Im Banne des Sirius

 

Der Redner war nicht gerade in bester Stimmung, als das Telefon läutete. Er sah sich hilflos nach seinem Assistenten um, denn er liebte es nicht, persönlich an den Apparat zu gehen.

 

»Ist dort Mr. Rater?«

 

Die Stimmen junger Damen sind am Telefon schwer zu unterscheiden, aber Mr. Rater wußte sofort, wer ihn anrief.

 

»Ja, Miss Linstead. Was gibt es?«

 

Es wäre unverzeihlich von ihm gewesen, wenn er sie vergessen hätte, denn noch vor einem Jahr war sie seine Sekretärin gewesen. Das junge Mädchen mit den dunklen Locken war sehr scheu und zurückhaltend. Auf den Wunsch ihres Onkels hatte sie ihre Stellung in Scotland Yard aufgegeben. Dieser Mann erinnerte sich plötzlich daran, daß er eine Nichte hatte, und richtete ihr eine schöne Wohnung in Mayfair ein.

 

»Könnte ich Sie einmal sprechen, Mr. Rater? Es handelt sich um eine für mich sehr wichtige Angelegenheit …, mit der Polizei hat sie allerdings nichts zu tun; das heißt, in einer Beziehung vielleicht doch – Sie waren früher immer so freundlich zu mir …«

 

Sie sprach etwas zusammenhanglos, und er schloß daraus, daß sie aufgeregt sein mußte.

 

Nachdenklich rieb er seine Stirn. Er war im allgemeinen schwer zugänglich, und es gab nur wenig Menschen, mit denen er gern zu tun hatte, dagegen sehr viele, die ihm im Innersten unsympathisch waren. Zu Betty Linstead fühlte er sich jedoch hingezogen. Abgesehen davon, daß sie sehr hübsch war, arbeitete sie fleißig und gewissenhaft und sprach vor allem nicht viel. Junge Sekretärinnen, die viel redeten, konnten ihn zur Verzweiflung bringen.

 

»Ich habe gerade nicht viel zu tun, ich werde einen Besuch bei Ihnen machen«, versprach er.

 

Er hatte schon die unbestimmte Vorstellung, daß Brook Manor ein sehr vornehmes Haus sein mußte, aber als er vor dem Eingang stand, war er doch erstaunt über das prunkvolle Portal aus Bronze und Glas und über die vornehme Livree des Portiers. Schwere, dicke Teppiche lagen auf Gängen und Treppen, und Bettys Wohnung war in der luxuriösesten Weise ausgestattet. Auch die junge Dame selbst hatte sich vollständig verändert. Das war nicht mehr die einfache, bescheiden gekleidete Sekretärin, die er von früher her kannte. An ihren Handgelenken glänzten kostbare Armbänder, deren Wert ungefähr vier Jahreseinkommen des Chefinspektors ausmachten. Unwillkürlich wurde seine Haltung ihr gegenüber etwas reservierter.

 

»Ich bin Ihnen so dankbar, daß Sie gekommen sind, Mr. Rater«, sagte sie atemlos. »Darf ich Ihnen Artur – Mr. Artur Menden vorstellen?«

 

Ihre Nervosität hatte sich allerdings nicht gebessert, seitdem sie Scotland Yard verlassen hatte. Und wenn Mr. Rater schon verwundert war über die Eleganz der Wohnung, so überraschte ihn doch noch mehr die Anwesenheit dieses hübschen jungen Mannes.

 

»Es ist alles entsetzlich kompliziert«, begann Betty verlegen. »Es handelt sich nämlich um meinen Onkel und – Artur. Mein Onkel wünscht nicht, daß ich Artur heirate …«

 

Der Redner wußte kaum, was er darauf erwidern sollte. Zwar hatte er erwartet, daß es sich um irgendein schweres Problem handeln würde, aber daß sich die junge Dame in einen ihrer Familie nicht genehmen Herrn verliebt haben könnte, wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Sie schien zu ahnen, was in ihm vorging, und drängte ihn rasch zu einem großen, bequemen Lehnsessel.

