Geschmuggelte Smaragde

 

Chefinspektor Rater hatte einen Freund beim Finanzamt, der beinahe ebenso schweigsam war wie er selbst. Wenn er sich einmal erholen wollte, machte er mit diesem Mann weite Spaziergänge. Manchmal ließ Mr. Rater dann im Laufe des Tages die Bemerkung hören, daß es nach Regen aussähe, und beim nächsten Ausflug tat sein Freund eine ähnliche Äußerung. Gelegentlich sagte auch der Beamte vom Finanzamt, daß sie wahrscheinlich den falschen Weg gegangen wären, aber gewöhnlich nahmen sie den richtigen und hatten also keine Veranlassung, darüber zu reden. Zuweilen brachten die beiden Freunde das ganze Wochenende miteinander zu. Dann saßen sie in einem flachen Boot, das am Ufer festgebunden war, und machten schweigend Jagd auf die stummen Fische.

 

Ein gewisser Mark Ling, der hauptberuflich ein Verbrecher war, besaß in der Nähe von Marlow eine Villa, und es war sein Lieblingstraum, daß der Chefinspektor eines guten Tages mit dem Kahn umkippen und ertrinken möchte. Stundenlang lag er flach auf der Wiese, drückte sich ins Gras und beobachtete die beiden reglosen Gestalten, die wie holzgeschnitzte Götterstatuen in ihrem Fahrzeug saßen. Aber das Schicksal erfüllte seinen Wunsch nicht, obwohl er schon einen Bootshaken mitgebracht hatte, um den verhaßten Mr. Rater auch lange genug unter Wasser zu halten.

 

Manchmal hatte Mr. Ling selbst Besuch. Steiny Lamb hatte manche Interessen mit ihm gemeinsam, und sie sprachen meist über geschäftliche Angelegenheiten. Und zwischen ernsthaften Unterhaltungen über Nachschlüssel, Fensteröffner und die beste Art, Polizeistreifen aus dem Weg zu gehen, lagen sie lange Zeit im Grase und beobachteten Mr. Rater und seinen Freund.

 

»Man kann ja sein eigenes Wort nicht verstehen bei dem vielen Gerede«, meinte Mark ironisch. »Ich möchte nur wissen, wer der andere Kerl ist.«

 

»Der sieht nicht so aus, als ob er von der Polente wäre«, entgegnete Steiny.

 

»Polypen befreunden sich nicht miteinander«, erklärte Mark. »Sie trauen einander nicht, weil sie sich zu gut kennen.«

 

Mark hatte auch eine Stadtwohnung in Soho. Er gehörte nicht zu den Verbrechern, die drei Monate des Jahres in Armut und Schmutz zubringen, vierzehn Tage in Saus und Braus leben und die übrigen achteinhalb Monate im Gefängnis sitzen. Im Gegenteil, Mark Ling verdiente dauernd viel Geld. Er ließ seine Pläne durch kleinere Leute ausführen, hinter denen er sich versteckte. Auch Steiny war für ihn tätig; aber er war etwas zu neugierig.

 

»Wer hat denn neulich das Ding in Leicester gedreht?« fragte er bei seinem Besuch in Marlow.

 

Mark sah ihn böse an. Die Sache in Leicester war eine unangenehme Angelegenheit. Fast ein volles Jahr hatte er damit zugebracht, alle Einzelheiten über die berühmte Gürtelschnalle der Familie Couper in Erfahrung zu bringen, und dann war ihm ein anderer zuvorgekommen und hatte ihm das Stück vor der Nase weggeschnappt. Es waren vierzehn Brillanten auf der Schnalle, und jeder Stein hatte etwa vierzehn Karat. Alle Juweliere kannten das Stück.

 

»Ich weiß es nicht, aber ich vermute, daß es die Birmingham-Bande war«, erwiderte Ling ärgerlich. »Und ich bin froh, daß ich nichts damit zu tun habe. Ich möchte nur wissen, wie die Kerle die Steine aus dem Lande schaffen wollen! Wer das versucht, legt sich ja selbst den Strick um den Hals.«

 

Es gab nur wenig Leute, die etwas von Mark Lings eigentlicher Tätigkeit ahnten. Er war mehr als nur ein tüchtiger Einbrecher, er war auch der Schlaueste, wenn es galt, die Beute zu veräußern. Er konnte gestohlene Juwelen ins Land und ebenso über die Grenze schmuggeln; er kannte alle bedeutenden Hehler auf dem Festland und wußte immer, wo die gestohlenen Dinge den besten Unterschlupf fanden. Innerhalb weniger Tage konnte er gestohlene englische Banknoten, deren Nummern notiert waren, in einem Dutzend fremder Städte unterbringen.

