16

 

Es war ein Uhr morgens, als Peter Corelly vor dem Haus des Bankiers Bertram erschien. Jose hatte ihn angerufen, und sie öffnete ihm auch selbst die Tür. Ein Blick auf ihr bleiches, ernstes Gesicht verriet ihm, daß etwas ungewöhnlich Ernstes vorgefallen sein mußte. Sie führte ihn nicht ins Wohnzimmer, sondern in die Bibliothek. Als er durch die Halle ging, sah er einen Mann die Treppe herunterkommen, in dem er einen der berühmtesten Ärzte der Stadt erkannte.

 

»Mein Vater hat einen Schlaganfall bekommen«, erklärte sie ihm ruhig. »Die Ärzte nehmen an, daß es Monate dauern wird, bevor er wieder auf der Höhe sein kann.«

 

Ihre Augen waren rot, und ihre Lippen zitterten, als sie sprach. Peter hätte kaum mehr tun können, als in konventioneller Weise sein Bedauern äußern, deshalb schwieg er.

 

»Und ich selbst bin in größten Schwierigkeiten, Mr. Corelly«, fuhr sie fort.

 

Sie setzte sich in einen Sessel an den Kamin, in dem ein schwaches Feuer brannte, und vermied seinen Blick.

 

»Sie sagten mir einmal, ich sollte mich an Sie wenden, wenn ich Sorgen hätte, dann würden Sie mir helfen.«

 

»Sie haben ganz recht getan.« Er lehnte am Kamin und sah sie an. »Erzählen Sie mir, soviel Sie können, und lassen Sie mich vermuten, was Sie nicht sagen wollen. Wann ist das Unglück geschehen?«

 

»Vor ungefähr zwei Stunden«, erwiderte sie leise. »Ich glaube, er machte sich große Sorgen – über mich. Sehen Sie, ich mußte ihm heute abend etwas sagen, Mr. Corelly, und es war nicht leicht – weder für ihn noch für mich.«

 

»War er in dem Tempel?«

 

Sie sah schnell auf.

 

»Dann wissen Sie also von dem Tempel?«

 

Er lächelte.

 

»Ich wußte nicht, daß er dort war, aber ich nahm es als sicher an.«

 

Langsam senkte sie den Kopf wieder.

 

»Mein Vater ist seit zwei Jahren in den Händen einer Verbrecherbande. Ich – ich mußte ihm alles sagen, was ich erfahren hatte. Es gab eine fürchterliche Szene.«

 

Sie nannte keinen Namen, aber er wußte, wen sie meinte.

 

»Mein armer Vater! Er hat sich immer so sehr für das Okkulte interessiert und hat auch selbst ein kleines Buch darüber geschrieben. Wußten Sie das?«

 

»Ja«, entgegnete Peter einfach.

 

»Es war betitelt ›Die Unterwelt‹«, fuhr sie fort. »Ich glaube, dieses Buch hat die Aufmerksamkeit der Bande auf ihn gelenkt, und durch den Professor ist mein Vater dann in diese entsetzliche Affäre hineingezogen worden. Ich weiß nicht, wer der Professor ist – für mich war er immer ein amüsanter, etwas eitler Mann. Und wenn er auch in mancher Weise abstoßend auf mich wirkte, hätte ich ihn doch niemals mit solchen Verbrechen in Verbindung gebracht. Ich wußte, daß mein Vater und er gute Freunde waren, da er fast jeden Abend bei uns speiste. Darüber freute ich mich sogar, da Vater nur wenig Freunde und kaum ein Vergnügen hatte. Ich fühlte mich erleichtert« – sie lächelte schwach –, »daß ich nicht allein die Verantwortung für ihn hatte. Sie müssen sich zum erstenmal getroffen haben, als ich noch auf der Schule war, denn als ich zurückkam, waren sie bereits unzertrennlich – und die große Mauer im Park war auch schon gebaut.«

 

»Ich verstehe. Daher wußten Sie auch nichts von dem Tempel, der dahintersteht. Das erschien mir zuerst etwas rätselhaft.«

 

»Ich hatte keine Ahnung von seiner Existenz, ebensowenig wußte die Dienerschaft etwas davon. Der Tempel muß unter Leitung des Professors oder eines seiner Komplicen gebaut worden sein, und es wurden nur ausländische Arbeiter zu diesem Zweck verwendet. Das habe ich erst erfahren, nachdem ich Nachforschungen anstellte.«

 

»Haben Sie eine Ahnung, wie Ihr Vater geschäftlich steht?« fragte Peter freundlich. Es schmerzte ihn, als er sah, daß sie zusammenzuckte.