 

»Ich muß Ihnen alles von Anfang an erzählen. Sie kennen doch Onkel Julian – natürlich, er ist sehr bekannt. Wie Sie wissen, ist er Junggeselle. Trotzdem war er immer sehr gut und lieb zu mir. Auch früher schon, als ich noch in Stellung war, hat er mir eine monatliche Unterstützung gezahlt, gerade genug, um leben zu können. Er hätte mir mehr geben können, aber er schätzt junge Damen, die sich ihren Unterhalt selbst verdienen. Damals sah ich ihn nur selten, ungefähr alle sechs Monate einmal, wenn wir uns nicht zufällig begegneten. Am Weihnachtstag speiste ich gewöhnlich mit ihm, wenn er in London war, und einmal lud er mich auch in sein Haus nach Ascot ein. Aber wir fühlten uns im allgemeinen beide nicht wohl bei solchen Zusammenkünften.«

 

»Du müßtest aber eigentlich Mr. Rater noch erklären, daß man nichts an Mr. Linstead aussetzen kann. Er hat nur eine Abneigung gegen junge Damen«, meinte Artur Menden. »Er ist ja ein komischer, alter Herr«, fügte er lachend hinzu, »und ich habe eigentlich keine Ursache, eine Lanze für ihn zu brechen, aber ich bin ihm gegenüber nicht ganz offen gewesen –«

 

»Der Fehler lag ganz auf meiner Seite«, unterbrach ihn Betty.

 

»Seit wann geht es Ihnen denn so gut?« fragte der Redner und zeigte auf die prachtvollen Möbel und die luxuriöse Einrichtung.

 

»Das möchte ich Ihnen ja gerade alles erzählen. Als ich noch in Scotland Yard für Sie arbeitete, bekam ich eines Tages einen dringenden Brief von meinem Onkel, in dem er mich bat, mit ihm zu Abend zu speisen. Ich kannte Artur damals schon; wir sind seit langem miteinander befreundet. Ich traf meinen Onkel also im Carlton, und er machte mir einen merkwürdigen Vorschlag. Er versprach mir, diese Wohnung für mich zu mieten, sie wundervoll einzurichten und mir außerdem eine jährliche Rente von fünftausend Pfund zu zahlen, wenn ich nicht heiraten würde. Zuerst wußte ich nicht, was ich dazu sagen sollte, aber bei der zweiten Zusammenkunft überredete er mich, auf seinen Wunsch einzugehen. Ich glaube, keine junge Dame hätte es sich lange überlegt, ein solches Angebot anzunehmen. Er ist der Bruder meines Vaters; ich bin seine einzige Verwandte und gelte als seine Erbin.«

 

Sie machte eine kleine Pause, bevor sie weitersprach.

 

»Damals machte ich mir keine großen Sorgen über die Bedingung, daß ich mich nicht verheiraten sollte. Ich hatte den Eindruck, daß er mich durch diese Maßnahme vor Unglück und Enttäuschungen bewahren wollte. Aber ich entdeckte bald, daß er die Sache bedeutend ernster nahm, als ich jemals dachte. Er fand heraus, daß ich mit Artur freundschaftlich verkehrte, und engagierte wohl Detektive, um uns zu beobachten. Eines Tages kam er sehr erregt hierher und bat mich aufs neue dringend, weder Artur noch sonst jemand zu heiraten. Hoch und heilig mußte ich ihm versichern, daß ich ihm unbedingt Mitteilung machen sollte, falls ich mich doch einmal in einen Mann verlieben würde und ihn heiraten wollte.«

 

»Kennt Ihr Onkel Mr. Menden?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Er hatte auch nichts gegen ihn, bis er erfuhr, daß ich ihn gern habe.«

 

»Und dann?«

 

»Dann war er schrecklich – er tat alles, was in seiner Macht stand, um Artur zu ruinieren.«

 

Mr. Menden unterbrach sie. Er war ziemlich jung und hatte noch einen ausgesprochenen Sinn für Gerechtigkeit.

