Die Lektion

 

Ich möchte gleich zu Anfang bemerken, daß ich niemals viel sprach. Zu Beginn meiner Polizeikarriere bekam ich eine Lektion, die ich allen jungen Beamten einprägen möchte. Man soll niemals zur unrechten Zeit sprechen oder auf die unrechten Leute hören.

 

Ich war sehr stolz auf meine kurze, knappe Ausdrucksweise, und wenn mir jemand gesagt hätte, daß ich zuviel spräche, wäre ich sicher sehr erstaunt gewesen. Und doch habe ich es getan, als ich den Blidfield-Mord bearbeitete, den interessantesten Fall, der mir überhaupt vorgekommen ist.

 

Ich kannte den alten Angus Blidfield oberflächlich. Er besaß ein großes Haus am Bloomsbury Square und hatte die Wohnungen in den einzelnen Geschossen vermietet. Für sich selbst hatte er den ersten Stock reserviert und wohnte dort mit seiner Nichte Agnes Olford.

 

Der alte Mann war ein sehr reicher, etwas exzentrischer Junggeselle. Trotz seines Geldes war er ein ausgesprochener Geizhals. Ich wußte damals noch nicht, daß er große Summen baren Geldes in seinem Hause aufbewahrte, und ich glaube auch; daß nur wenig andere Leute eine Ahnung davon hatten. Seine Nichte war allerdings darüber orientiert, aber sie kannte die Höhe des Betrages nicht, den ihr Onkel in dem lackierten Blechkasten unter seinem Bett verwahrte.

 

Die Nichte war sehr schön, besaß aber wenig Geist und Witz, sonst hätte sie nicht die Stellung in dem Haus einnehmen können, die ein einfaches Dienstmädchen mit etwas Selbstachtung abgelehnt hätte. Sie mußte von früh bis spät auf den Beinen sein und führte eigentlich ein Sklavenleben. Die ganze Hausarbeit war ihr aufgebürdet, denn Blidfield hielt sich keine Dienstboten. Außerdem erledigte sie seine Korrespondenz und spielte auch noch die Pflegerin, wenn er krank war.

 

Ich kannte seinen Arzt, den jungen Dr. Lexivell, der in der Gower Street wohnte. Ich lernte ihn kennen, als unser Polizeiarzt einmal krank wurde, und wir zu irgendeinem Zweck einen Doktor brauchten. Der Sergeant erinnerte sich damals an den jungen Lexivell, und wir zogen ihn zu.

 

»Nun haben Sie ja ihr Glück gemacht«, sagte ich zu ihm, als ich hörte, daß der alte Blidfield ihn zu seinem Hausarzt bestimmt hatte. Er lachte.

 

»Denken Sie, er wollte mir zumuten, das Amt ehrenhalber zu verwalten! Es dauerte eine Weile, bis ich ihm auseinandergesetzt hatte, daß ich doch von meinem Beruf leben müßte.«

 

Ich war nicht erstaunt, dies zu erfahren, denn Mr. Blidfield gab niemals unnötig einen Schilling aus. Jeden Morgen machte er sich mit einer Markttasche auf den Weg, um die nötigen Einkäufe für den Haushalt zu besorgen. Er ging sogar bis zur Edgware Road, weil dort die Kartoffeln eine Kleinigkeit billiger waren.

 

Ich glaube kaum, daß er sehr krank war, aber er war sehr ängstlich wegen seiner Gesundheit und rief selbst bei den geringfügigsten Anlässen den Arzt. Hätte er anständig gezahlt, so hätte Lexivell sehr zufrieden sein können. Er hatte noch keine große Praxis und verbrauchte, was er verdiente, wenn nicht mehr.

 

Eines Tages hörte ich, daß der alte Herr ernstlich erkrankt sein sollte, und als ich Dr. Lexivell zufällig an der Ecke der Tottenham Court Road traf, erzählte er mir, daß sich ein Herzleiden bei Blidfield eingestellt hätte.

