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Die Polizeimaschinerie von Scotland Yard lief auf Hochtouren. Nach allen Richtungen hin hatte man Nachforschungen eingeleitet; nicht einmal Mrs. Elvery und ihre Tochter waren verschont geblieben. Gegen Mitternacht lagen Hallick bereits Nachrichten über die einzelnen Personen vor. Man hatte sich um die Vorgeschichte aller Leute gekümmert, die in Monkshall wohnten.

 

Mrs. Elvery, eine wohlhabende Frau, war nach dem Tod ihres Mannes ständig auf Reisen. Es ging ihr wirklich gut, und sie brauchte nicht zu sparen. Man hätte sie unter gewissen Umständen sogar reich nennen können. Sie gehörte zu diesen geheimnisvollen Frauen in mittleren Jahren, die von einem Hotel zum andern ziehen und in luxuriöser Umgebung verhältnismäßig sparsam leben. Man findet sie im August am Lido, im Juli in Deauville und im Winter an der Riviera oder in Ägypten.

 

Mr. Goodman war stiller Teilhaber in einer alten, nicht gerade sehr erfolgreichen Importfirma. Früher hatte er sich lange Jahre aktiv an dem Unternehmen beteiligt. Hallick zog daraus die Schlußfolgerung, daß die Firma glänzend verdient haben mußte, bevor sich Goodman vom Geschäft zurückzog.

 

Die Akten über Cotton waren nicht gerade sehr glänzend. Er war dreimal des Diebstahls verdächtigt und verhaftet worden. Aber man hatte ihn mangels Beweisen freisprechen müssen.

 

»Man muß sich Cottons Fingerabdrücke beschaffen, dann wird sich das weitere finden«, sagte Hallick zu Elk.

 

Cotton hatte immer Stellungen in Pensionen gehabt, und während er dort beschäftigt war, waren dann stets Schmuckstücke verschwunden, wobei der Verdacht immer auf ihn fiel.

 

Colonel Redmayne war früher ein armer Militärarzt gewesen und wegen Trunksucht entlassen worden. Durch Schiebung hatte er eine leitende Stellung beim Roten Kreuz erhalten. Als dann verhältnismäßig viel Geld aus der von ihm verwalteten Kasse verschwand, hatte man eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet, und Scotland Yard war bereits auf ihn aufmerksam geworden. Man hatte aber von einer Anklage abgesehen, da das nötige Beweismaterial nicht zusammengebracht werden konnte. Zudem wurde das fehlende Geld wieder ersetzt, und man ließ daher die Sache fallen. Man sprach aber viel von ihm, als er Monkshall kaufte.

 

Die Nachrichten über Redmaynes Laufbahn waren Hallick neu.

 

»Militärarzt war er also?«

 

Elk nickte, denn er hatte selbst die Nachrichten über Redmayne gesammelt.

 

»Er war schon vor dem Krieg im Dienst und ist dann im Laufe der Jahre zum Colonel befördert worden. Es ist merkwürdig, wie stolz diese Leute auf ihren militärischen Rang sind.«

 

Hallick brachte den Abend damit zu, einen großen alten Plan von Monkshall und der nächsten Umgebung zu studieren.

 

Daneben lag eine Detailzeichnung der Eingangshalle, die bei Connor gefunden worden war. Eins war jedenfalls sicher: Connor war nicht in das Haus eingebrochen. Es mußte also irgend jemand der Hausbewohner ihn heimlich hereingelassen haben. Und wer kam da in Frage? Redmayne selbst hätte es nicht getan – ebensowenig seine Tochter!

 

Es konnte nur ein Dienstbote gewesen sein, und sicherlich niemand anders als Cotton. Es war nahezu unmöglich, in das alte, gutbefestigte Haus einzubrechen, ohne einen Verbündeten zu haben. Alle Fenster und Türen waren mit elektrischen Alarmanlagen versehen, außerdem war Monkshall so sicher gebaut, daß es eine Belagerung hätte aushalten können. Es schien, als ob Colonel Redmayne früher oder später den Besuch eines Einbrechers erwartet hätte. Hallick ging an jenem Abend todmüde ins Bett. Eigentlich erwartete er einen Anruf, aber es ereignete sich nichts. Er rief Monkshall an, bevor er am nächsten Morgen sein Haus verließ, und Dobie meldete, daß alles in Ordnung sei. Der Sergeant hatte sich noch nicht zur Ruhe gelegt, und bis dahin war auch noch nichts passiert. Weder hatte er Geräusche gehört noch ein Gespenst gesehen.

