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Ralph Hamon betrieb mancherlei Geschäfte und war an vielen Projekten beteiligt. Das hohe Bürogebäude mit der schmalen Front, in dem seine Unternehmungen untergebracht waren, hieß das Marokko-Haus, denn die Interessen Mr. Hamons hatten hauptsächlich mit diesem Land zu tun.

 

Aufgeregt ging er durch die Räume. Er war nicht im Gericht gewesen; er hielt es für besser, sich dort nicht sehen zu lassen. Dagegen hatte er den Ausgang des Prozesses im Klub erwartet. Das ›Nicht schuldig‹ hatte seine Wut zur Weißglut gebracht.

 

Marborne hatte ihm allerdings schon vorher mitgeteilt, daß der Prozeß nicht nach Wunsch gehe und man mit Überraschungen rechnen müsse. Aber Hamons Meinung nach stand eine Verurteilung außer allem Zweifel, und er war seiner Sache so sicher, daß er an einen Freispruch Morlakes überhaupt nicht gedacht hatte. Und nun sah er sich plötzlich dieser schrecklichen Tatsache gegenüber. – Jim Morlake war frei, der alte Kampf begann von neuem. Solange Morlake auf freiem Fuß war, blieb Hamon bedroht.

 

Mr. Hamons Privatbüro ähnelte in gewisser Weise einem Boudoir. Dicke Teppiche bedeckten den Boden, bequeme, gepolsterte Möbel standen umher, und ein schwacher Duft von Weihrauch und Zedern schwebte in der Luft. Er schob den Stoß Briefe, den ihm ein Sekretär brachte, beiseite und schickte den Mann mit einem Fluch fort.

 

»Es sind drei Telegramme von Sadi angekommen«, sagte der Angestellte und blieb in der Tür stehen.

 

»Bringen Sie sie sofort her«, brummte Hamon. Er entzifferte sie mit Hilfe eines Notizbuches, das er aus der Tasche zog. Offensichtlich wurde seine Stimmung dadurch nicht besser, denn er saß zusammengekauert und hatte die Hände tief in die Hosentaschen vergraben. Schließlich griff er nach dem Telefonhörer und rief seine Wohnung am Grosvenor Place an.

 

»Sagen Sie Miss Lydia, daß ich sie sprechen möchte.« Nach einer geraumen Weile hörte er ihre Stimme. »Stelle den Apparat nach meinem Arbeitszimmer um«, bat er leise. »Ich muß eine private Sache mit dir besprechen. Morlake ist freigekommen.«

 

»Ach, wirklich?« fragte sie gleichgültig.

 

»Höre auf mit deinem ›Ach, wirklich‹!« fuhr er sie an. »Stelle das Telefon um.«

 

Er hörte ein Knacken, danach waren sie wieder verbunden.

 

»Was gibt es denn, Ralph? Ist es so schlimm, daß Morlake freigekommen ist?«

 

»Das ist das Schlimmste, was überhaupt passieren konnte. Jetzt mußt du dein Heil mit ihm versuchen, Lydia. Aus deiner Reise nach Karlsbad kann nichts werden. Wahrscheinlich muß ich nach Tanger gehen, und du mußt mich begleiten.«

 

Er hörte ihren betroffenen Ausruf und grinste.

 

»Du hast mir doch versprochen, daß ich nie mehr dorthin brauche«, beklagte sie sich. »Ralph, ist das wirklich nötig? Ich will ja gern alles tun, was du von mir verlangst, aber bringe mich nicht wieder in dieses schreckliche Haus.«

 

»Wir werden sehen – warte auf mich; in einer halben Stunde bin ich zu Hause.«

 

Er legte den Hörer auf, sah rasch die Korrespondenz durch und wollte gerade dem Sekretär klingeln, als der geschäftige und überarbeitete Mann schon in der Tür erschien.

 

»Ich kann niemand empfangen«, sagte Hamon schnell, als er eine Visitenkarte in seiner Hand sah.

 

»Aber er sagt –«

 

»Das ist mir ganz gleich, was er sagt – Sie hören doch, ich kann niemand empfangen. Wer ist es denn?««

 

Schnell nahm er die Karte und las. Captain Julius Welling von der Kriminalpolizei!

 

Ralph Hamon biß sich auf die Lippen. Er hatte von Welling gehört und wurde nervös.

 

»Lassen Sie ihn hereinkommen«, sagte er kurz.

 

Hamon war erstaunt, als er diesen Mann mit dem milden Gesicht vor sich sah, dem die weißen Haare ein freundliches, wohlwollendes Aussehen gaben. Der Beamte ging ein klein wenig vornübergeneigt und war sehr höflich.

 

»Bitte, nehmen Sie Platz, Captain Welling. Was wünschen Sie von mir?«

 

»Ich kam hier vorbei und dachte, daß ich einmal mit Ihnen sprechen könnte«, sagte Julius liebenswürdig. »Ich gehe oft hier vorbei – Sie liegen eigentlich sehr bequem für uns, Mr. Hamon – nur ein paar Schritte vom Kriminalgericht entfernt.«

 

Hamon schaute ihn unruhig an.

