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Stufen. Zwei Stufen – drei Stufen – vier Stufen – noch einmal vier Stufen. Treppenabsatz. Umdrehen. Eine Stufe – zwei Stufen – drei Stufen – vier Stufen – im ganzen elf Stufen – Treppenabsatz – nein, das war das Ende der Treppe.

 

Ein Schlüssel drehte sich, und wahrscheinlich öffnete sich eine Tür. Kalte, etwas muffige Luft wehte heraus, dann ging es weiter.

 

Frank Alwin kam das nach und nach zum Bewußtsein, oder wenigstens zum Halbbewußtsein, während sie ihn die Treppe hinuntertrugen. Seine Gedanken arbeiteten noch nicht vollkommen richtig, sonst hätte er nicht erst bei zwei zu zählen angefangen; sein Kopf schmerzte entsetzlich, und sein Gesicht war verklebt, als ob ihm jemand eine Gummilösung ins Gesicht gegossen hätte. Als er sich rühren wollte, fühlte er einen stechenden Schmerz im Arm, der vom Handgelenk bis zum Ellbogen brannte. Aber der Kopf war das schlimmste. Die Pulse in den Schläfen hämmerten; es war ihm, als ob sein Schädel in der Mitte durchgesägt worden sei und sich nun die beiden Hälften aneinander rieben. Die Qual war fast unerträglich. Am liebsten hätte er laut aufgeschrien, aber im Unterbewußtsein hatte er das Empfinden, daß er schweigen mußte. Er fühlte, daß ihn seine Träger mit der äußersten Sorgfalt behandelten und schließlich auf ein Bett legten.

 

Sprungfedermatratze, feuchtes Kissen, stellte er in Gedanken fest.

 

Eine elektrische Lampe wurde angedreht, und das blendendweiße Licht nach der absoluten Dunkelheit verursachte ihm noch größere Kopfschmerzen. Er stöhnte, drehte sich auf die andere Seite und stöhnte dann noch lauter.

 

»Donnerwetter«, sagte jemand. »Sieh dir einmal meinen Rock an. Blutflecken kann man niemals richtig auswaschen. Ich muß das Stück verbrennen. Es war auch zu blöd, daß wir ihn niederschlugen und hierherbrachten. Warum haben wir ihn nicht einfach auf der Straße liegenlassen?«

 

»Weil Rosie recht hat«, antwortete ein anderer.

 

Seine Stimme klang tiefer und unfreundlich.

 

»Rosie!« erwiderte der erste und lachte verächtlich.

 

Frank Alwin wunderte sich, wer wohl Rosie sein mochte. Trotz seiner großen Schmerzen dachte er nach.

 

Er besann sich jetzt, daß er aus dem Restaurant hinausgegangen war, weil, weil … es fiel ihm im Augenblick nicht ein, warum er auf die Straße getreten war. Nur eine ungefähre Erinnerung der späteren Ereignisse war ihm geblieben. Auf jeden Fall lag er nun hier auf dem Bett, und er lebte noch – das war immerhin etwas. Aber die beiden hatten doch eben von Rosie gesprochen …

 

»Ich sage dir, Rosie hatte recht«, sagte der Mann mit der rauhen Stimme. »Dieser Smith ist der gefährlichste Kerl in New York, und wir haben alle Ursache, uns vor ihm in acht zu nehmen.«

 

»Und wie ist es mit Peter Corelly?« fragte der erste wieder.

 

Der zweite schwieg. Er schien sich die Sache zu überlegen.

 

»Peter Corelly?« erwiderte er nach einer langen Pause. »Selbstverständlich ist Peter Corelly gefährlich, aber Wilbur Smith würde ihn nicht zur Bearbeitung desselben Falles heranziehen. Außerdem ist es wohl eine viel zu schwierige Sache für Peter Corelly.«

 

Wieder trat eine Pause ein, und Alwin hörte, daß sich jemand die Hände wusch. Der Mann sang auch leise ein Lied. Es ist merkwürdig, daß die Leute anfangen zu singen, wenn irgendwo ein Wasserhahn läuft.

 

»Aber das ist doch alles nur Annahme«, meinte der erste wieder, und seine Stimme klang noch verächtlicher als vorher. »Rosie glaubt doch nicht, daß Wilbur Smith die Verfolgung aufgibt, wenn sein Freund in Gefahr ist? Und wie soll er überhaupt davon erfahren, daß wir ihn nicht gleich umgebracht haben? Rosie sagte, wir würden zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, aber bis jetzt haben wir noch nicht einmal eine Fliege erwischt Dieser armselige Tropf hat doch das Geld nicht, und er lebt!«

 

Wieder ein langes Schweigen.