 

»Was reden Sie da wieder für einen Unsinn von Geistern und Gespenstern!« tadelte ihn Hallick. »Haben Sie etwa erwartet, daß Sie dort am hellen, lichten Tag Gespenster sehen?«

 

»Ich fange tatsächlich an zu glauben, daß es hier etwas gibt, was nicht mit natürlichen Dingen zugeht.«

 

»Ach, das ist Geschwätz«, entgegnete Hallick scharf. »Solchen Gedanken dürfen Sie sich nicht hingeben, Sergeant!«

 

Der Chefinspektor hatte auch noch einen anderen Fall zu bearbeiten und verbrachte zwei Stunden damit, ein wenig intelligentes Dienstmädchen über das geheimnisvolle Verschwinden von wertvollen Schmuckstücken auszufragen. Es war beinahe Mittag geworden, als er zu seinem Büro zurückkehrte. Sein Assistent teilte ihm eine unerwartete Neuigkeit mit.

 

»Mr. Goodman wartet auf Sie. Er möchte Sie sprechen. Ich habe ihn ins Empfangszimmer geführt.«

 

»Godman?« fragte Hallick und runzelte die Stirn. Im Augenblick konnte er sich nicht auf den Namen besinnen. »Ach ja, ist das nicht der alte Herr aus Monkshall? Was will denn der von mir?«

 

»Er sagte nur, daß er Sie sprechen wolle. Als ich ihm erklärte, daß Sie nicht anwesend seien, wollte er warten.«

 

»Bringen Sie ihn herein!«

 

Mr. Goodman betrat das Büro. Er schien ziemlich ängstlich und zurückhaltend zu sein.

 

»Ich habe, offen gestanden, erwartet, daß Sie mich nicht empfangen würden, denn ich weiß sehr wohl, wieviel Sie zu tun haben.« Er legte seinen. Hut und seinen Regenschirm sorgfältig auf einen Stuhl. »Aber da ich eine Besorgung in der Stadt hatte, dachte ich, daß ich auch bei Ihnen vorsprechen könnte.«

 

»Ich freue mich sehr, daß Sie mich hier besuchen, Mr. Goodman«, erwiderte Hallick und schob ihm einen Stuhl hin. »Haben Sie sich wieder neue Theorien gebildet über den Mord in Monkshall?«

 

Goodman lächelte.

 

»Ich habe Ihnen doch schon früher gesagt, daß ich keine Erklärung weiß, aber ich bin besorgt um Miss Redmayne.« Er machte eine Pause und zögerte. »Sie haben sie verhört, und sie war sehr bedrückt deshalb.« Er machte abermals eine Pause, aber Hallick half ihm nicht. »Sie wissen, ja schon, daß ich – Mary Redmayne gern habe; ja, ich darf wohl sagen, daß ich sie verehre. Ich würde alles tun, um diesen mysteriösen Fall aufzuklären, und ich bin fest davon überzeugt, daß ihr Vater mit dieser schrecklichen Angelegenheit nichts zu tun hat.«

 

»Ich habe auch nicht gesagt, daß er in die Geschichte verwickelt ist«, unterbrach ihn Hallick.

 

Mr. Goodman nickte.

 

»Das verstehe ich vollkommen, aber ich bin schließlich doch nicht ganz so dumm, wie es den Anschein haben mag. Ich weiß wohl, daß er unter Verdacht steht, und ebenso, daß alle Leute, die dort im Haus wohnen, mehr oder weniger verdächtig sind. Auch ich bin. nicht ausgeschlossen.«

 

Wieder hielt er im Sprechen inne, aber Mr. Hallick blieb stumm. Er war gespannt, was jetzt kommen würde.

 

»Ich bin ein verhältnismäßig wohlhabender Mann«, fuhr Goodman schließlich fort. Es schien ihm schwerzufallen, den Vorschlag zu äußern, den er im Sinn hatte. »Ich bin bereit, eine große Summe auszugeben, nicht gerade, um der Polizei zu helfen, aber um Colonel Redmayne von jedem Verdacht zu reinigen. Wahrscheinlich wird Ihnen mein Vorschlag sehr sonderbar erscheinen, aber ich habe Sie aufgesucht, um Ihnen zu sagen, daß ich einen Detektiv von Scotland Yard engagieren möchte.«

 

Der Chefinspektor schüttelte den Kopf.

 

»Wenn Sie ihn engagieren wollen wie einen Privatdetektiv, so ist das nicht möglich!«

 

Goodman machte ein langes Gesicht.

