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Vier Wochen später saß das junge Mädchen in dem Büro des Rechtsanwalts Parsons. In einem entzückenden Kostüm und mit leuchtenden Augen hörte sie seine Erklärungen an. Für sie bedeutete das alles eine völlig neue Welt.

 

»Meiner Meinung nach ist es nötig, daß Sie das Eigentum Ihres Großvaters einmal selbst ansehen. Es ist sowieso besser, wenn Sie gleich an Ort und Stelle sind, wenn die Verträge und Urkunden unterzeichnet werden müssen.«

 

»Wer will denn die Ländereien in Kanada kaufen?«

 

»Sir John Storey. Er besitzt bereits den größten Teil der anliegenden Grundstücke. Ich weiß allerdings nicht, wozu er diese dann auch noch braucht. Er soll sowieso sehr reich sein und hätte sie eigentlich nicht nötig.«

 

»Daß sich ein englischer Baron in eine solche Einsamkeit zurückzieht und auf alle Annehmlichkeiten und allen Komfort verzichtet, kann ich nicht recht verstehen«, meinte Dorothy.

 

»Nun, er ist schon sechs Jahre dort, und es scheint ihm ausgezeichnet zu bekommen. Im übrigen kann uns das ja gleichgültig sein.«

 

Dorothy dachte einen Augenblick nach.

 

»Ich würde zu gern nach Kanada fahren, aber allein wird das nicht gut gehen.«

 

Mr. Parsons lächelte.

 

»Wenn es Ihnen recht ist, könnten mein Sohn und ich Sie ja begleiten. Sie haben meinen Sohn übrigens schon gesehen, als Sie durch das vordere Büro kamen.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich glaube nicht. Dort saßen nur der Bürovorsteher und zwei Schreiber.«

 

Mr. Parsons war unangenehm berührt.

 

»Einer der beiden ist mein Sohn Reginald – Sie haben ihn wohl nicht so genau angesehen.«

 

Dorothy entschuldigte sich kurz. Mr. Parsons war auch von der Wichtigkeit seines Vorhabens zu sehr überzeugt, als daß ihn solche Kleinigkeiten hätten verletzen können.

 

»Also, wir werden Sie begleiten, damit Sie sicher zu Sir John Storey kommen.«

 

»Wieso denn zu Sir John Storey? Ich kann doch auch in der nächsten Stadt bleiben.«

 

»Leider ist keine Stadt in der Nähe, wo Sie bleiben könnten – im Gegenteil, wir werden etwa drei Tage reiten müssen, ehe wir den Landsitz des Barons erreichen. Außerdem habe ich gerade heute einen Brief von Sir John erhalten, in dem er Sie und mich sowie meinen Sohn herzlich zu sich einlädt, bis die Formalitäten zur Abtretung der Ländereien erledigt sind.«

 

»Ach, das ist ja herrlich!« rief Dorothy begeistert. »Schon immer habe ich mir gewünscht, reisen und etwas von der Welt sehen zu können.«

 

So kam es, daß Dorothy, Mr. Parsons und sein Sohn an einem kühlen Oktobermorgen mit dem Dampfer ›Nelson‹ in Little Beach eintrafen.

 

Der Ort war ziemlich klein: Er bestand nur aus wenigen Häusern.

 

Dorothy war begeistert von der herrlichen Gebirgslandschaft. Von weitem sah sie den riesigen Gipfel des Mount Mac Gregor, und es erschien ihr alles zauberhaft schön. Die hohen, schneebedeckten Bergriesen machten einen überwältigenden Eindruck auf sie. Schon auf der Fahrt hatten sich immer neue Wunder der großartigen kanadischen Landschaft vor ihr aufgetan. Tief atmete sie die köstlich frische Bergluft ein.

 

»Es ist verdammt kalt hier«, sagte Mr. Parsons ärgerlich, »und ich fürchte, daß wir auch kaum etwas Ordentliches zu essen bekommen.«

 

Er sah sich nach allen Seiten um und bemerkte an der Tür eines Hauses eine Anzahl von Männern. Einer von ihnen, in einem langen Mantel und schweren Stiefeln, kam auf sie zu. Der Rechtsanwalt ging ihm entgegen.

 

»Ihr Vater hat doch wohl dafür gesorgt, daß wir hier abgeholt werden, Mr. Parsons?« fragte Dorothy den jungen Mann.

