12

 

Mike Brixan wartete nicht, um sich die Filmaufnahmen am frühen Morgen anzusehen. Er hatte selbst etwas vor und verließ Dower House, sobald es, ohne den Anstand zu verletzen, möglich war. Er ging querfeldein und erreichte die Straße, die nach Griff Towers führte. Er hatte sich den Feldweg, der an der Grenze von Gregory Pennes Grundstück entlanglief, genau gemerkt. Wenn er den benutzte, konnte er einen ziemlichen Umweg vermeiden. Als er zehn Minuten gewandert war, kam er zu der Stelle, wo sich der Fußweg von der Fahrstraße trennte. Er schritt schnell und beobachtete den Boden scharf, um womöglich Bhags Fährte zu finden. Aber es hatte lange nicht geregnet, und wenn das Tier nicht verwundet war, konnte er kaum hoffen, seine Spur zu entdecken.

 

Er kam zu der hohen Steinmauer, die die südliche Grenze der Besitzung des Barons bildete. Hier ging er entlang, bis er an einen hinteren Ausgang kam. Vor kurzem mußte jemand hier durchgegangen sein, denn die Tür war nur angelehnt, wie er zu seiner Befriedigung feststellte.

 

Als er eingetreten war, stand er am Rand eines großen Feldes, das anscheinend als Küchengarten benützt wurde. Er konnte niemanden sehen. In der frühen Morgendämmerung machte der Turm einen häßlichen und abschreckenden Eindruck. Kein Rauch kam aus dem Kamin. Griff Towers schien wie ausgestorben. Vorsichtig ging er weiter. Aber er wagte sich nicht aufs offene Feld, sondern hielt sich im Schatten der Mauer, bis er die hohe Hecke erreicht hatte, die im rechten Winkel abbog und den Küchengarten von dem wundervoll angelegten alten Park trennte, den Jack Knebworth gestern als Hintergrund für seine Filmaufnahmen benützt hatte.

 

Immer noch spähte er scharf nach Bhag aus. Er war darauf vorbereitet, diese häßliche Gestalt jeden Augenblick auftauchen zu sehen. Schließlich erreichte er das Ende der Hecke, nur noch wenige Schritte trennten ihn von dem grauen viereckigen Turm, der dem Haus den Namen gab.

 

Von seinem Standpunkt aus konnte er alles überschauen; die zugezogenen weißen Vorhänge und die Totenstille, die in Griff Towers herrschte, hätten einen weniger kritischen Mann als Mike Brixan überzeugt, daß sein Verdacht unbegründet sei.

 

Er zögerte und wußte nicht recht, ob er in das Haus gehen sollte oder nicht. Da hörte er, wie eine Fensterscheibe eingeschlagen wurde. Vom obersten Turmzimmer fielen Glasscheiben herunter. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, die Erde lag noch im dämmerigen Morgenlicht, so daß die Hecke ein gutes Versteck bildete.

 

Wer mochte zu so früher Morgenstunde ein Fenster einstoßen? Jedenfalls konnte das nicht der vorsichtige Bhag sein… So weit war er in seinen Überlegungen gekommen, als plötzlich ein greller, entsetzlicher Schrei die Stille des Morgens zerriß. Er kam vom Turmzimmer und war scharf abgerissen, als ob jemand dem Unglücklichen den Mund mit der Hand geschlossen hätte.

 

Mike packte ein kaltes Grauen. Er verließ sein Versteck, lief schnell über den geschotterten Platz und klingelte am Haupteingang, der sich unmittelbar neben dem Turm befand. Mit einem schnellen Blick ringsum vergewisserte er sich, daß nicht Bhag oder einer der farbigen Diener hinter ihm war.

 

Eine Minute verging und noch eine. Soeben hob er seine Hand, um noch einmal zu läuten, als er schwere Schritte in dem Gang und gleich darauf das Schlürfen von Pantoffeln auf den Fliesen der Halle hörte.

 

»Wer ist da?« fragte eine rauhe Stimme.

 

»Mike Brixan.«

 

Er hörte ein heiseres Räuspern, dann Rasseln von Ketten. Es wurde aufgeschlossen, und die schwere Tür öffnete sich eine Handbreit.

 

Gregory Penne erschien hinter der Tür. Er trug graue Flanellhosen und ein Hemd, dessen Ärmel am Handgelenk nicht geschlossen waren. Sein düsterer Blick erhellte sich, als er Mike Brixan sah. »Was wünschen Sie?« fragte er verwundert und öffnete die Tür etwas weiter.

 

»Ich möchte Sie besuchen«, sagte Mike.

 

»Machen Sie Ihre Besuche immer bei Tagesanbruch?« brummte Gregory und schloß die Tür hinter Brixan.

 

Mike antwortete nicht, sondern folgte Gregory. Die Bibliothek mußte die ganze Nacht benützt worden sein. Die Fensterläden waren fest geschlossen, das elektrische Licht brannte, und vor dem Kamin stand ein Tisch mit zwei Whiskyflaschen. Eine davon war leer.