 

»Das tut mir unendlich leid. Ich hatte so viel von Mrs. Elvery gehört. Sie ist zwar etwas zu redselig und kann einem manchmal auf die Nerven fallen, aber sie hat eine außerordentliche Kenntnis in kriminalistischen Dingen. Und sie hat immer wieder betont, daß in Scotland Yard ein tüchtiger Beamter sei, der diesen Fall sofort aufklären könne – Inspektor Bradley.«

 

Hallick lachte.

 

»Inspektor Bradley ist im Augenblick nicht in England.«

 

»Ach, das ist aber schade«, entgegnete Mr. Goodman betrübt. »Mrs. Elvery sagt –«

 

»Ich fürchte nur, daß sie sehr viel sagt, was uns nicht weiterhilft«, unterbrach ihn Hallick gutgelaunt. »Es tut mir furchtbar leid, aber ich kann Ihren Wunsch nicht erfüllen; und es ist wohl auch am besten, wenn Sie uns die Aufklärung des Falles überlassen; denn wir haben keinen anderen Wunsch, als die Wahrheit ans Licht zu bringen. Wir wollen jede Person, die unter falschem Verdacht steht, davon befreien, aber ebenso fest sind wir entschlossen, den Täter ausfindig zu machen und ihn dem Gericht zu übergeben.«

 

Damit wäre die Unterredung eigentlich zu Ende gewesen, aber Mr. Goodman blieb noch sitzen und sah Hallick verlegen an.

 

»Furchtbar schade«, sagte er schließlich. »Mr. Bradley ist im Ausland. Dann kann ich also meine Neugierde nicht befriedigen. Und Mrs. Elvery hat mir doch so viel von diesem tüchtigen Detektiv erzählt. Er ist doch sicherlich sehr klug?«

 

»Das stimmt. Er ist einer der fähigsten Beamten von Scotland Yard.«

 

»Da bin ich um so trauriger, denn ich hätte gern gewußt, wie er aussieht.«

 

Hallick warf ihm einen kurzen Blick zu und schaute dann nach der Wand, wo drei Gruppenbilder hingen. Eins davon nahm er ab und legte es vor sich auf den Tisch. Es waren ungefähr dreißig Beamte darauf zu sehen, die nebeneinander saßen oder standen. Darunter konnte man lesen: Die Beamtenschaft des Polizeipräsidiums.

 

»Ich kann Ihre Neugierde doch befriedigen. Der vierte Malta von links neben dem Polizeipräsidenten ist Inspektor Bradley.«

 

Mr. Goodman rückte seine Brille zurecht und betrachtete das Foto genau.

 

»Das ist Bradley. Er sieht allerdings nicht aus wie ein Detektiv«, bemerkte Hallick lächelnd, »aber er ist trotzdem der tüchtigste Beamte von Scotland Yard.«

 

Goodman starrte auf die Fotografie, dann lächelte er ein wenig nervös.

 

»Es war sehr freundlich von Ihnen, Mr. Hallick. Sie haben recht, er sieht wirklich nicht aus wie ein Detektiv, aber das trifft ja bei keinem der Beamten von Scotland Yard zu. Die sehen aus wie –«

 

»Wie gewöhnliche Leute«, ergänzte Hallick und zwinkerte ihm zu.

 

Dann hängte er das Bild wieder an die Wand.

 

»Wegen Miss Redmayne machen Sie sich nur keine Sorgen. Und denken Sie um Himmels willen nicht daran, einen Detektiv für die Sache zu engagieren. Das wäre weder für Miss Redmayne noch für ihren Vater irgendwie von Nutzen. Unschuldige Leute haben nichts zu fürchten, schuldige dagegen viel. Sie kennen doch Colonel Redmayne seit langer Zeit, wie ich annehme?«

 

»Ja, schon mein ganzes Leben lang.«

 

»Dann kennen Sie auch seine Vergangenheit?«

 

Goodman zögerte.

 

»Ja, ich glaube, daß sie mir bekannt ist«, sagte er dann ruhig. »Es gab ein paar unangenehme Zwischenfälle in seiner Karriere, er hat mir alles selbst erzählt. Ich muß auch sagen, daß er sehr viel trinkt, das ist sehr schade. Aber ich glaube, er hat noch mehr getrunken, als sich diese unliebsamen Ereignisse abspielten.«

 

Er griff nach Hut und Schirm, nahm seine Pfeife aus der Tasche, sah sie an, steckte sie dann aber hastig wieder ein.

 

»Sie können hier ruhig rauchen, Mr. Goodman, wir bringen Sie deshalb nicht an den Galgen«, lachte Hallick.

 

Er begleitete seinen Gast den langen Korridor entlang und ging auch mit ihm die Treppe hinunter. In der Eingangshalle verabschiedete er sich von ihm. Hallick hoffte, daß er Goodman beruhigt hatte.