 

»Es kann gefährlich werden, und er muß sich in Zukunft in acht nehmen. Ich schlug ihm vor, eine Krankenschwester zu engagieren, aber davon wollte er nichts hören. Es ist mir gar nicht recht, daß dieses junge Mädchen und der alte Mann, der jeden Augenblick sterben kann, allein in der Wohnung sind. Mich geht die Sache ja nichts an, aber sooft ich in der letzten Zeit abends zu ihm kam, bemerkte ich ein paar Leute, die das Haus beobachteten. An einem kam ich dicht vorüber und betrachtete ihn genauer. Er hatte dunkle Hautfarbe und machte den Eindruck eines Ausländers. Ich glaube auch, daß es immer dieselben sind, die sich dort herumtreiben. Ich sprach mit Mr. Blidfield über die Sache, und zu meinem Erstaunen wußte er, daß das Haus beobachtet wurde. Aber er brach die Unterhaltung sofort ab, als ob es ihm unangenehm wäre, darüber zu sprechen.«

 

Dunkle, unheimlich aussehende Männer, die Häuser beobachten, interessieren mich immer, und so machte ich mich eines Nachmittags auf den Weg, um mich persönlich davon zu überzeugen. Ich rechnete allerdings nicht damit, daß ich die Leute um diese Zeit auf ihrem Posten treffen würde, und tatsächlich konnte ich sie auch nicht entdecken. Ich klingelte an der Wohnungstür, und Miss Olford öffnete mir. Ihr Onkel machte gerade eine Spazierfahrt, eine der wenigen Annehmlichkeiten, die er sich gönnte. Zweimal in der Woche mietete er von einer benachbarten Garage ein Auto und fuhr aufs Land hinaus.

 

Die kleine Miss Olford sah sehr müde und angegriffen aus, denn sie war bis drei Uhr morgens aufgeblieben.

 

»Der Doktor sagte, daß die gefährliche Zeit für meinen Onkel zwischen elf und drei Uhr nachts liegt, und er hat mir geraten, während dieser Zeit zu wachen. Er hat meinen Onkel schon dauernd gebeten, eine Pflegerin zu nehmen, aber der denkt gar nicht daran.«

 

»Was fehlt ihm denn eigentlich?« fragte ich.

 

Sie wußte es nicht genau; wahrscheinlich hatte Lexivell sie nicht über den Zustand Mr. Blidfields aufgeklärt. Ich sagte ihr nichts von den verdächtigen Leuten, die sich vor dem Haus herumtrieben, um sie nicht zu beunruhigen. Aber ich schlug ihr vor, sich doch am Tage einige Stunden hinzulegen.

 

»Mein Onkel kann jeden Augenblick zurückkommen, und dann will er seinen Tee haben.«

 

Mr. Blidfield traf ich bei der Gelegenheit nicht, aber ich wollte vor allem feststellen, welche Bewandtnis es mit den beiden Leuten hatte, die das Haus beobachteten. Einer meiner Detektive hatte zwei Männer gesehen, die sich auf dem Platz verdächtig machten, und sie angehalten. Aber sie konnten genügende Auskunft geben.

 

Am Samstagnachmittag machte ich Mr. Blidfield wieder einen Besuch, und diesmal fand ich ihn zu Hause.

 

Wir kannten einander nur oberflächlich, aber doch so gut, daß ich mich nach seinem Befinden erkundigen konnte.

 

»Mir fehlt nicht viel, ich habe nur nervöses Herzklopfen. Dieser junge Doktor will nur Honorar schlucken, aber da hat er sich in mir geirrt. Obendrein sollte ich noch eine Krankenschwester anstellen! Die stecken alle unter einer Decke, und ich zweifle nicht im geringsten daran, daß er sich von der Pflegerin eine Provision zahlen ließe, wenn ich sie engagierte. Ein Pfund soll ich täglich für eine Pflegerin ausgeben – es ist nicht zu glauben!«

 

Obwohl er nicht viel über seine Krankheit sprach, sah ich doch deutlich, daß es ihm nicht gut ging. Aber sein Geiz hinderte ihn daran, etwas für seine Gesundheit zu tun.