 

»Ich glaube nicht, daß man diesen Ausdruck gebrauchen darf. Er bot mir nur eine Stellung in Argentinien an, um mich außer Landes zu bringen. Das kann man nicht gerade ›ruinieren‹ nennen. Natürlich wollte ich nicht, daß Betty ihre hohe Rente verliert, aber zum Glück verdiene ich genug, um uns beide zu unterhalten.«

 

»Dann haben Sie also die Absicht, zu heiraten?«

 

»Wir sind schon seit vier Monaten verheiratet«, erwiderte Betty langsam und sah Mr. Rater furchtsam an.

 

»Donnerwetter!« sagte der Redner.

 

Sie nickte schnell.

 

»Natürlich haben wir heimlich geheiratet, aber …, ich weiß nicht, es war eigentlich nicht recht von mir. Aber ich hatte nicht den Mut, es Onkel Julian zu sagen, und ich bat auch Artur, es ihm zu verschweigen. Heute habe ich ihm nun geschrieben, daß ich morgen heiraten werde. Wir sind nämlich nur auf dem Standesamt gewesen, und ich möchte mich gern noch kirchlich trauen lassen.«

 

»Sie sind also längst verheiratet, stellen Ihrem Onkel gegenüber eine falsche Behauptung auf und wünschen, daß ich Sie aus all diesen Schwierigkeiten und Widersprüchen heraushole?«

 

»Nein, das meine ich nicht«, sagte die frühere Miss Linstead rasch. »Wir haben nicht gegen das Gesetz verstoßen. Unsere Ehe ist vollkommen rechtsgültig. Artur hat sich vorher darüber erkundigt. Und ich habe den speziellen Wunsch, mich auch kirchlich trauen zu lassen – aus einem ganz bestimmten Grund.«

 

Der Redner seufzte schwer.

 

»Das ist ja alles sehr interessant, aber ich sehe noch nicht, wie ich Ihnen helfen könnte.«

 

Die beiden jungen Leute warfen sich einen Blick zu, dann begann Mr. Menden zu sprechen.

 

»Mr. Rater, Betty ist zu der Überzeugung gekommen, daß ihr Onkel nicht mehr ganz normal sein kann. Es ist nicht der Verlust des Geldes, der ihr Sorge macht. Sie fürchtet sich davor, was mir passieren könnte, wenn Julian Linstead von ihrer Verheiratung erfährt. Es ist doch direkt absurd, mit allen Mitteln erzwingen zu wollen, daß Betty unverheiratet bleibt. Sonst ist er wirklich ein sehr umgänglicher und liebenswürdiger Herr, und deshalb kann ich sein Verhalten in dieser Beziehung nicht verstehen. Ich glaube kaum, daß er einen Feind auf der Welt hat, und ich mache mir auch keine Sorgen darüber, was mir geschieht, sondern was er Betty antun könnte.«

 

Allmählich verstand Mr. Rater.

 

»Ach so, Sie wollen polizeilichen Schutz haben?«

 

Die beiden nickten so lebhaft wie zwei furchtsame Kinder, die Sicherheit gefunden haben, und der Redner konnte kaum ein Lachen unterdrücken.

 

»Ich glaube, Sie sind wirklich zu ängstlich«, erwiderte er. »Aber ich will sehen, was ich tun kann.«

 

Es wäre verhältnismäßig einfach gewesen, das Haus bewachen zu lassen, aber er hielt es für überflüssig, die Zeit dreier Beamter für diesen Zweck zu opfern. Seine Sorglosigkeit sollte sich jedoch rächen.

