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Die Turmuhr von der Kirche in Chichester schlug zehn, als der Strolch, der vor einer halben Stunde in die Geheimnisse von Griff Towers eindringen wollte, über den Marktplatz schlenderte. Seine Kleider waren noch schmutziger und staubiger als zuvor. Der wachhabende Polizist, der ihn sah, stellte sich ihm quer in den Weg.

 

»Na, wieder auf der Walze?« fragte er.

 

»Ja«, sagte der Mann mit weinerlicher Stimme.

 

»Machen Sie, daß Sie so schnell wie möglich aus Chichester fortkommen. Oder wollen Sie ein Nachtquartier haben?«

 

»Ja, Herr Wachtmeister. Alles ist schon recht voll.«

 

»Das ist eine dicke Lüge«, sagte der Polizist. »Warum versuchen Sie denn nicht, in der Herberge für Heimatlose unterzukommen? Jetzt hüten Sie sich aber – wenn ich Sie noch einmal hier in der Stadt treffe, nehme ich Sie fest.«

 

Der abgerissene Mensch murmelte etwas vor sich hin und ging dann in der Richtung der Arundel Road weiter. Seine Schultern hingen herunter, und die Hände hatte er in den Taschen verborgen.

 

Als der Polizist ihn nicht mehr sehen konnte, bog er plötzlich nach rechts ab und beschleunigte seine Schritte, bis er an das Haus von Jack Knebworth kam. Der Direktor hörte ein Klopfen draußen, öffnete die Tür und schaute verwundert auf den Besuch.

 

»Was wollen Sie denn schon wieder?« fragte er.

 

»Ist Brixan gekommen?«

 

»Nein, er ist noch nicht hier. Es wäre besser, wenn Sie mir den Brief geben, er wird mich wahrscheinlich anrufen.«

 

Der Strolch grinste und schüttelte den Kopf. »Nein, das wird er nicht tun. Ich warte; bis ich ihn persönlich sehe.«

 

»Nun gut, heute abend werden Sie ihn hier nicht mehr treffen.« Dann fuhr er argwöhnisch fort: »Ich glaube, Sie wollen ihn überhaupt gar nicht sehen – Sie führen etwas ganz anderes im Schilde, wenn Sie hier herumlungern.«

 

Der abgerissene Mann antwortete nicht. Er pfiff den Refrain eines Gassenhauers und bewegte die Füße im Takt.

 

»Dem alten Brixan geht es nicht besonders«, sagte er.

 

Knebworth schien es fast, als ob die Stimme belustigt klänge.

 

»Was wissen Sie denn von ihm?«

 

»Er hat Krach mit seinen Vorgesetzten, das weiß ich«, sagte der Strolch. »Er konnte nicht ausfindig machen, wohin die Briefe gingen, daran liegt die ganze Geschichte. Aber ich weiß es.«

 

»Wollen Sie ihn deswegen sprechen?«

 

Der Mann nickte heftig.

 

»Ich weiß es«, sagte er wieder. »Ich könnte ihm etwas Wichtiges erzählen, wenn er hier wäre. Aber leider …«

 

»Wenn Sie wissen, daß er nicht hier ist – warum, zum Donnerwetter, kommen Sie denn dann her?«

 

»Weil mir die Polizei auf den Fersen ist. Der Posten auf dem Marktplatz will mich festnehmen, wenn er mich das nächstemal sieht. Da dachte ich mir, es wäre besser, wenn ich hierherkäme und mir die Zeit etwas vertriebe. Deswegen bin ich da.«

 

Jack sah ihn groß an.

 

»Na, Sie haben Nerven«, sagte er verblüfft. »Und da Sie sich nun die Zeit mit meiner Unterhaltung vertrieben haben, ist Ihr Ziel ja erreicht. Wollen Sie etwas essen?«

 

»O nein, ich führe ein recht angenehmes Leben.«

 

Sein schriller Londoner Dialekt fiel Jack auf die Nerven.

 

»Dann ist es ja gut. Gute Nacht!« sagte er kurz und schloß die Tür vor seinem merkwürdigen Besucher.

 

Der Vagabund stand eine Weile still, dann nahm er seine Mütze ab, zog eine Zigarette daraus hervor, steckte sie an und ging den Weg wieder zurück, den er gekommen war. Er machte aber einen großen Bogen um den Marktplatz, wo der unfreundliche Polizist Wache hielt.

 

Die Kirchturmuhr schlug Viertel nach zehn, als er an der Ecke der Arundel Road ankam. Er warf die Zigarette weg, trat in den Schatten einer Hecke und wartete.

 

Fünf Minuten verflossen – es wurden zehn Minuten – dann sah er einen Mann, der schnell denselben Weg entlangging, den er gekommen war. Er grinste im Dunkeln, denn er erkannte Knebworth. Jack war durch die Unterhaltung, die er eben mit ihm gehabt hatte, ängstlich geworden und wollte zur Polizei, um Erkundigungen über Mike Brixan einzuziehen. Das vermutete der Landstreicher, aber er hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, was der Direktor vorhatte, denn im selben Augenblick kam geräuschlos ein Auto um die Ecke und hielt in seiner Nähe.

 

Eine Stimme fragt durch das halboffene Fenster: »Sind Sie es, mein Freund?«

 

»Jawohl«, sagte der Strolch verdrießlich.

 

»Kommen Sie in den Wagen.«

 

Der Strolch schlich vorwärts und schaute in das dunkle Auto. Mit einem plötzlichen Griff riß er dann die Tür auf, stemmte einen Fuß gegen die Schwelle und stürzte sich auf den Fahrer.

 

»Jetzt habe ich Sie erwischt, Kopfjäger!« zischte er.

 

Er hatte diese Worte noch nicht ausgesprochen, als ihm etwas Weiches, Klebriges ins Gesicht spritzte. Er konnte nicht mehr sehen. Heftiger Schmerz durchzuckte ihn, so daß er die Tür losließ und wie ein zu Tode Getroffener Halt suchend in die Luft griff. Ein derber Fußtritt des Mannes im Auto traf ihn, er flog außer Atem auf den Bürgersteig, und das Auto verschwand in schnellster Fahrt.

 

Jack Knebworth hatte die Szene beobachtet, soweit das in dem Halbdunkel möglich war und kam herbei. Ein Polizist tauchte aus dem Dunkel auf, und die beiden hoben den abgerissenen Mann auf.

 

»Den habe ich heute schon einmal gesehen«, sagte der Polizist. »Ich habe ihn doch gewarnt.«

 

Der Mann auf dem Boden seufzte tief und lang und faßte mit seinen Händen nach den Augen.

 

»Das durfte nicht passieren – jetzt kann ich meine Entlassung einreichen!« sagte er langsam.

 

Knebworth traute seinen Ohren nicht, denn es war Mike Brixans Stimme, die da sprach!