 

Jenen Samstagabend werde ich nicht vergessen, denn damals passierte es mir, daß ich zuviel redete.

 

Es war eine rauhe Nacht, obwohl wir schon Mai hatten, und es herrschte ein Schneetreiben, als ob es Januar wäre. Der Sturm heulte und jagte mir die Flocken entgegen, die sich auf der Erde sofort zu Wasser verwandelten. Kaum ein Mensch war auf der Straße zu sehen.

 

Um ein Uhr nachts ging ich über den Bloomsbury Square. Ich hatte meinen Schirm aufgespannt, obwohl er mir kaum Schutz gewährte, und kämpfte mich damit gegen den Wind vorwärts. Leicht genug hätte ich mit einem Straßenpassanten zusammenstoßen können, der mir entgegenkam, und sich auf dieselbe Weise zu schützen suchte, denn der Wind blies von allen Seiten. Aber als mich schließlich tatsächlich jemand anrannte, kam er von der Seite. Ich hatte ihn nicht kommen hören, und mein erster Eindruck war, daß ihn der Wind vom nächsten Dach heruntergeweht hatte. Nachher erschien es mir glaubhafter, daß er die Treppenstufen herabgeeilt war, die von einem der Häuser auf den Platz führten. Es war aber so dunkel und ungemütlich, daß ich nicht darauf achtete, welches Haus es war.

 

Der Zusammenstoß kam so überraschend und unerwartet, daß ich böse wurde und schimpfte. Nun habe ich eine ziemlich kräftige Stimme, die man trotz des Sturmes sehr weit hören konnte. Der andere fluchte auch, aber viel leiser als ich. Dann bückte er sich rasch und suchte auf dem Boden. Offenbar hatte er etwas fallen lassen. Schließlich fand er es, nahm es auf, aber es entglitt ihm wieder. Ich hörte den metallischen Klang auf dem Pflaster und wußte, daß es ein Schlüssel war.

 

Mein Ärger war inzwischen verflogen, und es kam mir zum Bewußtsein, daß meine heftigen Bemerkungen eigentlich nicht am Platze waren. Ich bückte mich deshalb auch und half ihm beim Suchen. Dabei berührte ich eine durchnäßte Schnur, die mir der Fremde jedoch sofort aus der Hand zog. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, versuchte der Mann, an mir vorüberzueilen, aber ein unglücklicher Zufall wollte es, daß wir noch einmal zusammenstießen, und zwar sehr heftig. Ich hörte ein lautes Poltern und sah im Licht der Straßenlaterne, daß der Fremde einen silbernen Kasten hatte fallen lassen. Der Kasten sprang auf, und mehrere Gegenstände fielen heraus. Mit einem abermaligen Fluch bückte sich der Mann, sammelte die Gegenstände hastig auf und eilte davon. Erst jetzt hatte ich sein Gesicht gesehen und war im Augenblick zu erstaunt, daß ich vergaß, ihm behilflich zu sein, obwohl er Unterstützung gebraucht hätte. Eine seiner Hände hielt krampfhaft den Schirm fest, der gerade umschlug, als er sich aufrichtete.

 

Wenige Sekunden später war der Mann in der Dunkelheit verschwunden, und ich machte mich auf den Heimweg.

 

Ich war aber kaum ein paar Schritte gegangen, als ich, fühlte, daß sich etwas in die Gummisohle meines Schuhs eingedrückt hatte. Da es mich beim Gehen hinderte, machte ich bei der nächsten Laterne halt, lehnte mich gegen den Lampenpfahl und entfernte den Gegenstand.

 

Ich nahm ihn mit, denn es ist nicht meine Gewohnheit, wertvolle Dinge wegzuwerfen. Als ich nach Hause kam, legte ich den Gegenstand auf den Kamin, aß noch eine Kleinigkeit und ging dann zu Bett. Kurz vor dem Einschlafen wurde mir plötzlich klar, daß der Mann, mit dem ich zusammengestoßen war, aus Blidfields Haus gekommen sein mußte.

