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»Eine Dame wünscht Sie zu sprechen«, sagte der Butler leise.

 

Jim schloß daraus, daß ein ungewöhnlicher Besuch gekommen war.

 

»Wer ist es denn?«

 

»Lady Joan.«

 

Jim sprang auf.

 

»Warum haben Sie die Dame nicht sofort hereingebeten?«

 

»Sie wollte nicht hereinkommen. Sie ist draußen und fragte mich nur, ob sie Sie sprechen könne.«

 

Jim eilte hinaus. Joan stand am Flußufer, hatte die Hände auf dem Rücken und schaute ins Wasser. Als sie seine Schritte hörte, wandte sie sich um.

 

»Ich möchte gern mit Ihnen sprechen. Wollen wir über den Fluß gehen? Ich bin auf dem Heimweg, und Sie könnten mich bis zu der Baumgruppe dort begleiten.«

 

Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her.

 

»Ich habe Sie neulich auf No Man’s Hill so plötzlich verlassen«, sagte Joan endlich. »Ich glaube, daß ich es Ihnen schuldig bin, meine Geschichte zu Ende zu erzählen.«

 

Dann berichtete sie ihm mit fast denselben Worten alles, was sie ihrem Vater mitgeteilt hatte. Er lauschte bestürzt.

 

»Die Trauung könnte annulliert werden«, erwiderte er.

 

»Mein Vater hat mir das auch gesagt, und vermutlich erscheint Ihnen die Sache sehr einfach. Aber für mich bedeutet es, daß ich vor Gericht aussagen muß und daß diese ganze böse Geschichte Punkt für Punkt erörtert wird.« Sie zitterte. »Ich glaube, das könnte ich nicht. Ich bin feige, wissen Sie.«

 

»Ich habe Sie nie dafür gehalten. Nein, Joan, man ist noch nicht feige, weil man vor den Häßlichkeiten des Lebens zurückschreckt. Sie wollen verreisen, nicht wahr?«

 

»Ich möchte eigentlich nicht fort, aber ich glaube, für meinen Vater ist es gut. Das Winterklima hier bekommt ihm nicht. Zuerst dachte ich, daß eine hinterhältige Absicht Hamons dabei sei, aber er geht ja nach Amerika. Er ist gerade bei meinem Vater, um sich zu verabschieden.«

 

»Deshalb habe ich wohl auch den Vorzug, mit Ihnen zusammen zu sein?« fragte er lachend..

 

Aber sie protestierte energisch.

 

»Nein, ich wäre unter allen Umständen gekommen, ich mußte Ihnen doch noch diese Aufklärung geben.«

 

»Wie geht es denn Farringdon?«

 

»Besser. Ich sollte eigentlich dankbar dafür sein, aber ich kann es nicht. Heute habe ich ihn gesehen, er ging hinter dem Haus spazieren.«

 

»Hat er sich schon wieder soweit erholt?« fragte er verwundert. »Würde er Sie denn wiedererkennen?«

 

»Ich habe das Gefühl, daß er mich schon erkannt hat. Der Doktor sagte zu Mrs. Cornford, daß sich solche Fälle mit erstaunlicher Schnelligkeit bessern können. Was soll ich nur tun, Jim?«

 

Er mußte an sich halten, um sie nicht in die Arme zu schließen. Er liebte sie, aber bisher war ihm noch nicht zum Bewußtsein gekommen, wie sehr er sie liebte. Sie war die Erfüllung seiner Wünsche und Träume, um ihretwillen hätte er sein ganzes Leben geändert.

 

Als sie ihn ansah, senkte sie den Blick schnell, als ob sie in seinen Augen etwas von dem Feuer erkannt hätte, das in ihm brannte. Er legte die Hand auf ihre Schulter, und sie empfand diese Berührung wie eine zarte Liebkosung. Langsam schritten sie dem Wald zu, und sie lehnte sich immer näher an ihn, bis ihre Wange seinen Ärmel berührte.

 

*

 

Ralph Hamon hätte Lord Creith eben Lebewohl gesagt und war in den Park gegangen, um Joan zu suchen, als er die beiden plötzlich erblickte. Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen. Selbst aus dieser Entfernung war es unmöglich, die stattliche Gestalt und das schöne Gesicht Jim Morlakes zu verkennen. Noch weniger waren die Beziehungen der beiden zueinander mißzuverstehen.

 

Sein Herz schlug wild vor ohnmächtiger Wut. Sicher bestand eine Verbindung zwischen Joan und Morlake! Als Lydia ihm von dieser Verlobung erzählt hatte, war er mit lächelnder Miene darüber weggegangen, aber jetzt zweifelte er nicht mehr im geringsten daran. Er eilte über den Abhang zu dem niedrigen Gehölz, um sie einzuholen. Er wußte nicht, was er tun oder sagen würde, aber er mußte sie finden und seinem Zorn freien Lauf lassen.

 

Als er den niederen Wald erreicht hatte, hielt er einen Augenblick an, hörte Schritte und sah gleich darauf einen Fußgänger. Es war Farringdon, den er im Haus von Mrs. Cornford so schwer krank gesehen hatte.

 

Hamon war nicht wenig erstaunt, diesem Mann hier zu begegnen, der seiner Meinung nach im Bett liegen mußte. Farringdon kam näher. Hamon versteckte sich und beobachtete ihn genau. Der junge Mann war nachlässig gekleidet. Er sprach im Gehen mit sich selbst, und Hamon strengte sich an, zu verstehen, was er sagte, aber es war unmöglich. In einiger Entfernung folgte er ihm, da er annahm, daß er dasselbe Ziel hatte wie er selbst.

