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Joan versuchte zu gehen, taumelte und riß sich noch einmal zusammen, aber dann verlor sie das Bewußtsein.

 

Als sie wieder zu sich kam, lag sie unter dem Schatten eines großen Wacholderstrauches. Ihr Gesicht und ihr Hals waren angefeuchtet, und ein Gefäß mit Wasser stand an ihrer Seite. Aber der alte Bettler war verschwunden. Erst als sie sich auf die Ellbogen stützte, sah sie, daß er sich mit seinem unscheinbaren, häßlichen Pferd beschäftigte. Was sollte sie tun? Unsicher richtete sie sich auf und schaute sich entsetzt um. Ein Entkommen war unmöglich.

 

Fernab im Tal entdeckte sie eine Staubwolke. Mehrere Reiter näherten sich, und als sie ihre Augen anstrengte, erkannte sie weiße Arabergewänder. Stahl und Waffen blitzten in der Sonne. Es waren Mauren – wahrscheinlich kehrte Sadi Hafis zurück. Von dieser Seite aus würde ihr keine Hilfe kommen.

 

Wieder schaute sie zu dem Bettler hinüber. Der Alte wickelte eben seinen Kopf und den größten Teil seines Gesichtes in einen Turban von Lumpen, bis nur noch sein eisgrauer Bart und die Spitze seiner roten Hakennase sichtbar waren.

 

Dann kam er auf sie zu und führte das Pferd herbei. Sie gehorchte seinem Wink ohne Widerrede und stieg in den Sattel. Als er vorwärtsschritt, hielt er die Hand am Zügel, und sie merkte, daß er einen Weg einschlug, der von der Hauptstraße nach Tanger in rechtem Winkel abbog. Mehrere Male schaute er zurück, zuerst nach dem Haus, dann nach den schnellen Reitern, die man jetzt deutlich erkennen konnte. Es war Sadi, der an der Spitze der Schar ritt. Alle waren bewaffnet, jeder der Männer hatte ein Gewehr über der Schulter hängen.

 

Plötzlich änderte der Bettler die Richtung und führte das Pferd einen Hügel hinunter zu einer Stelle, die man vom Garten aus nicht mehr sehen konnte. Mehrmals blickte er sich um. Anscheinend fürchtete er, daß Hamon zur Vernunft kommen und seinen Wahnsinn bereuen würde. Schließlich führte er das Pferd in das Bett eines kleinen Baches und ließ es im Wasser gehen. Dann hörte sie einen Schuß, gleich darauf einen zweiten. Das Echo kam von den Hügeln zurück. Ängstlich schaute sie auf den alten Mann.

 

»Was war das?« fragte sie auf spanisch.

 

Er schüttelte nur den Kopf.

 

Wieder fiel ein Schuß. Jetzt vermutete Joan den Grund. Wahrscheinlich wollten die Leute auf diese Weise die Aufmerksamkeit des Bettlers erregen und ihn zurückrufen. Er dachte wohl dasselbe, denn er schlug mit den Zügeln auf den Hals des Tieres, das in leichten Trab fiel. Der Alte selbst rannte dicht neben seinem Pferd her.

 

Nach einer Weile kamen sie zu einem kleinen Gehölz, wo er das Tier versteckte. Er gab ihr ein Zeichen, zu warten, und ging zu Fuß zurück. Erst nach einer halben Stunde kam er wieder, reichte ihr die Hand und hob sie aus dem Sattel. Sie schloß die Augen, um sein Gesicht nicht sehen zu müssen. Nach einiger Zeit brachte er ihr Wasser vom Fluß und öffnete ein kleines Bündel, in dem er Nahrungsmittel mit sich führte. Aber sie trank nur gierig das frische Wasser. Auch war sie so erschöpft, daß sie willenlos auf die Lumpen sank, die er für sie ausbreitete. Sie vergaß, daß das Schicksal sie zur Frau eines Bettlers gemacht hatte, und fiel in tiefen, traumlosen Schlaf.

 

*

 

Ralph Hamon kauerte in einem Sessel und fühlte sich elend und krank. Die Erregung und Wut, die ihn zu dieser Wahnsinnstat getrieben hatten, waren verraucht, und er zitterte nun an allen Gliedern. Von seinem Fenster aus konnte er sehen, wie der Bettler Joan die Hügel hinunterführte. Er sprang auf. Der Fehler mußte so schnell als möglich wieder gutgemacht werden.

 

Er rief einen alten, treuen Diener zu sich.

 

»Ahab, du kennst doch den Bettler, der auf dem Pferd reitet?«

 

»Ja, Herr.«

 

»Er hat die Frau, die meinem Herzen nahesteht, mit sich genommen. Geh und bringe sie mir zurück – dem Alten aber gib dieses Geld.«

 

Er nahm einige Banknoten aus der Tasche und gab sie ihm.