 

»Sagen Sie doch bitte Reggie zu mir. Warum sollen wir uns nicht beim Vornamen nennen, Dorothy?« bat er.

 

»Weil ich nicht möchte, daß Sie mich mit Dorothy anreden«, entgegnete sie kurz.

 

*

 

Die Reise war herrlich, aber die ständige Gegenwart des jungen Parsons fiel ihr allmählich auf die Nerven. Die Anwesenheit des Rechtsanwalts machte ihr nicht viel aus, aber dieser vorlaute junge Mann, der ihr bei jeder Gelegenheit den Hof machte, war ihr lästig.

 

»Ich wünschte, Sie wären nicht so unliebenswürdig zu mir«, erwiderte er vorwurfsvoll. »Ich hatte keine Ahnung, daß Sie mir so gut gefallen würden, als ich meinem Vater versprach, diese Reise mitzumachen. Am liebsten würde ich dauernd mit Ihnen zusammen sein.«

 

»Sagen Sie, ist das der Mann, der uns durch die Berge begleiten soll?«

 

»Ja, ich nehme an. Mein Vater sagte, er wäre der Sheriff oder so etwas Ähnliches.«

 

»Reiten wir gleich ab?« fragte sie interessiert weiter.

 

»Ich hoffe«, brummte Reginald und starrte ärgerlich auf den Mann in dem groben Mantel und den Reitstiefeln. »Je eher wir aus diesem schrecklichen Nest fortkommen, desto besser ist es.«

 

Mr. Parsons kam mit dem Mann auf die beiden zu.

 

»Ich möchte Ihnen Sheriff Henesey vorstellen«, sagte er. »Er wird uns bis zu Sir John Storeys Landsitz begleiten.«

 

Der Fremde war ein gutaussehender stattlicher Mann von etwa fünfzig Jahren. Er schüttelte Dorothy und Reginald kräftig die Hand.

 

»Ihre Pferde und der Wagen stehen bereit – Sie wissen doch, daß wir etwa drei Tage unterwegs sein werden?«

 

»Kommen wir durch eine schöne Gegend?« erkundigte sich Dorothy. »Aber diese Frage ist wohl überflüssig, denn hier scheint es überall wunderbar zu sein«, fügte sie begeistert hinzu.

 

»Ich kenne Ihren Geschmack nicht«, entgegnete der Sheriff vorsichtig. »Interessant ist die Gegend sicher. Jedenfalls ist es nicht leicht, den Weg zu Sir John Storeys Landsitz zu finden, wenn man ihn nicht genau kennt. Keiner der Leute hier im Ort ist je dort gewesen, auch ich nicht – Sie hatten doch hoffentlich damit gerechnet, daß wir einen Führer brauchen?«

 

Die letzte Frage war an Mr. Parsons gerichtet, und der Anwalt nickte.

 

»Ja, ich glaube, das wollte ein gewisser Harvey übernehmen.«

 

Der Sheriff runzelte die Stirn.

 

»Joe Harvey? Ich fürchte, da muß ich Sie enttäuschen – er hat sich vor einer Woche ein Bein gebrochen und ist mit dem Dampfer nach Norden geschickt worden. Aber ich werde schon jemand auftreiben, wenn auch die Einheimischen sich nicht leicht überreden lassen werden und die Strecke leider auch nicht richtig oder nur teilweise kennen.« Henesey ging zu dem Haus zurück, von dem er gekommen war. Die Gruppe der Neugierigen bestand nur aus etwa sechs bis acht Männern. Der Sheriff verhandelte mit ihnen. Nach einer Weile kam er wieder.

 

*

 

»Also, von denen dort will es keiner tun, aber gestern abend ist ein Mann hierhergekommen, der es eventuell übernehmen würde, hieß es. Er kennt die Gegend gut, aber ich weiß nicht, ob Sie ihn zum Führer nehmen wollen.«

 

»Wer ist es denn?« fragte Mr. Parsons.

 

»Wir nennen ihn hier ›Harry mit den Handschuhen‹. Er muß Jäger sein, aber viel Mühe scheint er sich wohl nicht damit zu geben, denn bis jetzt hat er noch keine Felle zum Verkauf hergebracht. Regelmäßig alle sechs Wochen taucht er hier auf. Manche halten ihn für einen zweifelhaften Charakter, aber ich habe nie feststellen können, daß er sich etwas hätte zuschulden kommen lassen.«

 

Der Anwalt zögerte.

