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Eine Flut von Sonnenlicht ergoß sich über Tanger, und die Oberfläche des Meeres erschien wie schimmerndes Gold. Aber die beiden älteren Herren, die an dem Geländer der Hotelterrasse lehnten, sahen nichts von dieser Schönheit.

 

»Keine neuen Nachrichten?« fragte Welling.

 

Lord Creith schüttelte den Kopf, und seine Blicke wanderten zu der prachtvollen Yacht hinüber, die im Hafen vor Anker lag.

 

»Wollen Sie hier warten, bis Sie etwas hören?«

 

»Das muß ich wohl tun«, sagte der Lord niedergeschlagen. »Und was beabsichtigen Sie?«

 

»Meine Arbeit hier ist eigentlich beendet. Ich wollte die ersten Anfänge von Hamons Aufstieg untersuchen, und ich habe alles, was noch unklar war, vollständig aufgeklärt. Er gründete Schwindelgesellschaften und verdiente damit allerhand Geld. Dann brachte er einen vermögenden Engländer hierher. Sie wohnten ungefähr vierzehn Tage im Hause von Sadi Hafis. Nachher verließen sie das Land wieder. Ich entdeckte, daß der Fremde ihm eine große Geldsumme zahlte – ich habe auch beim Credit Lyonnais Nachforschungen angestellt und die alten Akten eingesehen. Die Geldüberweisung ist klar. Fünfzigtausend Pfund gab der Mann als Anzahlung.«

 

»Wofür denn?« fragte der Lord, der sich trotz seiner Sorgen für die Sache zu interessieren begann.

 

»Das muß ich noch herausbekommen. Allem Anschein nach sollte später noch eine viel größere Summe auf Hamons Konto eingezahlt werden.«

 

»Kennen Sie eigentlich den Namen dieses geheimnisvollen Engländers?«

 

»Nein. Vermutlich wurde die Einzahlung in der Nähe von Hindhead geleistet. Wenn ich das sicher wüßte, würde sich Hamon in Tanger nicht wieder blicken lassen.«

 

»Das wird er auch so nicht mehr wagen«, entgegnete der Lord bitter. »Wenn die Regierung dieses verfluchten Landes morgen nicht etwas unternimmt, dann mache ich auf eigene Faust eine Expedition ins Innere, um meine Tochter zu finden! Und wenn ich Ralph Hamon entdecke, ist es aus mit ihm!«

 

Welling rauchte bedächtig weiter und schaute auf die sonnige Bucht hinaus.

 

»Wenn Jim Morlake sie nicht findet, wird es Ihnen auch nicht gelingen.«

 

»Wo mag sie nur geblieben sein?«

 

Zwei Leute ritten die Küste entlang auf die Stadt zu. Sie waren kaum noch eine halbe Meile entfernt und fielen durch ihr merkwürdiges Betragen auf.

 

»Ein Maure, der sich mit einer Frau in der Öffentlichkeit unterhält, ist ein seltener Anblick«, sagte Welling, der die beiden beobachtete.

 

Lord Creith schaute durch sein Fernglas. Die Frau hob die Hand und winkte, und es sah fast so aus, als ob der Gruß ihm gelten sollte.

 

»Wollen sie uns ein Zeichen geben?«

 

»Es scheint so«, meinte Welling.

 

Lord Creith wurde plötzlich bleich.

 

»Das ist doch nicht möglich!« rief er mit zitternder Stimme, drehte sich plötzlich um und eilte die Stufen zur Uferstraße hinunter. Die beiden Reiter fielen in Galopp.

 

Welling beobachtete die Szene erstaunt und sah, wie die maurische Frau plötzlich aus dem Sattel sprang und in die Arme des alten Mannes eilte. Dann stieg auch ihr Begleiter ab und wurde von Lord Creith aufs herzlichste begrüßt.

 

Wenn das nicht Jim Morlake ist, will ich ein Neger sein, sagte Welling zu sich selbst.

 

Im nächsten Augenblick eilte auch er hinunter, um die beiden zu begrüßen, und eine Stunde später saßen vier glückliche Menschen bei einer vergnügten Mahlzeit.

 

Einen Tag später erfuhren sie von Sadis Tod und der mißglückten Flucht seines Mörders. Sadis Leute hatten Hamon verfolgt, ihm den Weg abgeschnitten und ihn aus dem Hinterhalt erschossen. Sein Dienernder entkommen war, brachte die Nachricht nach Tanger. Die Leiche wurde geborgen, und das Dokument, nach dem Jim seit Jahren vergeblich gesucht hatte, kam endlich zutage.

 

»Wir fahren noch heute abend«, erklärte der Lord. »Mögen die Wellen im Golf von Biscaya haushoch sein, und mag der größte Sturm im Kanal toben – wenn wir nur aus diesem Land fortkommen! Ich muß die Yacht zur Heimfahrt benützen, denn der eigentliche Besitzer ist ein persönlicher Freund von mir, wie ich inzwischen erfahren habe. Sie begleiten uns doch, Morlake?«

 

»Ja«, erwiderte Jim. »Meine Aufgaben sind erledigt. Sie wurden vom Schicksal für mich gelöst. Um so mehr freue ich mich, daß ich jetzt nur noch schöne vor mir habe.«

 

Er sah Joan freudig an, und ihre Augen leuchteten glücklich auf.