 

Bei seinen Auftraggebern stand er jedoch nicht in dem besten Ruf, denn Steine und Geld verschwanden manchmal bei dem Transport. Die Leute gaben sich nach außen hin mit der Erklärung zufrieden, daß er die Polizei auf dem Festland hätte bestechen müssen, aber sie waren gewarnt und beschäftigten ihn nicht so leicht wieder. In gewisser Weise hatten sie ihn jedoch sehr nötig, denn Postpakete nach Brüssel, Antwerpen und Amsterdam werden häufig von den Zollbeamten geöffnet, und auf diese Weise waren schon viele unrechtmäßig erworbene Schmuckstücke verlorengegangen.

 

Mark machte aber trotzdem Geschäfte, da er drei verschiedene Sprachen beherrschte, zu reisen verstand und besser als jeder andere mit Zollbeamten fertig wurde.

 

Aber einmal betrog er einen kleinen Hehler in Newcastle, und der merkte sich die Sache.

 

In Scotland Yard gab man sich die größte Mühe, den Verbleib der berühmten Gürtelschnalle ausfindig zu machen. Man hätte das kaum glauben sollen, wenn man den Redner beim Angeln sah.

 

Steiny war ziemlich klein und hatte ein faltiges, pockennarbiges Gesicht. Außerdem besaß er zwei Untugenden: Er schwätzte, und er war neugierig, besonders neugierig wegen eines kürzlich verübten Einbruchs, bei dem äußerst wertvolle Schmuckstücke gestohlen worden waren.

 

»Bei der Sache in Burrow Hill waren Sie doch auch dabei, Mr. Ling?«

 

Mark maß ihn mit einem kalten Blick.

 

»Wer hat Ihnen denn den Bären aufgebunden?«

 

Steiny entschuldigte sich sofort.

 

»Sie wissen doch, daß viel geredet wird. Aber ich will Ihnen lieber die Wahrheit sagen, Mr. Ling. Ich sah, wie Sie aus dem St.-Pancras-Bahnhof kamen, am Morgen, nachdem das Ding gedreht wurde, und da habe ich mir eben die Geschichte zusammengereimt.«

 

»Merkwürdig, daß Sie immer die verkehrten Schlußfolgerungen ziehen«, erwiderte Mark lächelnd. »Übrigens, was diesen Geldverleiher betrifft… Ich kann Ihnen die Werkzeuge und alles Nötige beschaffen, und ich kann Ihnen auch sagen, wo Sie einen Wagen bekommen. Wieviel Leute brauchen Sie denn dazu?«

 

Steiny überlegte und meinte, daß drei genügen würden.

 

Für die Beschaffung der Werkzeuge und des Wagens partizipierte Ling an dem Gewinn solcher Unternehmungen, an denen er persönlich nicht teilnahm.

 

»Hoffentlich nehmen Sie mir nicht übel, was ich vorhin sagte«, bat Steiny, der wohl bemerkte, daß die Situation gespannt war. »Sie sind ein großer Mann, und ich möchte gern weiter mit Ihnen arbeiten. Sie fahren auch nicht schlecht dabei. Ich kenne mehr Leute im Fach als Sie, vor allem einen Hehler, von dem Sie sicher noch nie etwas gehört haben. Darauf gehe ich jede Wette mit Ihnen ein. Ich bin der einzige, der ihn ausfindig gemacht hat und seine Methoden kennt.«

 

»Wenn ich Ihren Rat und Ihre Kenntnis brauche, werde ich mich schon bei Ihnen erkundigen.

 

»Ich wollte eigentlich nur sagen, daß ich Sie neulich abends sah …«, begann Steiny.

 

»Sie sehen verdammt viel«, brummte Mark mit einem bösen Lächeln.