 

Am Sonntagmorgen klingelte mein Telefon kurz vor sechs, und ich erfuhr, daß Angus Blidfield ermordet worden war. Seine Nichte war gegen halb sechs in sein Schlafzimmer gegangen, um ihm eine Tasse Tee zu bringen. Das tat sie regelmäßig, weil der alte Herr gewöhnlich um diese Zeit aufwachte. Er lag mit schrecklichen Kopfwunden auf dem Boden und lebte nicht mehr. Die Verletzungen rührten von einem Totschläger her, der immer auf dem Nachttisch lag, damit sich Mr. Blidfield gegen etwaige Einbrecher wehren konnte. Der große, starke Blechkasten unter dem Bett war erbrochen und ausgeraubt.

 

Als ich ankam, war das Haus bereits von Polizei besetzt. Die Beamten von Scotland Yard suchten nach Fingerabdrücken, und die Fotografen waren an der Arbeit. In dem Schlafzimmer lag noch der Dunst des Magnesium lichtes, das sie bei den Aufnahmen benützt hatten.

 

Ich fand Miss Olford im Speisezimmer. Sie war sehr bleich und zitterte; aber trotzdem erzählte sie mir alles, was sie wußte, mit ziemlicher Klarheit.

 

Der Doktor hatte am Samstagabend um halb neun Uhr einen Besuch gemacht und ihren Onkel untersucht. Mr. Blidfields Zustand mußte sich wohl gebessert haben, denn er sagte ihr, daß sie sich nicht weiter um ihn kümmern sollte. Bis elf Uhr war sie beschäftigt, dann hatte sie sich todmüde niedergelegt und war auch sofort eingeschlafen. Um halb sechs klingelte ihr Wecker. Sie stand auf und, machte schnell Tee für ihren Onkel. Als sie nachher in sein Zimmer kam, entdeckte sie das Verbrechen.

 

»Haben Sie denn in der Nacht nichts gehört?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Gar kein Geräusch?«

 

»Nein, nichts. Ich war so müde, daß ich zuerst nicht einmal den Wecker hörte.«

 

Ich ging zu dem Zimmer, in dem der Mord verübt worden war, und stellte eine sorgfältige Untersuchung an. Das Fenster stand etwa fünf Zentimeter auf, aber diesen Weg schien der Einbrecher nicht benützt zu haben, da es ziemlich hoch an einer glatten Wand lag. Die Wohnungstür zeigte keine Spuren von Stemmeisen oder anderen Werkzeugen, und das besonders komplizierte Schloß war vollständig intakt.

 

Miss Olford konnte mir nichts über den Inhalt des Kastens sagen. Sie wußte nur, daß Geld darin war, aber weder wieviel noch in welcher Form. Ich fragte sie noch aus, als Dr. Lexivell kam. Auf ihre Bitte hin hatte einer der Polizeibeamten vor meiner Ankunft an ihn telefoniert. Der Apparat stand in dem Schlafzimmer Mr. Blidfields.

 

Der junge Doktor kam zu gleicher Zeit mit dem Polizeiarzt in der Wohnung an, und die beiden untersuchten den Toten. Dann trat Lexivell zu mir.

 

»Ein recht trauriger Fall«, meinte er. »Haben Sie eine Ahnung, wer es getan haben könnte?«

 

»Nein, nicht die geringste.« Unglücklicherweise machte ich jetzt zum zweitenmal den Fehler, zuviel zu reden. »Es war eine stürmische Nacht, und ich glaube, daß selbst Polizeipatrouillen nicht nach Einbrechern ausgeschaut haben. Ich selbst lag schon um Mitternacht im Bett.«

 

Es war eine harmlose, aber dumme Lüge, und ich weiß nicht, wie mir die Worte entschlüpften. Miss Olford sah mich ernst an, und ihr Blick brachte mir plötzlich zum Bewußtsein, wie unklug es von mir gewesen war, so etwas zu sagen. Frauen haben manchmal einen untrüglich feinen Instinkt.