 

»Wollen Sie ein Glas trinken?« fragte Penne mechanisch und schenkte sich selbst ein. Mike sah, daß seine Hand sehr unsicher war.

 

»Ist Ihr Affe zu Hause?« fragte der Detektiv, indem er die angebotene Erfrischung mit einer Handbewegung ablehnte.

 

»Meinen Sie Bhag? Ich glaube, er ist in seinem Raum. Er geht und kommt, wann er will. Möchten Sie ihn sehen?«

 

»Nein, jetzt nicht«, sagte Mike. »Ich habe ihn die letzte Nacht schon einmal zu Gesicht bekommen.«

 

Penne steckte sich seine ausgegangene Zigarre wieder an, während er sprach. Mit einem schnellen Blick sah er sich im Raum um.

 

»Sie haben ihn vorhin gesehen? Was meinen Sie damit?«

 

»Ich sah ihn in Dower House, als er versuchte, in Miss Leamingtons Zimmer einzudringen, und beinahe hätte er dabei seinen Tod gefunden.«

 

Gregory ließ das brennende Streichholz fallen und stand erregt auf.

 

»Haben Sie auf ihn geschossen?« fragte er.

 

»Ich habe auf ihn geschossen.«

 

Gregory nickte.

 

»So, so«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Deshalb kommen Sie, also. Warum haben Sie das getan? Er ist doch vollkommen harmlos.«

 

»Ich hatte nicht den Eindruck, daß er so harmlos ist«, sagte Mike kühl. »Er versuchte, Miss Leamington aus ihrem Zimmer zu zerren.«

 

Gregory machte große Augen. »Hat er das getan?«

 

Eine Pause entstand.

 

»Sie haben ihn ausgeschickt, um das Mädchen zu holen«, sagte Mike. »Sie haben auch Foß bestochen, ein Zeichen am Fenster anzubringen, so daß Bhag wußte, wo das Mädchen schlief.«

 

Gregory kniff die Lider so weit zusammen, daß man seine Augen nicht mehr sehen konnte. Sein Gesicht war noch eine Schattierung dunkler geworden.

 

»Darauf wollen Sie hinaus?« sagte er. »Ich dachte, Sie meinen es gut mit mir.«

 

»Ich kann nichts dafür, wenn Sie sich falsche Vorstellungen machen«, entgegnete Mike. »Ich sage Ihnen nur«, und dabei berührte er die Brust des anderen mit seinem Finger, »wenn Helen Leamington auch nur das geringste passiert, das mit Ihnen oder Ihrem scheußlichen Affen zusammenhängt, dann werde ich nicht nur Mr. Bhag erschießen, dann komme ich auch hierher und jage Ihnen eine Kugel durch den Kopf. Verstehen Sie mich? Und jetzt sagen Sie mir gefälligst, was bedeutete der Schrei, den ich soeben aus Ihrem Turmzimmer hörte?«

 

»Was zum Teufel bilden Sie sich denn ein, mich so zu verhören?« polterte Penne los. Er war furchtbar wütend. »Sie niederträchtiger, elender kleiner Filmmensch!«

 

Mike nahm eine Karte aus seiner Tasche und reichte sie seinem Gegenüber.

 

»Wenn Sie dies lesen, werden Sie sehen, daß ich das Recht habe, Sie zu fragen.«

 

Gregory las die Karte beim Licht der Tischlampe. Er war vollständig erschlagen. Sein Kinn sank herab, und seine Hand zitterte so heftig, daß die Karte zu Boden fiel.

 

»Ein Detektiv?« sagte er stockend. »Sie – Sie sind ein Detektiv? Was wollen Sie denn von mir?«

 

»Ich habe hier jemanden furchtbar schreien hören«, sagte Mike.

 

»Das war vielleicht einer der Dienstboten – das ist schon möglich. Wir haben eine Papuafrau im Hause, die krank und nicht ganz bei Sinnen ist. Sie soll morgen von hier fortkommen. Ich will einmal nach ihr sehen, wenn Sie gestatten.«

 

Er sah zu Brixan hinüber, als ob er seine Erlaubnis einholen wolle. Seine ganze Haltung war gedrückt, und sein blasses Gesicht und seine Bestürzung genügten Mike, um seinen Verdacht zur Gewißheit werden zu lassen. In diesem Haus ging etwas vor. Er wollte der Sache auf den Grund kommen.

 

»Kann ich gehen und nachsehen?« fragte Penne.

 

Mike nickte. Der große, starke Mann verließ den Raum, als ob er sich fürchtete. Brixan hörte, wie er den Schlüssel umdrehte. Im Nu war er an der Tür und drückte die Klinke herunter. Er war eingeschlossen. Rasch sah er sich im Zimmer um, eilte zu einem Fenster, zog den Vorhang zurück und wollte die Fensterläden öffnen. Aber die waren auch verschlossen. Als er sie genauer untersuchte, entdeckte er, daß sie wie eine Tür versperrt werden konnten. Er fand das kleine Schlüsselloch. Plötzlich gingen alle Lichter im Zimmer aus. Nur die dunkelrote Glut des Kamins verbreitete noch spärliches Licht.