 

»Wenn er dir Widerstand leistet, töte ihn!«

 

Ralph stieg ins oberste Geschoß hinauf, um von dort aus seinen Boten zu überwachen. Dabei entdeckte er die Reiter, die auf dem gewundenen Weg den Hügel heraufkamen.

 

»Sadi«, murmelte er und wußte, was dieser Besuch zu bedeuten hatte.

 

Es war zu spät, den Boten zurückzurufen, und er eilte ans Tor, um seinen ehemaligen Agenten zu begrüßen. Sadi Hafis sprang aus dem Sattel. Sein Ton und seine Miene hatten sich vollkommen geändert. Er war nicht länger der höfliche, gewandte Zögling der Missionsschule, sondern ein anmaßender arabischer Häuptling.

 

»Sie wissen, warum ich gekommen bin«, sagte er und stemmte die Hände in die Hüften. »Wo ist sie? Ich will sie haben! Ich vermute, daß Sie noch nicht verheiratet sind – und selbst wenn Sie es sein sollten, macht mir das wenig aus.«

 

»Ich bin nicht verheiratet. Aber sie ist nicht mehr hier.«

 

»Was soll das heißen?«

 

»Sie sagte, lieber als mich würde sie den alten Bettler heiraten, der sie am Weg um Almosen bat – ich habe ihren Wunsch erfüllt.«

 

Sadis Augen wurden klein.

 

»Vor einer halben Stunde wurden sie getraut, sie sind jetzt in der Wüste.« Hamon zeigte mit einer Handbewegung über das Land.

 

»Sie lügen!« rief Sadi. »Mit solchen Geschichten können Sie mich nicht täuschen! Ich werde Ihr Haus durchsuchen, wie Morlake das meine durchsucht hat!«

 

Hinter Sadi standen zwanzig bewaffnete Leute.

 

»Es steht Ihnen frei, das Haus vom Harem bis zur Küche zu durchsuchen.« Hamon wußte gut genug, daß er machtlos war.

 

Aber Sadi konnte unmöglich eine gründliche Untersuchung vorgenommen haben, denn er kam kurz darauf schon wieder zurück.

 

»Ich habe mit Ihren Dienern gesprochen. Sie haben mir erzählt, daß Sie die Wahrheit sagten. Welchen Weg sind sie gegangen?«

 

Hamon zeigte ihm die Richtung, und Sadi gab seinen Leuten einen Befehl. Einer der Reiter feuerte in die Luft. Ein zweiter und dritter Schuß folgten.

 

»Wenn er daraufhin nicht zurückkommt, ziehen wir aus und suchen ihn«, rief Sadi grimmig.

 

Ralph zuckte die Schultern.

 

»Sie können tun, was Sie wollen. Mein Interesse an der Dame ist erloschen.«

 

Es war nicht die Wahrheit, aber sein Benehmen täuschte den Mauren.

 

»Sie waren ein Narr, sie gehen zu lassen«, erwiderte er etwas freundlicher.

 

»Wenn ich sie vorhin nicht hätte gehen lassen, so würden Sie mich wahrscheinlich jetzt dazu überredet haben.«

 

Sadis hinterlistiges Lächeln bestätigte Hamons Argwohn.

 

Eine Minute später ritten die Mauren den Hügel hinunter und zerstreuten sich nach rechts und links, um die Spur des Bettlers und der Frau zu finden.

 

Als Joan erwachte, sah sie in die dunklen Augen Sadis, der auf sie niederschaute.

 

»Wo ist Ihr Freund?« fragte er und bückte sich, um ihr aufzuhelfen.

 

Sie war noch kaum zu sich gekommen.

 

»Mein Freund – meinen Sie etwa Abdul?«

 

»Ach, Sie kennen seinen Namen?« fragte er höflich.

 

»Was wollen Sie von mir?«

 

»Ich will Sie nach Tanger zu Ihren Freunden bringen.«

 

Sie wußte, daß er log.

 

Als sie sich umblickte, sah sie nichts mehr von dem Bettler, nur das Pferd graste unter dem Baum. Sadi befahl einem Mann, das Tier zu holen, und half ihr in den Sattel.

 

»Ich war sehr beunruhigt«, sagte er in bestem Englisch, »als unser Freund Hamon mir die Dummheit erzählte, die er begangen hatte. Manchmal ist er nicht recht bei Verstand – ich bin sehr böse auf ihn. Lieben Sie Marokko, Lady Joan?«

 

»Nicht besonders.«

 

Er lachte vor sich hin.

 

»Das dachte ich mir.« Bewundernd schaute er zu ihr auf. »Wie gut Ihnen das maurische Kostüm steht! Man könnte denken, daß es besonders für Sie entworfen worden sei!«

 

Er ging an ihrer Seite, ein anderer Mann führte das Pferd.