 

»Ich glaube nicht, daß wir uns darüber Sorgen machen müssen. Vater ist sehr vermögend. Als meine Mutter starb, hinterließ sie mir eine Million Dollar, die von Treuhändern verwaltet wird, so daß ich also wegen der Finanzlage der Bank nicht ängstlich bin.«

 

Diese Mitteilung erleichterte Peter sehr, denn er hatte in dieser Beziehung die schlimmsten Befürchtungen gehabt. Er hatte das Gefühl, daß der Name Bertram, seit drei Generationen geachtet und angesehen, noch eher mit Mord verknüpft sein dürfte als mit einem Bankrott.

 

»Sie müssen mir noch eines zu meiner Beruhigung sagen«, bat er. »Dieser absurde Vorschlag, daß Sie den Erwählten der Götter heiraten sollen, ist doch nach diesen Enthüllungen vollständig für Sie erledigt?«

 

Zu seiner Überraschung antwortete sie nicht sofort und sah ihn auch nicht an.

 

»Sie meinen doch nicht…«, sagte er erstaunt.

 

»Ich meine, daß diese Heirat stattfinden muß«, erklärte sie und unterdrückte ein Schluchzen. »Mr. Corelly, wissen Sie nicht, daß der Gedanke an diese Heirat von der Bande ausgeht und daß sie den Repräsentabelsten aus ihrer Mitte ausgewählt haben?«

 

»Das konnte ich mir denken«, erwiderte er, »aber es gibt zehntausend Gründe dafür, ein Versprechen, das Ihr Vater oder Sie gegeben haben, nicht zu erfüllen. Um Himmels willen, das wäre ja ein entsetzlicher Gedanke!«

 

Sie schaute immer noch nicht auf.

 

»Ich möchte Sie bitten, mir in dieser schwierigen Lage zu helfen. Aber sagen Sie mir erst, ob es einen Weg gibt, den Namen meines Vaters aus dieser fürchterlichen Geschichte herauszuhalten?«

 

Nun mußte er schweigen. Er wußte sehr wohl, daß das unmöglich war. Sie deutete sein Schweigen richtig.

 

»Merken Sie jetzt, daß ich vollkommen in den Händen dieser drei Leute bin, Mr. Corelly? Das Wort meines Vaters steht gegen das ihre, und sie können ihn … Ach, es ist grauenhaft!«

 

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen.

 

»Sie können ihn in die Mordaffäre hineinziehen, wollen Sie sagen?«

 

Sie nickte zustimmend.

 

»Und Sie glauben, wenn Sie einen von ihnen heiraten, vermutlich den Führer der Bande, werden sie Ihren Vater in Ruhe lassen? Miss Bertram, Sie kennen die Methoden dieser Verbrecher nicht. Die Sache liegt nicht mehr in Ihren Händen, sie liegt in den Händen der Behörden. Es handelt sich auch nicht mehr darum, daß sie jemanden verraten. Wir haben genügend Beweise …«

 

Sie schüttelte den Kopf, und zum erstenmal sah sie ihm offen und gerade in die Augen.

 

»Sie irren sich, Mr. Corelly«, erklärte sie ruhig. »Sie haben gar keine Beweise, Sie haben nur Theorien. Nur mein Vater könnte beweisen, daß sie ihn betrogen und hintergangen haben, und er – er …«

 

Sie hielt inne und preßte das Taschentuch an die Lippen.

 

Peter zog zerstreut eine Zigarre aus der Tasche, schnitt das Ende ab und steckte sie an, bevor er wußte, was er eigentlich tat. Er wollte sie in den Kamin werfen, aber Jose hinderte ihn daran.

 

»Bitte, rauchen Sie doch …«

 

Sie fühlten sich beide äußerst unglücklich. Peter hatte sich Jose gegenüber niedergesetzt und starrte ins Feuer; sie hatte sich vorgelehnt und das Kinn in die Hände gestützt. Ihre Gedanken hatten dieselbe Richtung.

 

»Sie haben nicht unrecht, Miss Bertram«, meinte er schließlich. »Deshalb sind wir ja auch so niedergeschlagen. Es ist eine verblüffende Tatsache, daß wir bis jetzt keine Beweise haben. Niemand sah, daß Mrs. Laste erschossen wurde, niemand sah den Mann, der Wilbur Smith halbtot schlug oder Frank Alwin entführte. Es besteht starker Verdacht, aber dieser Verdacht führt zu keiner Verurteilung.«

 

Schweigend rauchte er einige Minuten. Nur die französische Uhr tickte auf dem Kamin, sonst war alles still.