 

*

 

Julian George Linstead war Antiquitätenhändler, der erfolgreich an der Börse spekulierte und es eigentlich nicht mehr nötig hatte, sich um sein Geschäft zu kümmern. Im Grunde liebte er seinen Beruf auch nicht so sehr, aber er hatte nun einmal seine Tatkraft dafür eingesetzt und betrieb ihn aus Gewohnheit weiter.

 

Er war ein Junggeselle von fünfundvierzig Jahren und sah trotz seines etwas verschlossenen und düsteren Wesens sehr gut aus. In seinem äußeren Auftreten war er liebenswürdig, und er hatte auch einen gewissen Sinn für Humor. Zu seinen Gunsten muß noch erwähnt werden, daß er zu allen wohltätigen Sammlungen reichlich beisteuerte, jedoch verlangte, daß sein Name nicht genannt wurde.

 

Er wohnte in der Curzon Street, wo ihn Mrs. Aldred, eine ältere Frau, betreute. Ihr Mann versah die Stelle eines Hausmeisters und Kammerdieners.

 

Mr. Linstead war Mitglied eines vornehmen Klubs, gehörte der Konservativen Partei an und war, soweit man feststellen konnte, in keine Liebesabenteuer verwickelt. Die Schätzung zur Einkommensteuer nahm er als einen Akt des Schicksals hin und führte auch sonst das Leben eines ruhigen und geachteten Bürgers. Das hinderte ihn aber nicht, Erholungsreisen ins Ausland zu machen. Man sah ihn in Deauville und am Lido, wenn die Saison es erforderte, und jährlich brachte er im Winter drei Wochen in St. Moritz zu.

 

Natürlich hatte er auch seine besondere Liebhaberei, und zwar galt sein Spezialinteresse okkulten Dingen. Aus diesem Grunde war er auch ein Freund des Professors Henry Hoylash, der sich nicht nur als Astronom, sondern auch als Astrologe betätigte und häufige Besuche in der Curzon Street machte.

 

Der Professor, ein kleiner Herr mit sanftem Charakter, konnte die Ereignisse der großen Politik mit erstaunlicher Sicherheit voraussagen. In seinen Kreisen war er als der ›Siriusmann‹ bekannt, da alle seine Prophezeiungen in irgendeiner Weise mit diesem Stern zu tun hatten. Zum Ausgangspunkt seiner Berechnungen nahm er stets die Stellung des Sirius zu der Zeit, als die großen Pyramiden in Gizeh gebaut wurden. Die Astrologie hat viele Anhänger; auch Mr. Linstead, der früher nicht einmal gewußt hatte, daß ein Stern Sirius existierte, fühlte sich stark zu ihr hingezogen. Auch Ägypten, das er nur als großes Ausbeutungsobjekt der Firma Thomas Cook & Sons betrachtet hatte, erschien ihm plötzlich in neuem, geheimnisvollem Licht.

 

Und eines Abends überredete Professor Hoylash Mr. Linstead, statt eine Reise in die Schweiz zu machen, einmal nach Ägypten zu gehen.

 

Mr. Rater stellte Nachforschungen an und erfuhr, was allgemein über Mr. Linstead bekannt war. Einer der Detektive lud Mr. Aldred zu einem Glas Whisky-Soda ein, horchte ihn aus und bekam zu hören, daß Mr. Linstead der beste Dienstherr war, den man sich überhaupt wünschen konnte.

 

»Er hat sich allerdings in letzter Zeit viel mit Geistern, Spiritismus und solchem Zeug befaßt. Seitdem er den alten Professor kennt, redet er von ägyptischen Göttern und dergleichen verrückten Dingen. Aber schließlich ist ja jeder Mensch berechtigt, sein Steckenpferd zu haben.«

 

Der Detektiv wollte noch mehr von Mr. Linsteads okkulten Neigungen erfahren.