 

»Warum heißt er denn ›Harry mit den Handschuhen‹?«

 

»Weil er immer Lederhandschuhe trägt«, erwiderte der Sheriff ungeduldig. »Er sieht zwar nicht besonders vertrauenswürdig aus, aber man könnte ja mal mit ihm sprechen.«

 

Henesey pfiff und rief der Gruppe von Männern etwas zu. Einer von ihnen verschwand im Haus – offensichtlich der Gasthof – und kam nach einer Weile mit einem Mann wieder heraus, der wohl drinnen bei einem Bier gesessen hatte.

 

Henesey hatte nicht zuviel behauptet, wenn er meinte, ›Harry mit den Handschuhen‹ sähe nicht besonders vertrauenswürdig aus. Der Mann hatte einen struppigen Bart, und auch sein Haar hätte einen Friseur vertragen können. Sein linkes Auge war durch eine schmutzige Binde verdeckt. Sein Anzug war staubig und die Stiefel grau von Schmutzspritzern. Den Rucksack hatte er mit einem Strick über die Schulter gehängt. Der finstere Eindruck wurde noch verstärkt durch eine doppelläufige Büchse, die er in der Hand hielt, und einen Revolver, der in einem Futteral an seinem Gürtel hing. Er sagte kein Wort. Ruhig stand er vor den Ankömmlingen und musterte sie auf eine Weise, die dem Rechtsanwalt nicht besonders angenehm war.

 

»Kennt er den Weg auch wirklich?« fragte Mr. Parsons zweifelnd. Er hatte keine große Lust, mit diesem Individuum in eine so einsame Gegend zu gehen.

 

Der Fremde nickte.

 

Dorothy betrachtete ihn interessiert. Er paßte jedenfalls besser in diese wilde Gegend als ihre anderen Begleiter. Neugierig sah sie auf seine Hände, und tatsächlich trug er Handschuhe, die früher einmal eine helle Farbe gehabt haben mußten. Noch jetzt konnte man erkennen, daß das Leder außergewöhnlich fein und weich war.

 

»Also Sie sind unser Führer, Harry«, sagte der Rechtsanwalt.

 

Ohne ein Wort zu verlieren, wandte Harry der Gesellschaft den Rücken und ging fort.

 

»Unter keinen Umständen wird es Ihnen gelingen, ihn zum Sprechen zu bringen. In manchen Holzfällerlagern nennt man ihn deshalb den ›Stummen‹. Er hält sich immer abseits von den andern und sagt nur das Notwendigste.«

 

»Allem Anschein nach rasiert er sich auch nicht. Könnten wir ihn vom Friseur nicht ein wenig in Ordnung bringen lassen?«

 

Der Sheriff biß das Ende seiner Zigarre ab und steckte sie an.

 

»Der einzige Friseur in Little Pine Beach hat vor einer Woche das Delirium tremens bekommen.«

 

»Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als den Mann so zu nehmen, wie er ist«, meinte der Rechtsanwalt resignierend.

 

Dorothy konnte den Führer nicht so abstoßend finden. Irgendwie empfand sie einen gewissen Respekt vor seiner Wortkargheit und ruhigen Bestimmtheit. Als sich die Gesellschaft in Bewegung setzte, ritt sie darum auch hinter ihm, und sie grübelte die ganze Zeit darüber nach, was für ein Leben dieser Mann wohl führte. Für sie war es, als ob eine Gestalt aus einem Abenteuerroman lebendig geworden wäre. Fast ehrfürchtig betrachtete sie den Revolver – ob Harry damit wohl schon einen Menschen niedergeschossen hatte? Sicher kam man in einem solchen Leben nicht ohne Gewalt und Kampf aus.

 

Wahrscheinlich hatte er sich auf ähnliche Weise auch die Verletzung an seinem Auge zugezogen.

 

Je höher sie kamen, desto herrlicher wurde die Aussicht, die sie von Berghängen oder über Schluchten hinweg hatten. Sie ritten zunächst zum Dead-Horse-Paß. Gegen Abend sattelten sie ab, und man schlug Zelte für die Nacht auf. Henesey verhandelte eine Weile mit dem Führer, dann kam er zu den anderen zurück und schüttelte den Kopf.