 

»Ja, Sie haben wirklich nicht unrecht, Jose«, sagte Peter noch einmal.

 

Sie sah ihn etwas verwirrt an, aber offenbar wußte er gar nicht, daß er eben ihren Vornamen genannt hatte.

 

»Wir wußten schon die ganze Zeit um diese Schwierigkeiten«, fuhr er fort, »solange wir die Bande kennen. Wir hofften wider alles Erwarten, die richtigen Beweise zu bekommen, aber bis jetzt steht nur eine Person unter unmittelbarem Verdacht – und zwar Sie.«

 

»Ich?« erwiderte sie bestürzt.

 

»Es gibt genug Beweise, um Sie dreimal verurteilen zu können, aber ich weiß, daß Sie ein vollkommen unschuldiges Werkzeug in den Händen dieser Verbrecher waren. Ich weiß auch, daß die Leute im Ernstfall, wenn sie nicht besondere Ursache haben zu schweigen, Ihren Vater in die Mordaffäre hineinziehen werden, und zwar in einer solchen Weise, daß es praktisch unmöglich sein würde, seine Unschuld zu beweisen.«

 

Wieder trat Schweigen ein, dann erhob sich Jose.

 

»Sie sehen also doch auch«, sagte sie und machte eine verzweifelte Geste, »daß ich um meines Vaters willen auf die Wünsche dieser Leute eingehen muß – selbst wenn es sich um eine Heirat handelt.«

 

Sie brachte das Wort nur mühsam hervor. Peter stand langsam auf. Er lächelte ein wenig, und das seltsame Leuchten seiner Augen faszinierte sie.

 

»Miss Bertram, vermutlich werden sich dann eben wegen des goldenen Hades noch ein paar Tragödien mehr abspielen.«

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Diese Bande besteht aus drei Mitgliedern«, sagte Peter bedächtig. »Rosie Cavan – das ist der Professor; Tom Scatwell ist ein anderer englischer Verbrecher. Außerdem haben wir noch Sam Featherstone. Vielleicht hatten sie noch einen Helfer, als sie Wilbur Smith überfielen, denn Wilbur ist nicht gerade beliebt in diesen Kreisen. Drei Leute«, fügte er nachdenklich hinzu. »Und wenn die Geschichte nicht anders verläuft, als sie bis jetzt aussieht, dann werden sich wegen des goldenen Hades drei weitere Tragödien ereignen, drei nicht wiedergutzumachende Unglücksfälle.«

 

Im ersten Augenblick verstand sie nicht, aber dann trat sie schnell einen Schritt vorwärts, legte beide Hände auf seinen Arm und schaute ihm in die Augen.

 

»Das werden Sie nicht tun!« rief sie erregt. »Hören Sie? Das dulde ich auf keinen Fall! Lieber will ich alles auf mich nehmen, lieber soll mein Vater die volle Verantwortung tragen, als daß Sie so etwas Entsetzliches tun.«

 

Es wurde ihr klar, welchen Vorsatz er gefaßt hatte.

 

»Sie dürfen es nicht tun. Versprechen Sie mir, daß Sie es nicht tun – bitte, bitte!«

 

Er sah ihr lächelnd ins Gesicht.

 

»Es ist viel besser –«

 

Ihre Hand legte sich auf seinen Mund und brachte ihn zum Schweigen.

 

»Peter!«

 

Dieses eine Wort verwirrte ihn.

 

»Wenn Sie mich nicht ganz unglücklich machen wollen, dann schlagen Sie sich diesen Gedanken aus dem Kopf. Sollen die Gauner die Sache ruhig vor Gericht bringen!«

 

Er konnte nicht sprechen. Sie verstand sein Schweigen falsch und schüttelte ihn mit aller Kraft.

 

»Es muß sich ein anderer Ausweg finden!« drängte sie. »Bitte, bitte, tun Sie es nicht – um meinetwillen! Sie haben mich vorhin Jose genannt, und ich weiß, daß Sie mich gern haben.«

 

Plötzlich zog er sie in die Arme.

 

»Gern haben!« flüsterte er heiser. »Liebe, kleine Jose, vielleicht erschieße ich die Verbrecher nicht, vielleicht vergifte ich sie nur.«

 

Sie lachte wieder, denn sie wußte jetzt, daß sie gewonnen hatte.