 

»Da ist weiter gar nichts dabei«, erklärte der Hausmeister. »Es macht ihm eben riesigen Spaß, Horoskope aufzustellen. Mich hat er auch schon gefragt, an welchem Tag und zu welcher Stunde ich geboren bin, ebenso meine Frau. Mehr merke ich nicht davon.«

 

Mr. Linstead schien jedoch seine astrologischen Studien sehr ernst zu betreiben. Er besaß eine umfangreiche Bibliothek okkulter Literatur, hatte sich ein Modell der großen Pyramiden herstellen lassen, das man auseinandernehmen konnte, und brachte abends viele Stunden mit mystischen Berechnungen zu.

 

Der Redner interessierte sich nicht für diese Lieblingsbeschäftigung Mr. Linsteads. Kaum hatte er die nötigen Erkundigungen eingezogen, so vergaß er die ganze Angelegenheit, denn er sah in diesem Fall wirklich nichts Ungewöhnliches. Schließlich durfte sich ein reicher Mann doch um die Verhältnisse seiner Nichte kümmern, die später einmal sein großes Vermögen erben sollte. Er kehrte nach Scotland Yard zurück, unterzeichnete einige Briefe, hörte die Berichte seiner unmittelbaren Untergebenen und ging dann nach Hause.

 

Am Abend legte er sich frühzeitig zur Ruhe, und da er einen gesunden, festen Schlaf hatte, hörte er zunächst das Klingeln des Telefons nicht. Endlich wachte er doch auf, stieg leise fluchend aus dem Bett und ging zum Apparat.

 

»Hier ist Artur Menden«, meldete sich eine heisere, ängstliche Stimme. »Sie erinnern sich doch, daß ich gestern in Bettys Wohnung mit Ihnen sprach?«

 

»Ja – was ist denn los?«

 

Mendens aufgeregter Ton verriet dem Redner sofort, daß etwas Besonderes vorgefallen sein mußte.

 

»Betty ist entführt worden – ich spreche von ihrer Wohnung aus.«

 

»Entführt?« wiederholte Mr. Rater erstaunt und fuhr sich über die Augen, um festzustellen, daß er wirklich wachte. »Zum Donnerwetter, was meinen Sie denn eigentlich? Aber erzählen Sie mir jetzt keine Einzelheiten, ich komme sofort zu Ihnen.«

 

In höchster Eile kleidete er sich an, aber er war nicht wenig ärgerlich, daß ein höherer Polizeibeamter mitten in der Nacht wegen eines solchen Unsinns aus dem Bett geholt wurde.

 

Als er in Bettys Wohnung ankam, fand er Mr. Menden sehr aufgeregt. Bis Mitternacht hatte der junge Mann von ihrem Verschwinden keine Ahnung gehabt.

 

Obwohl die beiden verheiratet waren, wohnten sie doch getrennt. Im allgemeinen brachten sie den Abend miteinander zu, aber diesmal war er auf ihren Wunsch schon eher nach Hause gegangen. Um halb elf wurde er von einem Unbekannten angerufen. Der Mann gab an, im Auftrag der Ingenieurfirma zu sprechen, für die Menden arbeitete, und ersuchte ihn, sofort zum Hause des Seniorchefs in Kingston Hall zu gehen. Es wäre ein Telegramm aus Bermuda eingetroffen, das der Chef mit ihm besprechen wollte. Mr. Menden wußte, daß seine Firma dort zur Zeit einen großen Auftrag ausführte.

 

Er hatte nicht den geringsten Verdacht, nahm eine Autodroschke und fuhr nach Kingston. Als er zum Haus seines Chefs kam, war dort eine Geburtstagsfeier im Gange, und niemand wußte etwas von dem Anruf. Ebensowenig war ein Telegramm aus Bermuda eingetroffen. Erstaunt und verärgert über den schlechten Scherz fuhr Menden zu seiner Wohnung zurück.