 

»Wir müssen selbst unser Essen machen«, berichtete er. »Er will nur für die junge Dame etwas kochen – für niemand sonst.«

 

»Sagen Sie ihm doch, daß wir auch allein für die junge Dame sorgen können«, fuhr Parsons auf.

 

»Bestellen Sie ihm bitte, Mr. Henesey, daß ich sehr gerne probieren möchte, was er gekocht hat«, warf Dorothy ruhig ein.

 

Der Rechtsanwalt machte keinen Einwand«, warf aber seinem Sohn einen schnellen Blick zu.

 

Harry mochte der schlimmste Landstreicher in ganz Kanada sein – aber er konnte kochen. Er bot Dorothy eine ausgezeichnete dicke Gemüsesuppe mit Fleischeinlage an und hinterher eine Tasse Kaffee, wie sie ihn überhaupt noch nie geschmeckt hatte.

 

Mr. Parsons, der viel für gutes Essen übrig hatte, betrachtete melancholisch seine eigene Mahlzeit.

 

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Der Weg war jetzt breiter, so daß Dorothy neben dem schweigsamen Mann reiten konnte, der ihre Gedanken immer stärker beschäftigte.

 

»Was macht denn Ihr Auge? Ist es sehr schlimm?«

 

»Nein«, entgegnete er brummig.

 

Sie hätte ihn zu gerne gefragt, wie er zu der Verletzung gekommen wäre, aber sie traute sich nicht, ihn nochmals anzureden.

 

Als ob er ihre Gedanken erraten hätte, sagte er plötzlich: »Es kam durch einen Jagdunfall – als ich einen Luchs schoß.«

 

Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinander her. Dann wandte sich Dorothy wieder an ihn.

 

»Diese Gegend ist herrlich. Es ist für mich Stadtkind wie eine Offenbarung. Aber Sie leben ja hier; für Sie ist das natürlich nichts Neues.«

 

Er antwortete nicht darauf.

 

»Warum reiten Sie eigentlich zu Storey?« fragte er nach einer Weile.

 

Sie erzählte ihm alles ganz offen, und er hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Während sie sprach, fiel ihr auf, daß in seinem Haar und Bart schon einzelne graue Haare zu sehen waren. Trotzdem hätte sie sein Alter nicht schätzen können, denn die braune Hautfarbe ließ ihn jünger aussehen, als er war.

 

Plötzlich sah er sie an.

 

»Sie hätten doch nicht in diese rauhe Gegend zu kommen brauchen«, sagte er mit seiner tiefen Stimme. »Die Anwälte hätten die Verträge allein fertigmachen können.«

 

»Mr. Parsons sagte aber, es wäre nötig, daß ich käme.«

 

Auf einmal kam ihr ein Gedanke, und sie war so erstaunt, daß sie ihn laut aussprach.

 

»Morgen ist mein Geburtstag – ich werde dreiundzwanzig. Es wäre sehr schlimm für mich, wenn es schon der vierundzwanzigste wäre.«

 

Er kümmerte sich nicht um ihre Worte, und das ärgerte sie. Wieder ritten sie eine Weile schweigend nebeneinander her. »Warum wollen Sie denn nicht vierundzwanzig werden?« fragte er dann unerwartet.

 

»Ach, es ist nicht wichtig«, entgegnete sie kühl.

 

Er drang auch nicht weiter in sie, und das ärgerte sie noch mehr.

 

*

 

An diesem Abend war Reginald besonders aufmerksam zu ihr. Sein Vater schien ihn auch absichtlich mit ihr allein zu lassen. Schlimm wurde es aber, als Mr. Parsons den Sheriff mitnahm, um ihm vom Abhang einen wunderbaren Ausblick zu zeigen.

 

Dorothy hatte ihre Abendmahlzeit beendet und wollte gerade aufstehen, als Reggie auf sie zukam und sie am Arm festhielt.

 

»Gehen Sie bitte nicht weg, ich muß Ihnen was sagen, Dorothy«, sagte er und räusperte sich.

 

Sein Ton war so sonderbar, daß sie ihn erstaunt anblickte.

 

»Dorothy, ich liebe Sie«, erklärte er heiser. »Ich liebe Sie – ich habe Sie wirklich verdammt gern!«

 

»Ich will aber nicht, daß man mich ›verdammt‹ gern hat«, sagte sie kühl, obwohl sie innerlich vor Ärger über seine Hartnäckigkeit kochte.