 

Eine Woche später traf Steiny mit zwei Kollegen in der Nähe von Soho Square zusammen. Von dort begaben sie sich auf verschiedenen Wegen zu dem Geschäft eines Geldverleihers.

 

Es war Samstagabend und das Haus daher wohlverschlossen. Mark hatte die Sache ausfindig gemacht und den Plan für den Einbruch zusammengestellt. Steiny ging mit seinen Freunden in eine Seitenstraße, um von der Hinterseite aus in das Haus einzudringen. Kaum zwölf Schritte entfernt stand ein Lieferauto, das in großen Buchstaben den Namen einer Dampfwäscherei trug. Aber das einzige Leinenzeug, das der Wagen enthielt, gehörte elf Polizisten vom Überfallkommando.

 

Nachher gab es eine kleine Rauferei, wobei Steinys Partei den kürzeren zog.

 

»Na, da ist also nichts zu machen, Mr. Rater«, meinte er. »Das war eine abgekartete Sache, um uns hereinzulegen. Aber seit wann sind Sie denn beim Überfallkommando? Bei der Polizei kennt man sich doch nie aus. Jeden Tag stecken Sie woanders.«

 

Der Redner schwieg.

 

»Machen Sie es gnädig, Mr. Rater«, bat Steiny. »Wir haben ja noch nichts Böses getan – können Sie mich nicht nach der neuen Verordnung anzeigen?«

 

Der Chefinspektor war in guter Stimmung. Bei der Anklage gegen Steiny wurde zum Ausdruck gebracht, daß man ihn gefangengesetzt hatte, um ein Verbrechen zu verhüten. Dabei kam er glimpflicher davon, als wenn man ihn verhaftet hätte wegen Umhertreibens mit der Absicht, einen Einbruch zu begehen.

 

Während der Verhandlung sah sich Steiny von der Anklagebank aus im Saal um. Unter anderen Bekannten entdeckte er auch Mark, der wieder sehr elegant gekleidet war und eine neue Freundin hatte, eine hübsche, schlanke junge Dame. Mark verstand es immer, die Bekanntschaft hübscher Damen zu machen. Er schaute zu Steiny hinüber. Aber dieser tat so, als ob er ihn nicht bemerkte.

 

Er hatte schon von Mr. Lings neuer Freundin gehört, denn Mark sprach gern über seine Eroberungen. Das war also die junge Dame, deren Vater ein Juweliergeschäft besaß. Steiny interessierte sich für den Fall. Nachdem ihm seine Strafe zudiktiert worden war, sah er den Chefinspektor.

 

»Sagen Sie mir doch nur, wer mich verpfiffen hat.«

 

Aber der Redner schüttelte nur mißbilligend den Kopf.

 

»Ich wette mit Ihnen, es war ein hübscher, eleganter Kerl, der immer den Kavalier spielt und hinter den Mädels her ist.«

 

Steiny wollte verzweifeln, als der Redner nicht das geringste Wort sagte.

 

»Donnerwetter, Mr. Rater, ich glaube, Sie sprechen nicht einmal im Schlaf!«

 

»Bloß keine große Lippe riskieren«, ermahnte ihn der Chefinspektor sanft.

 

Es gab nur einen »hübschen, eleganten Kerl« in der Verbrecherwelt, und das war Mark Ling. Der Redner wußte sehr gut, daß Mark der Polizei den geplanten Einbruch bei dem Geldverleiher verraten hatte. Wenn er auch nur den geringsten Zweifel gehabt hätte, daß Mark an dem Diebstahl der Couperschen Gürtelschnalle beteiligt war, hätte er die Sache verfolgt; aber Marks Alibi war unanfechtbar.

 

»Wissen Sie etwas über die Couper-Brillanten, Steiny?«

 

»Nein, und wenn ich etwas wüßte, würde ich Ihnen nichts davon erzählen«, erwiderte der kleine Mann. »Ich gehöre nicht zu den Angebern.«

 

Dann lachte er plötzlich laut auf und lachte immer weiter, so daß der Redner schon glaubte, der Gefangene hätte einen hysterischen Anfall bekommen.

 

»Schon gut, Mr. Rater«, sagte Steiny und trocknete sich die Augen. »Es ist nur ein kleiner Scherz – ich danke Ihnen auch für alles, was Sie für mich getan haben.«

 

Vom Polizeigericht ging Mark mit seiner hübschen Begleiterin nach Westen zu. Pauline war die Tochter des angesehenen Juweliers Eddering. Mark hatte ihre Bekanntschaft in einem Kino gemacht.