 

»Ja«, brummte der andere, »das scheint so zu sein. Vielleicht müssen wir unseren Plan ändern. Hat er wirklich gesagt, daß er Smith das Geld übergab? Vielleicht war er auch so benommen, daß er nicht wußte, was er redete.«

 

»Der wußte ganz genau, was er sagte«, entgegnete der erste. »Wilbur Smith hat das Geld, und dadurch ändert sich die ganze Lage.«

 

Frank versuchte verzweifelt, sich klarzumachen, was in den letzten Stunden oder in den letzten Minuten passiert war. Wann hatte er gesagt, daß er das Geld Wilbur Smith eingehändigt hatte? Er konnte sich nicht mehr an die wenigen Minuten erinnern, in denen er während des Transports das Bewußtsein wiedererlangt hatte. Aber rein gefühlsmäßig ahnte er, daß der Mann die Wahrheit sagte, und stöhnte aufs neue.

 

Einer der Leute trat an das Bett und beugte sich über ihn.

 

»Sie, heda!« sagte der Mann mit der unangenehmen Stimme. »Fühlen Sie sich wohler?«

 

Frank versuchte krampfhaft, die Augen zu öffnen – nach mehrfachen Anstrengungen gelang es ihm endlich. Viel konnte er von dem anderen Mann nicht erkennen, denn der hatte sein Gesicht mit einem seidenen Taschentuch verdeckt.

 

»Sie haben Glück gehabt«, fuhr der Verbrecher fort. »Von Rechts wegen sollten Sie längst tot sein. Sie befinden sich hier in einem kleinen Haus, das für mich gebaut worden ist. Es ist hier sehr wohnlich und komfortabel. Sie können auch ein kaltes Bad zur Erfrischung nehmen, wenn Sie wollen.«

 

Frank stöhnte aufs neue, dann hörte er nichts mehr, denn er verlor wieder das Bewußtsein. Der Mann mit dem halbverdeckten Gesicht setzte sich nieder, legte den Bewußtlosen auf den Rücken und schob ihm vorsichtig ein Augenlid hoch.

 

»Ich glaubte schon, er wäre gestorben. Du hast ihn doch gar nicht so hart geschlagen, Sammy?«

 

Sein Kamerad lachte. Er war kleiner und untersetzter als der andere, aber schneller in seinen Bewegungen. Vorsichtig und behutsam untersuchte er Franks Kopfwunden.

 

»Es ist nichts Ernstes; ein wenig Blut hat er allerdings verloren.«

 

Er sah sich in dem Raum um; die Wände bestanden aus einfachen Ziegelmauern und waren nicht einmal verputzt.

 

»Es mag ja ganz nett hier sein«, sagte er dann, »aber ich bin froh, daß ich mich hier nicht dauernd aufhalten muß. Tom, wenn wir beide und Rosie uns jemals verstecken müssen, dann ist das jedenfalls der letzte Zufluchtsort, den wir wählen würden. Ich weiß wohl, daß es hier ein Bad und eine Bibliothek mit vielen Büchern gibt, auch Vorrat an Konserven für lange Zeit. Sicher kannst du dich ein ganzes Jahr lang hier versteckt halten, wenn du nicht unvorsichtig bist. Aber was uns vor sechs Monaten noch glänzend erschien, ist es heute nicht mehr. Ich hielt es zuerst auch für eine fabelhafte Idee, als Rosie diese Räume einrichtete. Er hat den ganzen Bau geplant, die Maurer von Mexiko herübergebracht und sie dann wieder fortgeschickt. Keiner hier in New York hat gesehen, wie das Haus gebaut wurde. Seit der Zeit haben wir viel Geld gemacht, Tom. Damals erschien die Sache verhältnismäßig klein, so daß man sich kaum darum zu kümmern brauchte, aber jetzt ist es eine große Sache geworden, und ich muß sagen, daß Rosie es sehr fein angefangen hat.«

 

»Ich weiß nicht, was du immer mit Rosie hast.«

 

»Du hast ihn doch eben selbst so gelobt! Übrigens denke ich im Augenblick an etwas«, sagte er plötzlich in verändertem Ton.

 

Auf der anderen Seite des Zimmers standen zwei große Überseekoffer. Tom öffnete den ersten und betrachtete den Inhalt: Bücher, Papier, Schreibzeug und alle möglichen Büroartikel.

 

»Rosie will, daß wir hier aufräumen.«

 

»Aufräumen«, wiederholte Alwin, der plötzlich wieder zum Bewußtsein kam.

 

»Dann soll er herkommen und es selber tun«, erwiderte Sammy. »Das hat doch keine Eile.«

 

Er überlegte einen Augenblick.

 

»Aber vielleicht wäre es doch ganz gut, wenn wir Rosies Aufforderung folgten«, fuhr er fort. »Er sagt, es wäre ein gut Teil von Dingen in den beiden Koffern, die wir gebrauchen könnten. Auch recht gefährliche Sachen, wenn sie in falsche Hände kämen. Wir könnten das Zeug morgen abend zum Tempel mitnehmen. Und dann kann Rosie ja den Dummkopf überreden, es zu seinem Haus zu schicken.«

 

Wer ist wohl der Dummkopf? dachte Alwin. Er hörte, wie der eine seinen Stuhl gegen die Wand stellte.