 

Reginald wußte nicht, was er nun tun sollte. »Nimm die Festung im Sturm«, hatte ihm sein Vater am Nachmittag geraten.

 

»Dorothy«, begann Reginald wieder und ergriff ihre Hand, »ich bin Ihrer nicht wert.«

 

»Gott sei Dank, daß wir wenigstens einmal in unseren Ansichten übereinstimmen«, entgegnete sie. Aber bevor sie wußte, was geschah, hatte er sie in die Arme geschlossen und drückte seine Lippen auf die ihren.

 

Sie versuchte verzweifelt, sich frei zu machen, aber plötzlich packte jemand Reggie am Kragen und zog ihn zurück. Der junge Mann ließ sie los und schaute sich wütend um.

 

»Verdammt, was fällt Ihnen ein?« rief er außer sich. Er wollte sich losreißen, aber Harry hielt ihn eisern fest.

 

Schließlich ließ er los, gab ihm aber dabei einen solchen Stoß, daß er fast gefallen wäre. Fluchend zog Reginald seinen Revolver.

 

»Stecken Sie das Schießeisen ruhig wieder weg«, sagte Harry, und widerwillig gehorchte der junge Mann. Harry sah ihn so verächtlich an, daß ihm das Blut zu Kopf stieg.

 

»Was ist denn hier los?« fragte der Anwalt, der aufmerksam geworden war und eilig herbeikam.

 

Dorothy, die ein paar Schritte weitergegangen war, hörte, was Reginald seinem Vater erzählte. Zu ihrem größten Erstaunen wurde der Anwalt nicht ärgerlich über die Frechheit seines Sohnes, sondern wandte sich mit einem verbindlichen Lächeln an das junge Mädchen.

 

»Das ist allerdings sehr unangenehm, Miss Trent, besonders, weil ich am Tag der Abreise das Testament noch einmal genau durchgelesen habe. Dabei mußte ich leider feststellen, daß ich das Testament nicht genau genug geprüft habe. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß Sie vor Ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag heiraten müssen nicht vor Ihrem vierundzwanzigsten.«

 

Sie sah ihn erschrocken an.

 

»Was – bevor ich dreiundzwanzig werde?« Sie glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Sicher irren Sie sich.«

 

»Ich bedaure den Irrtum außerordentlich, aber in dem Testament steht ausdrücklich der dreiundzwanzigste Geburtstag, Es tut mir leid, daß ich Ihnen das Testament nicht gezeigt habe.«

 

Dorothy überlegte blitzschnell.

 

»Das heißt, daß ich neun Zehntel des Vermögens verliere, wenn ich nicht heute abend noch heirate?«

 

Parsons nickte zustimmend.

 

Harry, der noch immer dabeistand, sah, daß ihr das Blut in die Wangen stieg.

 

»Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel!« rief Dorothy mit zitternder Stimme. »Deshalb also wollten Sie so dringend, daß ich in diese einsame Gegend reiste. Es wäre überhaupt nicht nötig gewesen, daß ich herkam. Sie haben es aber extra so eingerichtet, daß ich am Vorabend meines dreiundzwanzigsten Geburtstags hier von aller Welt verlassen und auf Sie angewiesen bin, weil Sie mich mit Reginald verkuppeln wollten!«

 

Wer konnte ihr nur hier helfen? Sie überlegte fieberhaft, ob es nicht noch einen Ausweg gäbe. Dann fiel ihr ein: »Sie sind natürlich der Beamte«, sagte sie zu Henesey, »der mich mit Reginald trauen sollte, nicht wahr?«

 

»Ja, deshalb habe ich die Gesellschaft begleitet – das war der Sinn meines Mitkommens«, erklärte der Sheriff, wandte sich ab und spuckte aus. »Mir wurde gesagt, Sie seien romantisch und hätten die Absicht, hier in den Bergen zu heiraten.«

 

Dorothy wußte plötzlich, was sie tun mußte. Sie trat zu Harry, der ihr trotz seines verbundenen Auges, seines wilden Bartes, seines abgerissenen Aussehens von Anfang an Vertrauen eingeflößt hatte.

 

»Kann ich Sie einen Augenblick allein sprechen?« fragte sie. Sie war rot geworden, sprach aber entschlossen weiter, nachdem sie sich von den anderen entfernt hatten.