 

»Haben Sie die Leute beobachtet, von denen ich Ihnen neulich erzählte?« fragte der Doktor.

 

Ich hatte diese Beobachter vollständig vergessen, denn im Augenblick beschäftigten mich viel wichtigere Dinge. Ich veranlaßte Miss Olford, das Haus zu verlassen und sich in der Nähe ein Zimmer zu nehmen.

 

Als der Tote später fortgebracht war, nahm ich eine eingehende Untersuchung des Raumes vor, in dem er ermordet worden war. Ich fand aber weder Schriftstücke noch Aufzeichnungen, die mir einen Anhaltspunkt gegeben hätten. Im Spiegelrahmen war eine Karte eingeklemmt, auf der die Telefonnummern Dr. Lexivells und der Garage notiert waren, bei der Mr. Blidfield seine Autos gemietet hatte. In der Nachttischschublade lag ein kleines, ungeöffnetes Päckchen, das ein Schlafmittel enthielt. Ich zeigte es Dr. Lexivell, und er nickte.

 

»Ja, das habe ich ihm verordnet«, sagte er, »aber er hatte eine große Abneigung gegen Medikamente jeder Art. Er hatte mir zwar versprochen, es zu nehmen, aber er hat es dann anscheinend doch nicht getan.«

 

»Haben Sie ihm früher auch schon Schlafmittel verschrieben?«

 

»Nein. Aber diesmal sollte der alte Mann schlafen, denn das arme Mädchen mußte unbedingt einmal zur Ruhe kommen. Wenn sein Herz auch angegriffen war, so war es doch lange nicht so schlimm, wie er sich einbildete.«

 

Nach seinem Besuch am Abend hatte er nichts mehr von dem alten Herrn gehört.

 

Ich besuchte Miss Olford in ihrem Hotel, und sie erzählte mir unter anderem, daß ihr Onkel nichts von ihren Nachtwachen gewußt hätte. Sie hatte mit dem Doktor ein Übereinkommen getroffen, ihm nichts zu sagen, was seinen Gesundheitszustand beeinträchtigen könnte.

 

»Haben Sie im allgemeinen einen tiefen oder einen leichten Schlaf?«

 

Sie lächelte schwach.

 

»Für gewöhnlich schlafe ich sehr leicht und wache bei dem leisesten Geräusch auf. Wenn mein Onkel in der Nacht aufstand, war ich auch sofort munter. Ihm war das unangenehm, denn seiner Meinung nach sollten junge Leute viel schlafen. Er sprach auch mit Dr. Lexivell darüber, und der wollte mir ein Schlafmittel geben.«

 

An diesem Tage hatte ich auch eine Unterredung mit dem Rechtsanwalt Mr. Blidfields und erfuhr, daß Miss Olford die Universalerbin war. Sie hatte einen Bruder, einen Tunichtgut, der in London lebte und offenbar mit der Polizei in Konflikt geraten war. Das hatte mir Dr. Lexivell erzählt.

 

»Ich habe mich oft gefragt, ob er nicht zu den Leuten gehörte, die sich immer vor dem Haus herumtrieben«, meinte er.

 

Es war nicht schwer, den jungen Olford aufzufinden, aber er erklärte dem Sergeanten, daß er zu der Zeit, als der Mord begangen wurde, in seinem Bett gelegen habe, und unsere Nachforschungen bestätigten seine Aussagen.

 

Ich schickte zwei meiner besten Leute aus, um weitere Erkundungen einzuziehen. Ich wußte, daß es einige Zeit dauern würde, bis ich ihren Bericht erhalten konnte, und ich wußte auch, daß sich während der Wartezeit allerhand unangenehme Dinge ereignen konnten.