 

Nach einer Weile kamen sie zu der Stelle zurück, wo die übrigen Leute seiner Gefolgschaft warteten. Sie saßen am Ufer und stiegen auf seinen Wink zu Pferd.

 

»Vielleicht ist es ganz gut, daß ich Ihren Mann nicht getroffen habe«, sagte Sadi bedeutungsvoll. »Hoffentlich hat er Ihnen keine Ursache zur Klage gegeben.«

 

Sie war nicht in der Stimmung, sich mit ihm zu unterhalten, und antwortete nur kurz.

 

Es wurde keine Zeit verloren. Gleich darauf saß sie auf einem schönen Zelter, der offensichtlich schon für sie mitgebracht worden war. Auch wenn sie Ralph Hamon geheiratet hätte, würde sie jetzt auf diesem Pferd durch die Wüste reiten, denn Sadi Hafis war gekommen, um sie mit sich nach seinem kleinen Haus in der Talsenke zu nehmen, gleich, ob sie verheiratet war oder nicht.

 

Er ritt fast den ganzen Tag an ihrer Seite und sprach sehr liebenswürdig von Menschen und Dingen, so daß sie über seine Bildung und seine umfassenden Kenntnisse erstaunt war.

 

»Ich war Hamons Agent in Tanger – Sie hatten wahrscheinlich den Eindruck, daß ich ein besserer Diener sei. Aber es gefiel mir, für ihn tätig zu sein. Er kennt weder Gewissensbisse noch Dankbarkeit.«

 

Vor Sonnenuntergang hielten sie an und schlugen ein Lager auf. Trotz der Kälte der Nacht bereiteten sich die Männer vor, im Freien zu schlafen, und hüllten sich in ihre wollenen Mäntel ein. Aber für Joan errichteten sie an der geschützten Stelle ein Zelt, das von einem Packpferd getragen worden war.

 

»Wir wollen bis Mitternacht hier rasten«, sagte Sadi. »Ich muß mein Ziel noch vor Tagesanbruch erreichen.«

 

Sie lag wach, lauschte auf jedes Geräusch und beobachtete den Schatten der rauchenden Feuer. Allmählich verstummten die Stimmen, nur ab und zu wieherte noch ein Pferd. Sie schaute auf ihre Armbanduhr – es war neun. Noch drei Stunden blieben ihr zur Flucht.

 

Sie zog den Vorhang des kleinen Zeltes beiseite, schaute hinaus und sah eine dunkle Gestalt. Vermutlich war es eine Wache. Auf dieser Seite konnte sie also nicht entkommen. Sie versuchte, den Zeltstoff an der Rückseite zu heben, aber er war mit Pflöcken in der Erde befestigt. Sie steckte ihre Hand durch, faßte den Zeltstock und bemühte sich, ihn mit aller Kraft herauszuziehen. Endlich gelang es ihr, und sie schlüpfte vorsichtig hinaus.

 

Gerade vor ihr lagen undurchdringliche Dornbüsche. Sie kroch an der Außenseite des Zeltes herum. Ihr weißes Kleid mußte sie sofort verraten, wenn die Wache den Kopf wandte. Aber sie fand doch eine Öffnung im Unterholz und kroch hindurch. Als der Wächter das Krachen der Zweige hörte, drehte er sich um und rief einige arabische Worte.

 

Nun sprang sie auf und lief vorwärts, so schnell sie konnte. Zuerst sah sie kaum auf Armlänge vor sich, rannte gegen einen Baum und fiel hin. Aber gleich darauf war sie wieder auf den Füßen. Der Mond ging eben auf, und sie sah, daß sie sieh auf einer Ebene befand, die mit Sträuchern bestanden war. Doch auch ihre Verfolger konnten sie jetzt erkennen.

 

Sofort war das ganze Lager in Aufruhr. Sie hörte Schreie und die aufgeregte Stimme Sadis, der selbst hinter ihr herritt. Sie wußte es, ohne sich umgesehen zu haben. Entsetzen trieb sie vorwärts, dennoch konnte sie nicht hoffen, zu entkommen. Immer näher kam er an sie heran, bis sie die Hufe des Pferdes dicht neben sich hörte. Der Reiter schnitt ihr den Weg ab.

 

»Oh, meine kleine Rose«, sagte er höflich, »das ist nicht der Weg zum Glück.«

 

Er streckte die Hand aus, packte sie am Mantel, sprang vom Pferd und nahm sie in die Arme.

 

»Diese Nacht will ich leben!« rief er heiser.

 

»Diese Nacht wirst du sterben!« erwiderte plötzlich eine helle, klare Stimme.

 

Sadi wandte sich blitzschnell um und griff in die Falten seines Gewandes, als er den Bettler vor sich sah.

 

Joan Carston starrte verstört auf das Gesicht des Alten, denn sie hatte eben Jim Morlakes Stimme gehört!