 

»Es war doch traurig zu sehen, daß der arme Mann verurteilt wurde«, meinte sie.

 

Er lachte.

 

»Es ist Ihre eigene Schuld, ich hätte Sie ja niemals mitgenommen. Aber Sie sagten doch, daß Sie noch nicht auf dem Polizeigericht waren und gern einmal einer Verhandlung beiwohnen möchten.«

 

Sie seufzte schwer.

 

»Ich hätte nicht daran gedacht, hinzugehen, wenn Sie nicht gesagt hätten, daß Ihre Anwesenheit dort notwendig wäre. Ich weiß nicht, was für einen seltsamen Einfluß Sie auf mich ausüben.«

 

Sie sprach manchmal wie eine Romanfigur, aber auf Mark machten ihre Worte immer großen Eindruck.

 

»Wann fahren Sie ins Ausland?« fragte sie plötzlich.

 

»Nächsten Freitag.«

 

Er hatte jedoch die Absicht, London schon am Donnerstag zu verlassen, weil er Steinys wegen nicht ganz sicher war. Außerdem war er sehr unruhig, weil sein Haus schon zweimal von Beamten der Kriminalpolizei aufgesucht worden war. Es paßte ihm gar nicht, daß die Leute sich so eingehend beim Portier nach seinem jeweiligen Aufenthaltsort erkundigt hatten. Zu seinem Bedauern erkannte er, daß er die kleine Villa in der Nähe von Marlow würde aufgeben müssen.

 

Die junge Dame seufzte wieder.

 

»Ich wünschte, Sie würden nicht fortfahren. Freitag bin ich nämlich ganz allein zu Hause und muß über diesem entsetzlichen Laden schlafen. Mein Vater reist nach Manchester, und ich fürchte mich schrecklich vor dem Alleinsein. Wenn ich daran denke, daß ein Einbrecher ins Haus kommt … Vor dem Gericht haben wir doch eben gesehen, was alles möglich ist. Der Safe ist nicht sehr sicher, den kann jeder aufbrechen. Wenn mein Vater doch nur die Smaragde zur Bank bringen wollte! Dann würde ich mich viel wohler fühlen …«

 

Sie brach plötzlich ab, als ob ihr zum Bewußtsein gekommen wäre, daß sie zuviel gesagt hatte.

 

»Von den Smaragden hätte ich Ihnen nichts erzählen sollen«, sagte sie bedauernd. »Aber es ist doch wirklich zu lächerlich. Da liegen nun für siebzehntausend Pfund Steine in dem dünnen Blechschrank!«

 

Er fragte sie nicht danach aus, im Gegenteil, er schien nicht das geringste Interesse für die Sache zu haben.

 

»Das ist allerdings viel Geld – Ihr Vater muß ziemlich reich sein.« Mehr erwiderte er nicht darauf.

 

»Reich! Ich zweifle, ob mein Vater überhaupt tausend Pfund wirkliches Vermögen hat! Diese Smaragde wurden ihm ja nur von einer russischen Dame übergeben. Sie wollte sie neu fassen lassen. Das war vor zwei Jahren, und seitdem haben wir nie wieder etwas von ihr gehört. Mein Vater glaubt, daß sie nach Rußland zurückgegangen und daß sie dort eingesperrt worden ist.«

 

Mark begleitete sie nach Hause und traf dort ihren Vater. Es war das zweitemal, daß er mit dem Juwelier zusammenkam. Mr. Eddering war ein ältlicher, etwas gebeugter Mann, der sich kaum für seine Tochter, noch viel weniger für ihren Freund zu interessieren schien.

 

Der Laden war klein, aber das Geschäft in billigen Schmuckstücken ging ziemlich gut. Mark betrachtete nun zum erstenmal den Geldschrank mit kritischen Blicken. Das verhältnismäßig altmodische Stück stand unter dem Kassentisch. Erfahrene Geldschrankknacker konnten diesen Safe beinahe mit einem starken Taschenmesser öffnen.