 

Um neun Uhr abends schrieb ich meinen ersten Bericht über den Fall. Schriftliche Arbeiten, bei denen ich nachdenken muß, erledige ich am liebsten zu Hause. Ich wohnte damals in der Nähe der Guildford Street. Meine Räume lagen im Erdgeschoß, und von meinem Speisezimmer aus konnte ich den Hof übersehen, der sich hinter dem Haus befand. Es war ein kleiner, viereckiger Platz mit einem Eingang für Händler und Lieferanten. Eine Mauer von zweieinhalb Meter Höhe umgab ihn, aber man konnte leicht darüberklettern. Aber der Mann, der meinetwegen in den Hof kam, hatte sich diese Mühe nicht gemacht. Bei einer späteren Untersuchung fand man, daß das kleine Tor offenstand, das vom Hof auf die Nebenstraße führte und gewöhnlich um sechs Uhr abends geschlossen wurde.

 

Es war dunkel und regnerisch, aber bedeutend wärmer als in der vergangenen Nacht. Ich hatte ungefähr vier Seiten geschrieben, als plötzlich mit einem Krachen meine Fensterscheibe splitterte und ein Gegenstand zu meinen Füßen niederfiel. Wäre er unter den Tisch gerollt, so daß ich ihn nicht gleich hätte sehen können, so wäre ich heute wohl nicht mehr am Leben. Aber glücklicherweise erkannte ich die Gefahr sofort.

 

Ich bückte mich nicht, um die Handgranate aufzuheben und wieder zum Fenster hinauszuwerfen, denn ich wußte, wie kostbar Zeit in solchen Augenblicken ist. So rasch wie möglich eilte ich in mein Schlafzimmer und war gerade in Deckung, als die Explosion erfolgte. Aber auch dann traf mich noch ein Splitter, der mich leicht verletzte.

 

Die Detonation war fürchterlich. Ich wankte in mein Arbeitszimmer zurück, war aber so benommen, daß ich kaum wußte, was ich tat. Erst als ich draußen die Alarmsignale der Feuerwehr hörte, kam ich wieder zu mir.

 

Zum Glück war niemand getötet worden, aber die Wohnung über mir hatte stark gelitten, und alle Möbel in meinem Arbeitszimmer waren mehr oder weniger beschädigt. Die Zeitungen hatten zwei Tage lang Stoff für sensationelle Artikel.

 

Aber durch diese Bombe erhielt ich die Lektion, die ich verdient hatte.

 

Ich ging nach Scotland Yard, und auf dem Wege dorthin wurde mir der Sachverhalt klar. Als ich ankam, telefonierte ich an verschiedene Stellen, und gegen Mitternacht wimmelte mein Büro von Buchmachern, Geldverleihern, Spielklubbesitzern und ähnlichen Leuten. Ich mußte das Fenster öffnen, um frische Luft hereinzulassen.

 

Um halb zwei in der Nacht ereignete sich dann in der Little Creefield Street ein Verkehrsunfall. Zwei Taxis waren zusammengestoßen. Scheiben klirrten, und der eine Fahrgast machte großen Spektakel. Er mußte aus dem Wagen gehoben werden. Ein Polizist blies die Alarmpfeife. Das Unglück hatte sich gerade vor Dr. Lexivells Haus zugetragen, und der Arzt schaute aus dem Fenster, um zu sehen, was passiert war. Der Polizist sagte ihm, daß der eine Herr den Fuß gebrochen und sich das Gesicht an der Scheibe zerschnitten hätte.

 

»In einer Minute bin ich unten«, rief der Doktor.

 

Als er gleich darauf auf der Straße erschien, stand ein halbes Dutzend Leute um den Mann herum, der auf dem Boden lag. Zwei Leute traten zurück, um ihm Platz zu machen, darin packten sie ihn von allen Seiten.