 

Viertel vor eins kam er dort an, und schon auf dem Korridor hörte er das Telefon klingeln. Bettys Dienstmädchen war am Apparat. Sie hatte eine ganze Stunde lang versucht, mit ihm in Verbindung zu kommen.

 

Um elf Uhr war Betty angerufen worden, angeblich von dem Portier von Mr. Mendens Haus. Sie sollte sofort zu seiner Wohnung kommen. Er hatte noch mehr gesagt, aber davon hatte ihre Herrin nichts erzählt. Vor dem Haus wartete ein Auto, und das Mädchen sah, daß Betty mit dem Mann sprach, der daneben stand. Darauf wäre Betty eingestiegen und fortgefahren.

 

»Warum haben Sie denn Ihrer Herrin nicht ein Auto besorgt?« fragte der Redner.

 

Sie erklärte, daß Sie nicht angezogen und Betty schon abgefahren war, als sie sich angekleidet hatte. Beim Fortgehen hatte sie ihr nur noch schnell zugerufen, wohin sie fuhr.

 

»Haben Sie den Mann oder den Wagen erkannt?«

 

Sie schüttelte den Kopf. Es war sehr dunkel, aber sie glaubte, daß es ein Rolls Royce gewesen sein müßte. Jedenfalls war es ein großer Luxuswagen.

 

Sie blieb nun auf, um auf die Rückkehr ihrer Herrin zu warten. Als diese um zwölf noch nicht wieder erschienen war und auch nicht angerufen hatte, wurde sie ängstlich und klingelte bei Menden an, erhielt aber keine Antwort.

 

Weitere Auskunft konnte sie nicht geben.

 

»Julian Linstead steckt dahinter, es kann sonst niemand sein«, sagte Artur nervös und aufgeregt. »Ich habe auf Sie gewartet, Mr. Rater, sonst wäre ich schon persönlich zu seiner Wohnung gefahren.«

 

Der Redner konnte auch keine andere Erklärung für das Verschwinden der jungen Dame finden. Sie hatte keine Freunde in London, und auf keinen Fall wäre sie allein mit einem Fremden fortgefahren.

 

Ein schwacher Anhaltspunkt ergab sich aus der Tatsache, daß sie Schlafanzug, Morgenrock, Pantoffeln und Toilettengegenstände mitgenommen hatte.

 

Kurz darauf trafen Mr. Rater und Artur Menden bei Mr. Linstead ein. Sie klopften eine Zeitlang an der Tür, bis der Hausmeister schließlich im Schlafrock öffnete.

 

Mr. Aldred hatte seine äußere Erscheinung etwas zu auffällig in Unordnung gebracht, um glaubhaft vorzutäuschen, daß er eben aus dem Schlaf gerissen worden sei. Das Haar hing ihm wirr ins Gesicht, und der Redner bemerkte außerdem sofort, daß die Schuhe des Mannes vollkommen zugeschnürt waren.

 

»Nein, Mr. Linstead ist nicht zu Hause. Er ist heute morgen fortgefahren. Soviel ich weiß, ist er nach Paris gereist.«

 

Er sprach etwas zu laut, und Mr. Rater sah ihn scharf an.

 

»Ich bin Polizeibeamter«, sagte er nur und beobachtete, daß die Augenlider des Hausmeisters nervös zuckten. »Ich möchte einen Brief an Mr. Linstead schreiben. Lassen Sie mich bitte herein.«

 

Mr. Aldred nickte stumm, führte ihn in das vornehme Arbeitszimmer und drehte das Licht an. Der Redner setzte sich an den Schreibtisch, sah sich im Zimmer um, bückte sich dann und nahm den Papierkorb auf. Darin fand er zwei zusammengeknitterte Briefumschläge, legte sie auf den Tisch und glättete sie. Der eine war von Betty adressiert und am vergangenen Vormittag aufgegeben worden.

 

Mr. Rater winkte den Hausmeister zu sich.