 

Jim erlebte die schönsten Augenblicke seines Daseins. Alle Sorgen wichen von ihm, alle Pläne zerrannen, aller Ehrgeiz schwand vor diesem neuen, unerwarteten Glück. Schweigend ging er mit Joan durch den Wald, und die ganze Welt um sie her war versunken. Endlich hielt Joan an und setzte sich auf einen Baumstumpf.

 

»Wohin gehen wir?« fragte sie, und er wußte, daß sich ihre Frage nicht auf die Gegenwart allein bezog.

 

»Wir gehen ins Glück, früher oder später«, erwiderte er, ließ sich an ihrer Seite nieder und zog sie an sich. »Wir wollen alle Verstrickungen lösen, alle Hindernisse aus dem Weg schaffen, alle Pfade ebnen.«

 

Sie lächelte und bot ihm die Lippen.

 

In diesem Augenblick hörten sie ein leises, hämisches Lachen hinter sich. Jim löste sich sanft von Joan und wandte sich um.

 

»Ein liebliches Idyll im Wald! Ein angenehmer Anblick für einen Gatten – seine eigene Frau in den Armen eines anderen!«

 

Farringdon stand mit verschränkten Armen dicht vor ihm, und seine Augen glühten fiebrig. Joan sprang entsetzt auf.

 

»Er weiß es!«

 

Farringdon hörte ihren Ausruf.

 

»Er weiß es …!« äffte er sie nach. »Und ob er es weiß! Du bist also meine Joan?« Er nahm seinen Hut schwungvoll ab. »Ich freue mich sehr, Sie zu treffen, Mrs. Farringdon! Es ist schon lange her, daß wir durch die heilige Ehe miteinander verbunden wurden! Das ist also meine Joan! Ich habe all diese Jahre von dir geträumt, aber nie warst du so schön wie in Wirklichkeit. Weißt du es …« Er deutete mit zitterndem Finger auf sie. »Es begegnete mir ein Mädchen, das hätte ich heiraten können, und ich würde es geheiratet haben, wenn ich damals nicht diese verdammte Dummheit begangen hätte. Du warst das große Hindernis in meinem Leben. Nur durch den Trunk kam ich darüber hinweg!«

 

Er ging auf sie zu, packte sie am Arm und zog sie zu sich.

 

»Du kommst jetzt mit mir!« erklärte er und lachte rauh.

 

Im nächsten Augenblick wurde er weggestoßen und fiel taumelnd nieder. Jim bückte sich, um ihm wieder auf die Füße zu helfen, aber Farringdon schlug seine Hände zur Seite und stürzte sich mit einem Wutschrei auf ihn.

 

»Verdammter Hund!« schrie er. Aber in Jims starken Armen war er wie ein schwaches Kind.

 

»Sie sind krank, Farringdon«, sagte er liebenswürdig. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen weh getan habe.«

 

»Lassen Sie mich los! Lassen Sie mich los! Sie ist meine Frau … Ich laufe ins Dorf und sage es allen … Du kommst jetzt mit mir, Joan Carston, hörst du? Du bist mit mir verheiratet, bis der Tod uns scheidet!«

 

Er riß sich aus Jims Griff los, taumelte zurück und atmete schwer. Sein Gesicht war wutentstellt, und seine Augen hatten einen wilden Ausdruck.

 

»Ich habe jetzt etwas, wofür ich leben kann – und das bist du! Du kamst doch, um mich zu sehen, nicht wahr? Du wirst wiederkommen, Joan – aber allein!«

 

Plötzlich drehte er sich um und lief wie ein Besessener den Pfad hinunter, bis er aus ihrem Gesichtskreis entschwand. Jim wandte sich zu ihr, und sie versuchte zu lächeln.

 

»Ach, Jim!«

 

Es schmerzte ihn, zu fühlen, wie sie vor Angst und Aufregung zitterte, als sie in seinen Armen lag.

 

»Es geht mir schon wieder besser«, sagte sie nach einer Weile. »Gott sei Dank, daß wir am nächsten Sonnabend abfahren!«

 

Er nickte.

 

»Farringdon hat entweder wieder getrunken oder er ist ganz verrückt geworden.«

 

»Glaubst du, daß er in unser Haus kommen wird?« fragte sie ihn ängstlich, nahm sich dann aber zusammen und überwand ihre Aufregung. »Ich sagte dir ja, daß ich feige bin. Ich beginne die Frauen zu verstehen, die ihre Männer ermordet haben. Es ist fürchterlich, daß ich das sagen muß, aber es ist so.«

 

Es fiel beiden schwer zu sprechen, denn sie waren zu sehr von ihren eigenen Gedanken erfüllt. Als sie in die Nähe des Herrenhauses kamen, stellte Joan plötzlich eine Frage.

 

»Jim, was warst du eigentlich, bevor du Einbrecher wurdest?«

 

»Ein achtbares Mitglied der Gesellschaft. Eine Zeitlang war ich im diplomatischen Dienst.«

 

»In Marokko?«

 

»In Marokko, in der Türkei und anderen asiatischen Ländern. Ich gab meine Stellung auf – nun ja, weil ich genügend Privatvermögen besaß und weil ich eine neue abenteuerliche Aufgabe fand.«

 

»Aber du darfst deine jetzige Tätigkeit nicht fortsetzen. Wirst du mir schreiben?«

 

Er zögerte.

 

»Ach, ich habe ganz vergessen – du weißt ja gar nicht, wohin du schreiben sollst. Mein Vater läßt die ganze Post an den Englischen Klub in Cadiz schicken. Willst du dir das bitte merken? Auf Wiedersehen!«

 

Sie reichte ihm beide Hände.

 

Hamon beobachtete die beiden aus einiger Entfernung, und er knirschte mit den Zähnen, als Morlake Joan in die Arme nahm und küßte.