 

Der Polizeipräsident sagte, es wäre eine etwas theatralische Aufmachung für eine Verhaftung gewesen, aber ich wurde gerechtfertigt, als wir den Arzt durchsuchten. Er hatte eine Browningpistole in der Hüfttasche und nicht einmal die Vorsichtsmaßregel ergriffen, die Waffe zu sichern. In seiner Wohnung fand ich später noch mehrere Handgranaten. Diese Episode spielte sich kurz nach dem Krieg ab. Dr. Lexivell war an der Front gewesen und hatte ein ganzes Arsenal tödlicher Waffen gesammelt.

 

Alle diese Maßnahmen wären nicht nötig gewesen, wenn ich ihm nicht gesagt hätte, daß ich in der Mordnacht in meinem Bett gelegen hatte. Er wußte sehr gut, daß er mit mir auf dem Bloomsbury Square zusammengestoßen war, denn er hatte mich an der Stimme erkannt. Dagegen glaubte er bestimmt, daß ich ihn nicht erkannt hätte. Aber ich hatte einen Anhaltspunkt – die Nadel einer Injektionsspritze, die er bei dem Zusammenstoß verloren hatte, drückte sich in meine Sohle ein.

 

Nach seiner Verurteilung besuchte ich Dr. Lexivell. Er war ruhig und sprach vollkommen offen mit min

 

»Ich war finanziell erledigt und außerdem Geldverleihern und Wucherern in die Hände gefallen, die mich entsetzlich quälten. Patienten erzählen ihren Ärzten häufig Dinge, die sie nicht einmal ihren Rechtsanwälten anvertrauen würden, und auch der alte Blidfield sagte mir schon bei meinem ersten Besuch, daß er achttausend Pfund in dem Kasten unter seinem Bett verwahrte.

 

Es war schwierig, ihm das Geld abzunehmen, ohne selbst in Verdacht zu kommen. Er war ein Hypochonder, und zuerst hatte ich die Absicht, ihm eine Krankheit zu suggerieren und ihm Schlafmittel zu geben. Während seiner Bewußtlosigkeit wollte ich mir dann das Geld aneignen. Aber seine Nichte hinderte mich daran. Sie schlief auch in der Wohnung, und sie sträubte sich fanatisch dagegen, Medikamente zu nehmen.

 

Ich sagte dem alten Blidfield, daß sie krank aussähe und nicht genug Schlaf hätte. Daraufhin gab er mir den Schlüssel zu seiner Wohnung, so daß ich auf einen telefonischen Anruf hin zu jeder Nachtzeit ins Haus kommen konnte, ohne daß Miss Olford gestört wurde. Aber auch jetzt hatte ich noch nicht alle Schwierigkeiten überwunden, denn die junge Dame hatte einen sehr leichten Schlaf. Schließlich kam mir eine glänzende Idee. Ich bestimmte sie dazu, bis drei Uhr morgens aufzubleiben, um im Bedarfsfalle ihrem Onkel zu helfen.

 

Nach einer Woche wußte ich, daß sie müde genug war, um fest zu schlafen.

 

Es gelang mir dann, den alten Blidfield zum Einnehmen eines Schlafmittels zu überreden. Um halb eins kam ich in die Wohnung. Von Miss Olford hatte ich keine Störung zu befürchten. Ich hatte geglaubt, ich könnte den Kasten unter dem Bett vorziehen, in aller Ruhe das Geld herausnehmen und wieder verschwinden. Als ich kam, schlief Blidfield tatsächlich, und ich nahm natürlich an, daß er das Schlafmittel genommen hätte. Aber als ich den Kasten öffnete, rief er mich plötzlich an. Dann entstand ein kleines Handgemenge –«

 

Er zuckte die Schultern.

 

»Als ich bei dem Zusammenstoß Ihre Stimme hörte, wußte ich natürlich sofort, daß Sie es waren. Aber ich hoffte, daß Sie mich nicht erkannt hätten. Und ich hätte auch nichts gegen Sie unternommen, wenn Sie mir nicht durch Ihre Bemerkung verraten hätten, daß Sie mich nicht nur verdächtigten, sondern für den Mörder hielten. In Ihrem Beruf ist es ein großer Fehler, zuviel zu sprechen.«