 

»Das Geschäft geht sehr schlecht«, brummte Mr. Eddering und schüttelte den Kopf. Er hatte immer etwas auszusetzen. »Heute habe ich erst zwei Paar Trauringe verkauft.«

 

»Ich erzählte Mr. Lewis« – unter diesem Namen hatte sich Mr. Ling Pauline vorgestellt – »von der russischen Dame und den Smaragden, die sie dir gegeben hat«, erklärte seine Tochter, als sie sich an den Teetisch setzten. Ein Gehilfe betreute währenddessen den Laden.

 

Der Juwelier rieb ärgerlich das unrasierte Kinn.

 

»Ich möchte gern wissen, wie eigentlich die juristische Lage in diesem Fall ist«, sagte er und schaute mit gerunzelter Stirn zu Mark hinüber. »Einige meiner Geschäftsfreunde meinen, ich müßte in den Zeitungen inserieren, daß ich die Steine verkaufe, um meine Arbeit bezahlt zu machen. Aber das erscheint mir doch etwas zu rigoros. Die Rechnung beträgt kaum zwanzig Pfund.«

 

»Ich liebe Smaragde sehr – könnte ich die Steine vielleicht einmal sehen?« fragte Mark gleichgültig.

 

Mr. Eddering warf ihm einen mißmutigen Blick zu und schüttelte den Kopf.

 

»Das geht nicht. Sie sind alle schon für die Dame eingepackt, und ich kann das versiegelte Paket nicht wieder öffnen.«

 

»Sind sie denn versichert?«

 

Der Juwelier sah ihn geringschätzig an.

 

»Glauben Sie, ich wäre so dumm, derartig kostbare Juwelen nicht zu versichern?«

 

Später ging er in seinen Laden und ließ die beiden allein.

 

»Manchmal kommt es mir wirklich so vor, als ob mein Vater nicht mehr ganz bei Verstand wäre«, sagte Pauline ratlos. »Sehen Sie sich das einmal an.« Sie zeigte aus dem Fenster auf den kleinen Hof, der hinter dem Haus lag.

 

Dort befand sich eine Mauer, die kaum mehr als zwei Meter hoch war.

 

»Jeder kann doch über die Mauer klettern und im Handumdrehen durch das Fenster steigen. Nicht einmal Alarmglocken hat er anbringen lassen. Manchmal fürchte ich mich tatsächlich zu Tode. Mein Vater hat zwar einen Revolver, aber ich glaube, wenn es darauf ankommt, gebraucht er ihn nicht einmal.«

 

»Er sollte Sie nicht allein lassen«, erwiderte Mark kopfschüttelnd. »Wer schläft denn außer Ihnen noch im Haus?«

 

Er erfuhr, daß das junge Dienstmädchen im Erdgeschoß eine Stube hatte, aber sie war selbst so furchtsam, daß sie sich jede Nacht einschloß. Außerdem wohnte noch ein ziemlich alter Portier im Souterrain.

 

»Natürlich haben wir Telefon, aber das ist hier unten in diesem Zimmer. Was soll ich machen, wenn ich nachts aufwache und höre, daß Leute im Laden sind?«

 

»Furchtbar einfach – Sie reißen das Fenster auf und rufen um Hilfe.«

 

»Dazu hätte ich wohl kaum den Mut«, sagte sie zitternd. »Ich glaube, ich würde den Kopf unter die Decke stecken und warten, bis sie gegangen sind.«

 

Mark blieb noch eine Stunde. Als er das Haus verließ, bemerkte er zu seinem Schrecken, daß auf der anderen Seite der Straße ein Beamter von Scotland Yard stand, und zwar einer der besten Leute des Chefinspektors Rater.

 

Mark ging einige Schritte weiter und hoffte, daß er nicht beobachtet worden war. Aber nach kurzer Zeit traf er einen zweiten Detektiv. Er stieß beinahe mit ihm zusammen und wurde erkannt.

 

»Hallo Mark«, sagte der Mann freundlich. »Haben Sie Einkäufe gemacht?«

 

Die vertrauliche Anrede beleidigte Mr. Lings Feingefühl. Er war noch niemals in den Händen der Polizei gewesen, und wenn er auch unter noch so großem Verdacht stehen mochte, hatte doch ein seiner Meinung nach drittklassiger Detektiv noch nicht das Recht, ihn beim Vornamen anzureden. Es war wirklich Zeit, den Schauplatz seiner Tätigkeit in ein anderes Land zu verlegen, wo sich die Polizei höflicher benahm. Ohne ein Wort zu erwidern, ging er weiter.