 

»Dieser Brief wurde heute morgen an Mr. Linstead abgeschickt und ist heute nachmittag hier angekommen. Wer hat ihn denn geöffnet?«

 

Der Mann schluckte verlegen, sagte aber nichts.

 

»Dr. Linstead hat das Schreiben erhalten und gelesen«, fuhr Mr. Rater fort. »Er kann also nicht heute morgen nach Paris gefahren sein.«

 

Mr. Aldred war in die Enge getrieben und wußte nichts zu erwidern.

 

»Wohin ist Mr. Linstead gegangen?«

 

Der Hausmeister schüttelte nur den Kopf und murmelte zusammenhanglose Worte. Offenbar wußte er darüber auch nichts Genaueres. Er sagte schließlich, daß Mr. Linstead zwei Häuser auf dem Lande besäße und manchmal dorthin führe. Das eine lag in Brighton, das andere in Sunningdale. Außerdem hatte sein Herr einen Bungalow an der Themse, dessen Lage Aldred aber nicht kannte. Und die Themse war ein langer Fluß, wie der Redner ironisch bemerkte, an dem viele Villen und Bungalows reicher Leute standen.

 

Mr. Rater fragte auch die anderen Dienstboten aus, konnte aber nichts von ihnen erfahren. Wenn jemand etwas über Mr. Linsteads Aufenthalt wußte, so war es Mr. Aldred, aber der hüllte sich in Schweigen. Schließlich schickte ihn der Chefinspektor weg und beriet sich mit Mr. Menden.

 

»Meiner Meinung nach ist die Sache nicht so ernst, wie Sie annehmen. Aber ich werde schon mehr herausbringen, wenn ich mir diesen Hausmeister einmal vornehme. Gehen Sie eine Stunde lang spazieren und kommen Sie dann wieder. Sie wissen wohl, daß ich in dieser Angelegenheit keinen amtlichen Auftrag habe und daß ich mich den größten Schwierigkeiten aussetze, wenn ich noch weitere Schritte unternehme.«

 

Als sich der junge Mann entfernt hatte, rief der Redner Mr. Aldred und gab sich eine halbe Stunde lang mit ihm ab. Er verhörte ihn in der schärfsten Weise, durchsuchte die offenen Schubladen des Schreibtisches und nahm endlich ein paar Bände von Mr. Linsteads okkultistischen Büchern vom Regal. Als er darin blätterte, lernte er Teufel und Götter kennen, von deren Existenz er bisher keine Ahnung gehabt hatte. Aber seine hauptsächlichste Entdeckung machte er in einem Fach des Schreibtisches.

 

Als Artur Menden zurückkam, hatte Mr. Rater seine Nachforschungen zu einem gewissen Abschluß gebracht und sich eine Meinung gebildet.

 

»Ich glaube nicht, daß Ihrer jungen Frau eine Gefahr droht. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, gehen Sie jetzt ruhig nach Hause und legen sich schlafen. Ich warte hier, bis Onkel Julian auftaucht.«

 

»Wissen Sie denn, wo er sich augenblicklich aufhält?«

 

Der Chefinspektor schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, aber darauf kommt es im Moment auch gar nicht an«, erwiderte er kurz.

 

Menden verabschiedete sich widerwillig von ihm, aber er war zu aufgeregt, um sich zur Ruhe zu legen. Als der Redner später zum Fenster hinausschaute, sah er den jungen Mann auf der anderen Seite der Straße auf- und abgehen.

 

Um halb sieben Uhr morgens hörte Mr. Rater, daß jemand das Haustor aufschloß, kam dem Hausmeister zuvor und schickte ihn wieder in sein Zimmer zurück. Dann öffnete er schnell die Tür.

