie erkannte ihn und kam ihm entgegen. Ihr Vater befand sich in seinem Arbeitszimmer, und sie wollte gerade zum Tee gehen. Er fand, daß sie etwas angestrengt und bleich aussah.

 

»Hat sich heute nichts ereignet?« fragte er schnell.

 

»Nein, Mr. Goodman, aber ich habe Angst vor der kommenden Nacht.«

 

Er legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.

 

»Aber, liebes Kind, Sie sollten wirklich von hier fortgehen. Ich muß einmal mit dem Colonel darüber sprechen.«

 

»Ach, bitte, tun Sie das nicht«, entgegnete sie schnell. »Vater will nicht haben, daß ich gehe. Aber die letzten Tage haben mich etwas nervös gemacht.«

 

»Ist der junge Mann wieder aufdringlich geworden?«

 

»Nein. Sie meinen Mr. Fane? Der war sehr nett zu mir, ich habe ihn heute nur ein paar Minuten gesprochen. Er ist mit einem Auto fortgefahren und fragte mich –« sie brach plötzlich ab.

 

»Hat er Sie eingeladen, mitzufahren? Der junge Mann hat vielleicht Nerven!«

 

»Er war aber wirklich sehr nett«, sagte sie schnell. »Ich war nur nicht in der Stimmung, eine Spazierfahrt zu machen. Soviel ich weiß, ist er soeben zurückgekommen. Oder waren Sie es, der mit dem Auto vor Monkshall hielt?«

 

Er erzählte ihr, daß er unterwegs Ferdie Fane getroffen habe, und Mary lachte zum erstenmal an diesem Tage.

 

»Es ist merkwürdig. Manchmal ist er vernünftig, und dann kann ich ihn recht gut leiden. Cotton scheint ihn zu hassen, er sagte mir heute, daß er kündigen würde, wenn Mr. Fane das Haus nicht verließe.«

 

Goodman lächelte.

 

»Sie scheinen ja recht viel Mühe und Sorgen in Ihrem Haushalt zu haben. Hoffentlich ist Mr. Partridge nett und liebenswürdig?«

 

Sie lächelte ein wenig.

 

»Ja, er ist reizend. – Heute habe ich ihn noch nicht gesehen«, fügte sie dann hinzu.

 

»Sie können das jetzt nachholen«, erwiderte er und zeigte zum Rasen hinüber.

 

Dort stand Mr. Partridge in seinem schwarzen Rock, aber man konnte ihn kaum vor dem dunklen Hintergrund der Bäume erkennen. Langsam ging er auf und ab und las dabei ein Buch. Aber allem Anschein nach war seine Aufmerksamkeit nicht vollkommen bei seiner Lektüre, denn er schloß das Buch und ging auf die beiden zu.

 

»Das ist doch hier ein herrliches Fleckchen Erde, meine liebe Miss Redmayne, ein wundervoller Platz, ein Paradies auf Erden!«

 

Bei Tageslicht sah sein Gesicht nicht so sanft und freundlich aus, im Gegenteil, seine Züge waren hart und scharf, und seine dunklen Augen hatten einen stechenden Ausdruck. Seine Stimme klang allerdings nach wie vor liebenswürdig, nur etwas zu salbungsvoll. Irgendwie mißfiel er Mary vom ersten Augenblick an, und jetzt erschien er ihr noch abstoßender als zuvor.

 

»Ich sah Sie mit einem Wagen kommen, Mr. Fane saß am Steuer«, wandte sich Partridge vorwurfsvoll an Goodman. »Dieser Mr. Fane ist doch ein merkwürdiger junger Mahn. Leider scheint er sich dem Alkohol zu sehr ergeben zu haben!«

 

»Ich kann aber tatsächlich bezeugen«, unterbrach ihn Mr. Goodman, »daß Fane heute vollkommen nüchtern ist. Er hat mich mit außerordentlicher Geschicklichkeit nach Hause gefahren. Er ist nur leicht erregbar, und vielleicht tut man ihm manchmal unrecht wegen seines seltsamen Verhaltens.«

 

Der Pfarrer warf den Kopf zurück. Er konnte Fane nicht leiden und hielt nicht viel von dessen Charakter.

 

Man konnte aber an Fanes Benehmen nichts aussetzen, als er kurz darauf zum Tee in der Halle erschien. Er hätte allein gesessen, wenn Goodman ihn nicht in den kleinen Kreis eingeladen hätte, der aus Mrs. Elvery, Mary und den beiden Herren bestand. Er war sehr ruhig, und obwohl er mehrere Male Gelegenheit gehabt hätte, in die Unterhaltung einzugreifen, hielt er sich zurück und blieb liebenswürdig und bescheiden.

 

Mary beobachtete ihn heimlich. Sie interessierte sich bereits mehr für ihn, als sie sich eingestehen wollte. Es fiel ihr auf, daß er älter sein mußte, als sie anfangs geglaubt hatte. Auch ihr Vater hatte das bemerkt. Fanes Haare waren an den Schlafen schon leicht angegraut, und obwohl das Gesicht sonst glatt und ohne Falten war, zeugten doch die entschlossenen, etwas harten Züge davon, daß er die Dreißig überschritten haben mußte. Vielleicht war er auch schon älter als vierzig.

 

Er hatte eine tiefe, etwas brüske Stimme. Mary fand, daß er ziemlich nervös war, denn ein- oder zweimal, als sie ihn ansprach, schrak er heftig zusammen, und er mußte sich Mühe geben, den Tee nicht zu verschütten, als er die Tasse gerade in der Hand hielt.

 

Nachdem sich die Gesellschaft zerstreut hatte, sprach Mary ihn an.

 

»Sie scheinen heute ein wenig geistesabwesend zu sein, Mr. Fane.«

 

»So, ist Ihnen das aufgefallen?« Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. »Es ist merkwürdig, daß die Gegenwart von Pfarrern mich immer ganz niedergeschlagen macht. Vielleicht meldet sich mein Gewissen, das ist sehr unangenehm.«

 

»Was haben Sie denn den ganzen Tag gemacht?« fragte sie.

 

Das ging sie eigentlich nichts an, und sie erkundigte sich schließlich auch nur, um die Unterhaltung fortzuführen.

 

»Ich habe nach Gespenstern gejagt«, erwiderte er.

 

Als er aber bemerkte, wie bleich sie wurde, taten ihm seine Worte leid.

 

»Entschuldigen Sie vielmals, das hätte ich nicht so unvermittelt sagen sollen.«

 

Aber trotz alledem hatte er es ernst gemeint. Das wurde ihr ganz klar, als sie allein in ihrem Zimmer war und über Ferdie Fane nachdachte. Bestimmt hatte er den ganzen Tag damit zugebracht, die Geistererscheinung zu ergründen. Ob er selbst wohl der Mönch in der schwarzen Kutte war? Aber dann ließ sie den Gedanken sofort wieder fallen. Das konnte und wollte sie nicht glauben.