 

Am Abend fuhr er nach Marlow, suchte dort das Wichtigste zusammen und kehrte wieder in seine Londoner Wohnung zurück. Hier packte er einen Koffer und schickte ihn durch einen Träger zur Aufbewahrung auf den Bahnhof.

 

Es war eigentlich nicht seine Absicht gewesen, England allein zu verlassen, aber Miss Eddering hatte merkwürdig altmodische Ansichten und glaubte nicht, daß ein junges Mädchen allein mit ihrem Freund nach Belgien und Frankreich reisen könnte. Es wäre ihm vielleicht gelungen, sie trotzdem zu überreden, aber jetzt hatte sich die Lage geändert. Wenn die Polizei ihn verfolgte, war Pauline höchstens ein Hindernis für ihn.

 

Am nächsten Nachmittag traf er sie und stellte mit Befriedigung fest, daß er seine Pläne nicht zu ändern brauchte. Mr. Eddering fuhr nicht am Freitag, sondern schon am Mittwoch nach Manchester. Das paßte Mark vorzüglich, denn er hatte für Donnerstag eine Kabine belegt.

 

»Ich habe mich entschlossen, am Donnerstag nicht im Hause zu bleiben«, sagte sie. »Nach Ladenschluß gehe ich zu einer Freundin. Ich könnte es nicht allein aushalten.«

 

»Hoffentlich hat Ihr Vater einen besonderen Wachtmann für die Nacht engagiert, wenn Sie fortgehen«, erwiderte er in scheinbar besorgtem Ton.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Er ist schrecklich geizig. Es ist mir sehr unangenehm, daß ich das von meinem eigenen Vater sagen muß. Er verläßt sich auf diesen alten, schwachen Safe.« –

 

Am Abend klingelte es an Mark Lings Wohnungstür, und er ging selbst, um nachzusehen. Als er öffnete, sah er den einzigen Mann in der Welt vor sich, dem er nicht begegnen wollte.

 

»Kann ich näher treten?« fragte der Redner.

 

Mark machte die Tür weiter auf und ließ Mr. Rater ein. Er mußte seine ganze Willenskraft zusammennehmen, um sich nicht von hinten auf den Mann zu stürzen, als er ihm ins Wohnzimmer folgte.

 

»Ganz allein?« erkundigte sich Mr. Rater.

 

Mark nickte.

 

»Ich wollte Sie einmal wegen der Couper-Brillanten fragen.«

 

»Sie wissen doch ganz genau, daß ich mit der Sache nichts zu tun habe«, erwiderte Mark grinsend. »Ich habe mich noch nie an solchen unsauberen Geschichten beteiligt. Warum die Polizei auf den Gedanken gekommen ist, daß ich ein Verbrecher bin, kann ich überhaupt nicht verstehen. Ich bin doch noch niemals verhaftet worden …«

 

»Die meisten Leute, die an den Galgen kommen, haben früher noch nicht im Gefängnis gesessen.«

 

Mark lachte.

 

»Nun, Sie werden mich doch nicht gleich aufhängen wollen!«

 

Mr. Rater setzte sich an den Tisch und blätterte in seinem Notizbuch.

 

»Ich weiß genau, daß Sie nicht in Mittelengland waren, als der Einbruch verübt wurde, aber ich habe trotzdem das Gefühl, daß Sie die Hand im Spiel hatten. Ich möchte Ihnen offen sagen, warum ich herkomme. Ich brauche die Steine, und ich bin in der Lage, eine große Summe zu bezahlen, wenn ich sie zurückbekommen kann.«

 

»Dann müssen Sie sich aber wirklich an eine andere Adresse wenden«, entgegnete Mark erleichtert.

 

Er konnte auch beruhigt sein, denn dieses eine Mal stand er unter dem Verdacht, ein Verbrechen begangen zu haben, an dem er tatsächlich unschuldig war.