 

»Ich glaube, ich habe Sie in der Verhandlung gegen Morlake nicht gesehen.«

 

»Ich habe mich wenig für den Fall interessiert.«

 

»Ach so – ich nahm allerdings das Gegenteil an. Wie konnte ich auch nur auf einen solchen Gedanken kommen?«

 

Er sah mit traurigen Augen auf Hamon, der unter diesem Blick unsicher wurde.

 

»Es wäre ja auch möglich, daß ich mich in gewisser Weise dafür interessierte. Dieser Mensch ist mir schon seit Jahren auf die Nerven gefallen, und Sie wissen, daß ich in der Lage war, der Polizei einige wertvolle Informationen über ihn zu geben.

 

»Nicht der Polizei – Sie meinen wohl Inspektor Marborne, der allerdings auf den ersten Blick wie ein Polizeibeamter aussieht. Ein merkwürdiger Mann, dieser Mr. Morlake, nicht wahr?«

 

»Alle Verbrecher sind mehr oder weniger merkwürdig.«

 

»Da haben Sie recht – alle Verbrecher sind merkwürdig. Aber manche sind merkwürdiger als andere, und dann gibt es auch sehr merkwürdige Leute, die nicht zu den Verbrechern gehören. Haben Sie das auch schon beobachtet? Er hat einen maurischen Diener, Mahmet, und soviel ich weiß, spricht er sehr gut Arabisch. Aber sagen Sie einmal, Sie sprechen doch diese Sprache auch?«

 

»Ja.«

 

»Sehen Sie einmal an. Ist das nicht ein bemerkenswertes Zusammentreffen? Sie beide haben enge Beziehungen zu Marokko. Sie haben ja auch eine ganze Anzahl Gesellschaften gegründet, die mehr oder weniger mit dem Land zu tun haben. Da wurde zunächst die Marrakesch-Gesellschaft gegründet zur Ausbeutung der Ölquellen in der Wüste Hari. Die Wüste war da, aber kein Petroleum, wenn ich mich richtig besinne – und dann ging die Gesellschaft in Liquidation.«

 

»Es war wohl Petroleum da, aber die Quellen waren erschöpft.«

 

»Und Morlake – war der auch an marokkanischen Finanzgeschäften interessiert? Er lebte doch einige Zeit dort. Haben Sie ihn drüben getroffen?«

 

»Ich habe ihn niemals getroffen – einmal habe ich ihn allerdings gesehen. Aber Tanger ist doch der Ort, wo aller Unrat Europas zusammenkommt.«

 

»Da haben Sie recht. Erinnern Sie sich noch an das Rifdiamanten-Syndikat? Das haben Sie doch vor ungefähr zwölf Jahren gegründet?«

 

»Ja. Das ist leider auch in Liquidation gegangen.«

 

»Ich denke dabei weniger an die Gesellschaft als an die armen Aktionäre.«

 

»Darüber brauchen Sie sich keine Sorge zu machen, denn ich war der einzige Aktionär«, entgegnete Hamon schroff. »Wenn Sie aber hergekommen sind, Captain Welling, um sich nach meinen Gesellschaften zu erkundigen, dann wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie nicht immer um die Sache herumredeten, sondern mir ganz klar und offen sagten, was Sie wissen möchten.«

 

»Ich möchte gar nichts wissen.« Welling machte eine abwehrende Bewegung. »Ich bin nun schon so alt geworden, Mr. Hamon, daß ich gern ein bißchen klatsche. Ja, sehen Sie, so geht die Zeit hin; mir ist es, als ob ich die Prospekte des Rifdiamanten-Syndikats erst vor kurzem gelesen und von den prachtvollen Steinen gehört hätte, die in der Mine gefunden worden sein sollten, ungefähr fünfundvierzig Meilen südwestlich von Tanger. Sind eigentlich viele Leute darauf hereingefallen?«

 

Der Beamte sprach so gleichgültig und harmlos, daß Hamon die Beleidigung, die in diesen Worten lag, zuerst gar nicht merkte.

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fuhr er dann auf. »Ich habe Ihnen doch eben erklärt, daß keine Aktie in andere Hände ging. Nicht ein Penny fremdes Kapital steckte in der Gesellschaft!«

 

Mr. Welling seufzte, nahm Schirm und Hut und erhob sich etwas steifbeinig.

 

»So, so«, sagte er freundlich, »dann bleibt die ganze Sache also ein unerklärliches Geheimnis. Warum ist denn James Morlake so hinter Ihnen her, wenn keine Aktien ausgegeben wurden? Warum hat er denn seit zehn Jahren die Banken beraubt, bei denen Sie ein Depot haben, und warum wurde er dann zum Verbrecher?«

 

Er ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal um.

 

»Haben Sie einmal einen Matrosen in der Portsmouth Road getroffen?« fragte er.

 

Hamon zuckte zusammen.

 

»Heutzutage begegnen Sie solchen Leuten nicht mehr auf der Landstraße, sie fahren in der Eisenbahn bequemer. Und es ist auch sicherer dort, denn im Zug werden sie nicht so leicht erschlagen wie auf der einsamen Portsmouth Road. Denken Sie einmal darüber nach!«