 

»Jetzt wird es aber allmählich Zeit – warum kommt denn Rosie nicht?« fragte dann einer der beiden.

 

Plötzlich ertönte ein scharfes Klopfsignal. Frank glaubte, daß es von der Decke käme. Es klang, als ob jemand mit einem Spazierstock auf ein Steinpflaster stieße. Alwin überlegte sich, was wohl über dem Gewölbe sein mochte.

 

»Man braucht nur vom Wolf zu sprechen, dann ist er schon da«, sagte Sam. »Also, komm mit, Tom, er wird ja doch nicht heruntersteigen. Was soll er auch mit diesem Kerl hier machen?«

 

»Wir können ihn ruhig einen Augenblick allein lassen. Das Licht mag weiterbrennen! Vor allem wollen wir einmal hören, was Rosie zu berichten hat.«

 

Sie schlossen die Tür leise hinter sich, und Frank wandte mit größter Mühe den Kopf um. Er befand sich in einem geräumigen Keller. Allem Anschein nach waren die Mauern erst vor kurzer Zeit errichtet worden. Der Raum hatte einen rechteckigen Grundriß. Der Betonfußboden war mit weichen Matten bedeckt. Jedenfalls stellte man sich einen Keller im allgemeinen ganz anders vor. In dem sauberen und gutgelüfteten Raum standen drei Betten. Auf einem lag Alwin; die beiden anderen sah er zu beiden Seiten der Tür. Ein großer, einfacher Tisch nahm die Mitte des Zimmers ein; zwei Stühle und ein Sessel waren um ihn herum angeordnet. Diese Möbel und die beiden großen Kabinenkoffer bildeten die ganze Ausstattung des geräumigen Kellers.

 

In der Ecke, die am weitesten von der Eingangstür entfernt war, befand sich eine Tür; sie führte wahrscheinlich zu dem Baderaum, von dem der Mann vorher gesprochen hatte.

 

Mit einer außerordentlichen Willensanstrengung gelang es Alwin, sich bis zur Ecke des Bettes zu schieben. Dann klammerte er sich an das Fußende und erhob sich.

 

Alles um ihn her drehte sich. Er fühlte sich so unsicher, daß er jeden Augenblick umzusinken drohte, aber er riß sich zusammen, um nicht ohnmächtig zu werden. Vor allem hinderten ihn die furchtbaren Kopfschmerzen an klarem Denken. Trotzdem wollte er das Zimmer nach Waffen durchsuchen, die die anderen vielleicht unvorsichtigerweise zurückgelassen hatten – aber er war noch zu schwach.

 

Nachdem er sich ein paar Augenblicke unter größter Anstrengung aufrecht gehalten hatte, sank er wieder aufs Bett und legte sich hin. Die Erleichterung und die Ruhe taten ihm so wohl, daß er vorläufig nicht mehr den Versuch machte, sich zu erheben. Vorsichtig tastete er mit der Hand an den Kopf und entdeckte, daß man ihn oberflächlich verbunden hatte. Es blieb ihm im Augenblick nichts anderes übrig, als sich von der furchtbaren Schwäche zu erholen.

 

Er schlief ein, erst als sich die Tür öffnete, erwachte er. Die beiden Leute traten wieder ins Zimmer. Tom ärgerte sich und fluchte über die Kabinenkoffer. Allem Anschein nach hatte Rosie nicht nachgegeben. Obwohl die beiden verächtlich von ihm sprachen, mußte der Mann doch eine gewisse Bedeutung haben.

 

»Nun, was fangen wir mit dem Kerl hier an?« fragte plötzlich Sammy. Frank wußte, daß sie über ihn sprachen.

 

»Wir wollen ihm noch bis morgen abend Zeit lassen und einmal sehen, was wir mit Smith machen können.«

 

»Glaubst du denn, wir könnten dem etwas anhaben?«

 

»Smith? Aber bestimmt. Der hat das Geld – Rosie sagt es, und Rosie muß es wissen.«

 

»Das macht allerdings einen Unterschied. Die Geschichte kompliziert sich, weil der hier nicht mehr in Betracht kommt. Und ich muß sagen, das ist nun schon der dritte Fehler, den Rosie in den letzten drei Monaten gemacht hat.«

 

Sie hatten sich jetzt nach der anderen Seite des Zimmers gewandt und sprachen leise miteinander, so daß Frank ihre Unterhaltung nicht verstehen konnte. Er hörte nur, daß sie den einen Kabinenkoffer beiseite rückten, dann den zweiten öffneten und darin kramten. Frank hatte die Augen geschlossen, weil er sich schwach fühlte. Nach einer Weile wurde die Tür geschlossen. Die beiden hatten das Zimmer verlassen, und es herrschte wieder tiefes Schweigen.