 

»Ich glaube, Sie haben eine vollkommen verkehrte Meinung. Sie denken, weil Sie noch nicht verhaftet waren, werden Sie nicht schwer bestraft, wenn wir Sie einmal fassen?«

 

»Da siebt man wieder einmal, welche Vorurteile die Polizei hat«, sagte Mark ironisch. »Wenn ich wegen der Couper-Brillanten eine lange Strafe bekomme, werde ich das Opfer einer schamlosen Polizeimache.«

 

Er atmete auf, als Rater gegangen war. Die letzten Vorbereitungen zu seiner Abreise waren getroffen. Am Donnerstagabend ging er bei Einbruch der Dunkelheit zu dem Juweliergeschäft. Der Rolladen war heruntergelassen und die Tür fest verschlossen. In keinem der oberen Räume brannte Licht.

 

Mark schlenderte durch die hintere Straße, bis er an die niedrige Mauer kam. Er sah sich vorsichtig um, konnte aber niemand entdecken. Wenige Augenblicke später stand er in dem Hof, denn er war ein gewandter Kletterer.

 

Das hintere Fenster ließ sich leicht öffnen, und er stieg in das Speisezimmer ein, in dem es nach Mr. Edderings Pfeifenqualm roch.

 

Die Tür, die zum Laden führte, war verriegelt, aber nicht verschlossen. Mark horchte an dem Eingang zum bewohnten Teil des Hauses und drückte dann behutsam die Klinke herunter. Die Tür war verschlossen, und darüber war er nur froh. Er gebrauchte eine kleine Taschenlampe, die er an dem obersten Knopf seiner Weste befestigte, als er sich an den Safe machte. In aller Ruhe nahm er eine der Birnen aus dem Kronleuchter und schraubte den Kontakt seines elektrischen Bohrers ein. Nach dreiviertel Stunden hatte er das Schloß bewältigt, und mit einem Ruck öffnete er die Tür. Nachdem er viele Geschäftsbücher herausgenommen hatte, entdeckte er eine kleine Schublade, die nicht einmal verschlossen war. Dort fand er ein flaches, sorgfältig versiegeltes Päckchen. Auf dem Etikett stand »Prinzessin Suwarow – neugefaßte Smaragde«.

 

Er ließ es in seine Tasche gleiten und untersuchte auch noch den Rest des Schrankinhalts. Aber es war nichts mehr darunter, was das Mitnehmen gelohnt hätte.

 

Er schloß die Schranktür, schraubte den Bohrer ab und verließ das Haus auf demselben Weg, auf dem er gekommen war. Vorher verriegelte er die Ladentür wieder und schloß auch das Fenster, ehe er in den Hof hinuntersprang.

 

Als er die Hauptstraße wieder erreichte, sah er auf seine Uhr. Sie zeigte zwanzig Minuten vor zehn. Mit großer Sorgfalt hatte er den Zeitpunkt seiner Abreise gewählt. Er schloß sich einer größeren Gesellschaft an, die eine gemeinsame Fahrt nach Brüssel machte und sowohl einen Sonderzug als auch einen Schnelldampfer zur Verfügung hatte. Und als der Zug um zehn Uhr den Victoria-Bahnhof verließ, befand sich Mark unter den Passagieren und saß bereits im Speisewagen, wo das Abendessen serviert werden sollte.

 

Selbst in der großen Gesellschaft benahm er sich möglichst unauffällig. Als er in Dover ankam, sah er den Träger, den er gewöhnlich benützte, und überreichte ihm seinen Koffer. Gleichzeitig nahm er auch das Päckchen aus der Tasche.

 

»Stecken Sie das ein und geben Sie es mir zurück, wenn ich an Bord komme.«

 

Diese Vorsichtsmaßregel war gerechtfertigt, denn Mark war einer der drei Passagiere, die aus der großen Gesellschaft ausgewählt und besonders durchsucht wurden.

 

»Es tut mir sehr leid, daß ich Sie belästigen muß«, sagte der Beamte, der die Visitation vornahm. »Aber es ist eine neue Verfügung herausgekommen, daß von hundert Passagieren einer besonders durchsucht werden muß.«

 

Mark wußte genau, daß eine solche Verfügung nicht herausgekommen war.

 

Auf dem unteren Deck fand er seinen Gepäckträger in heller Aufregung.