 

Julian Linstead sah übermüdet aus und war so schläfrig, daß er nicht einmal bemerkte, daß ein Fremder in der Halle stand. Er ging an ihm vorbei und begab sich sofort in sein Arbeitszimmer. Dort wunderte er sich über den Zigarrenrauch, der von Mr. Raters Zigarre herrührte, und als er sich umwandte, stand der Chefinspektor vor ihm.

 

»Was – was ist denn passiert?« fragte er mit stockender Stimme.

 

»Ich bin Ihretwegen hier!«

 

Linstead erkannte ihn plötzlich.

 

»Sie sind doch Mr. Rater von Scotland Yard?« erwiderte er erregt und nervös.

 

Der Redner nickte.

 

»Wo ist Miss Linstead?« fragte er dann kurz.

 

»Meinen Sie meine Nichte?« Julian gab sich alle Mühe, unbefangen zu erscheinen. »Um Himmels willen, ist ihr etwas zugestoßen? Aber woher soll ich denn das wissen?«

 

»Wo ist sie?«

 

»Ich schwöre Ihnen –«

 

»Lassen Sie doch diese Mätzchen, Mr. Linstead«, entgegnete der Redner ärgerlich. »Ich bin nicht die ganze Nacht aufgeblieben, damit Sie mir hier schließlich Märchen vorerzählen. Sie ist in Ihrem Bungalow an der Themse, das ist ganz klar. Ich weiß nur nicht genau, wo er liegt. Aber wenn ich nach Scotland Yard gehe, kann ich das schnell genug herausbekommen!«

 

Mr. Linstead sah ihn bleich und verstört an.

 

»Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig«, sagte er und schien plötzlich um Jahre gealtert zu sein. »Sie ist tatsächlich dort, wo Sie sagen, aber sie ist sicher, und es geht ihr gut. Ich habe sie am Abend dorthin gebracht und eine Krankenwärterin aus der Irrenanstalt engagiert, die sie betreut. Es wird ihr nichts passieren, und ich hoffe, daß sie zur Vernunft kommt ich will damit gerade nicht sagen, daß sie geisteskrank ist«, fügte er schnell hinzu, »nur …«

 

»Nur achten Sie viel zu sehr auf das, was Ihr verrückter Freund, dieser Professor Hoylash, sagt«, entgegnete der Redner ruhig.

 

Julian Linstead schaute schnell auf.

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Und aus diesem Grund wollen Sie auch Ihre Nichte daran hindern, zu heiraten. Nun, ich kann Ihnen etwas mitteilen, das Sie sicher sehr interessiert: Sie ist längst verheiratet!«

 

In Mr. Linsteads Blick zeigten sich Angst und Entsetzen.

 

»Was – sie ist verheiratet?« fragte er mit heiserer Stimme.

 

»Ja, bereits vor vier Monaten ist sie standesamtlich getraut worden.«

 

Der Schrecken wich allmählich wieder aus Linsteads Zügen, und schließlich seufzte er erleichtert auf.

 

»Vor vier Monaten schon? Aber das ist doch unmöglich –«

 

»Es ist nichts unmöglich. Nur die Horoskope stimmen manchmal nicht. Ich habe etwas in Ihren Büchern gelesen, und das übrige konnte ich mir zusammenreimen. Außerdem habe ich zwei Horoskope in Ihrem Schreibtisch gefunden, die Professor Hoylash aufgestellt hat – das eine für Sie, das andere für Ihre Nichte. Der gute Mann hat ausgerechnet, daß Sie an dem Hochzeitstag Ihrer Nichte sterben würden. Und vier Monate nach diesem gefährlichen Zeitpunkt sind Sie noch munter und vergnügt am Leben!«

 

»Aber sie hat mir doch nie gesagt, daß sie … Warum hat sie mir denn dann geschrieben, daß sie morgen – in einer Kirche heiraten würde?«

 

»Sie wird schon ihren Grund dafür haben«, erwiderte der Redner trocken. »Es sollte mich nicht wundern, wenn Sie bald Großonkel würden.«