 

»Denken Sie, man hat Ihren Koffer geöffnet!« sagte der Mann. »Ich habe ihn eben in Ihre Kabine gesetzt.«

 

Er steckte ihm das Päckchen wieder zu. Mark stand dicht neben einem Rettungsboot und konnte, wenn er die Hand ausstreckte, den oberen Rand erreichen. Vorsichtig legte er das Päckchen auf eine der Ruderbänke und ging dann zu seiner Kabine, wo ein Herr auf ihn wartete. Er war in Zivil, aber sofort erkannte Mark einen Detektiv von Scotland Yard.

 

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie noch einmal störe. Mein Kollege sagte mir, daß er vergessen hat, Ihren Mantel zu durchsuchen.«

 

Der Kollege hatte ihm das natürlich nicht gesagt, aber Mark ließ sich lächelnd die nochmalige Durchsuchung gefallen.

 

Am nächsten Morgen kamen sie vor Tagesanbruch in Ostende an. Während der vierstündigen Überfahrt hatte sich Mark auf dem Dampfer gut umgesehen und einen älteren Herrn entdeckt, der seekrank geworden war und sich nicht um seine Umwelt kümmerte. Mark bemühte sich um ihn, und der Mahn war dankbar, daß der Mitreisende ihm bei der Ankunft half, das Gepäck zu sammeln.

 

Als Mr. Ling zur Zollstation ging, wurde er aufs neue angehalten. Diesmal führten ihn zwei belgische Detektive in ein kleines Büro und nahmen dort eine Leibesvisitation vor. Aber das Päckchen befand sich in der Manteltasche des seekranken Passagiers, und als er ihm später in ein Auto half, holte er es unbemerkt wieder heraus.

 

Er selbst nahm keinen Wagen, ließ seinen Koffer auf der Station und ging zu Fuß die windige Uferstraße entlang, bis er zu einem kleinen Hotel am Nordende des Kais kam. Er war gerade um die Ecke des einsamen Gebäudes gegangen, als er plötzlich angerufen wurde.

 

»Hände hoch!«

 

Aus dem Dunkel trat ein Mann auf ihn zu, der das Gesicht halb mit einem Taschentuch verdeckt hatte und eine Browningpistole in der Hand hielt.

 

Mark gehorchte.

 

»Nimm ihm das Päckchen ab, Annie«, sagte der Fremde, und gleich darauf trat eine Dame auf Mr. Ling zu.

 

Sie kam nahe an ihn heran, steckte die Hand in seine Tasche und nahm das Päckchen heraus …

 

Pauline Eddering hatte ein ganz besonderes Parfüm gebraucht. Mark erkannte den Duft und war starr vor Staunen.

 

»Ich kenne Sie seit langem, Mark Ling«, sagte der Mann mit der Pistole. »Als ich damals mein Geschäft in Newcastle betrieb, haben Sie mich mit dreitausend Pfund hereingelegt. Ich mußte diese Steine nach dem Kontinent schaffen, und Sie waren der geeignetste Mann, sie für mich herüberzubringen –«

 

Plötzlich standen sie im hellen Licht vieler Taschenlampen, und von allen Seiten traten bewaffnete Polizisten auf sie zu.

 

Mark hörte, wie die junge Dame plötzlich heftig atmete, und fühlte, daß sie das Päckchen, das sie schon halb aus seiner Tasche gezogen hatte, wieder zurückgleiten ließ. Bevor er es wegwerfen konnte, sprach ihn Chefinspektor Rater an.

 

»Ach so, Sie haben wohl zufällig die Couper-Brillanten bei sich, Mark?«

 

Im Pentonville-Gefängnis wurde Steiny als Maler beschäftigt und hatte dabei Zeit und Gelegenheit, nach Herzenslust mit seinen Kameraden zu schwatzen.

 

»Sehen Sie, das ist er, den sie gerade in die Zelle bringen. Morgen kommt er nach Wormwood Scrubbs. Haben Sie schon einmal von Mark Ling gehört? Ein gerissener Kerl ist das. Und ich hätte dem verdammten Hund das alles ersparen können. In dem Augenblick, als ich ihn mit dem Mädel zusammen sah, wußte ich, was los war. Ich habe nämlich mit ihrem Vater Geschäfte gemacht. Sie ist ebenso tüchtig wie der Alte … Sieben Jahre bekam Mark, siebzig hätten es sein sollen!«