 

»Sind Sie verheiratet?« fragte sie schnell.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich gebe Ihnen zehntausend – nein, hunderttausend Dollar, wenn Sie mich jetzt heiraten. Aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie mich verlassen, sobald wir wieder in Little Pine Beach sind.«

 

Er überlegte eine Weile.

 

»Ja«, erwiderte er dann. »Ich werde Sie verlassen, wenn Sie wieder in Little Pine Beach sind und es wünschen, daß ich Sie verlassen soll.«

 

Sie sah ihn prüfend an, aber er zuckte mit keiner Wimper.

 

»Also, wollen Sie mich heiraten?«

 

Er nickte.

 

»Ich sehe nicht ein, warum ich es nicht tun sollte. Ich habe heute abend sowieso nichts Besonderes vor.«

 

Dorothy ging zum Lagerfeuer zurück.

 

»Sheriff Henesey, können Sie mich jetzt trauen?«

 

»Selbstverständlich!«

 

»Mit oder ohne Papiere?«

 

»Eine Heiratsbewilligung brauchen wir hier draußen nicht.«

 

»Das ist ja wunderbar.« Sie nahm Harrys Hand. »Trauen Sie uns.«

 

Rechtsanwalt Parsons sprang auf.

 

»Nein! Das dürfen Sie nicht tun!« rief er laut.

 

»Sie können nichts daran ändern, seien Sie also still!« sagte Harry ruhig. »Mr. Henesey, fangen Sie doch bitte mit der Trauung an.«

 

In der Nacht schlief Dorothy im Zelt ihres Mannes. Er selbst wickelte sich in seine Decken und übernachtete draußen vor dem Zelt.

 

Am nächsten Morgen setzten sie den Ritt fort. Keiner von ihnen sagte ein Wort, und es herrschte allgemein eine gedrückte Stimmung.

 

Nur einmal brach Mr. Parsons das Schweigen.

 

»Wie heißt denn der Kerl eigentlich?« fragte er den Sheriff.

 

»Ich glaube Torker – oder Morley oder so ähnlich. Ich habe den Namen nicht genau verstanden. Aber er muß ihn mir ja sagen, wenn ich den endgültigen Trauschein ausstelle.«

 

Dorothy ritt mit ihrem Mann voraus, aber auch die beiden waren verhältnismäßig schweigsam.

 

Schließlich kamen sie am Nachmittag auf dem Gut Sir John Storeys an.

 

»Sind Sie dem Baron schon einmal begegnet?« fragte Dorothy ihren Mann.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

Sie stellte noch ein paar Fragen, und er nickte nur, ohne etwas zu sagen.

 

»Gesprächiger sind Sie ja nicht geworden!« rief sie ärgerlich aus.

 

»Nein, ich sage selten, was ich denke.«

 

Bestürzt sah sie ihn an.

 

Er fuhr fort: »Vermutlich wollen Sie mich nicht mehr sehen, wenn wir zum Haus kommen. Es wird Ihnen nicht passen, in meiner Gesellschaft gesehen zu werden.«

 

»Sie haben versprochen, mich nach Little Pine Beach zurückzubringen. Außerdem müssen Sie mir doch noch Ihre Adresse sagen, damit ich Ihnen das Geld schicken kann.«

 

»Ich will kein Geld.«

 

»Aber Sie haben es doch versprochen!« rief sie ganz verzweifelt über solchen Starrsinn aus.

 

Er antwortete nicht darauf.

 

Das Haus des Barons war eine große Überraschung für Dorothy. Sie hatte in dieser Umgebung eigentlich Blockhäuser oder ähnliches erwartet. Was sie aber vorfanden, war ein wahrhaft fürstlicher Landsitz. Diener in Livree kamen aus dem Gebäude, halfen ihr beim Absteigen und brachten sie in die große Eingangshalle, die mit Geweihen und anderen Jagdtrophäen geschmückt war.

 

Auch ein Butler erschien, der ebensogut auf ein englisches Schloß hätte gehören können.

 

Dorothy sah sich nach ihrem Mann um, aber er war inzwischen verschwunden.

 

Reginald hatte sie beobachtet.

 

»Nun, wo ist denn der Herr Gemahl geblieben, Mrs …, den Namen habe ich nicht verstanden?« erkundigte er sich spöttisch.

 

Dorothy wurde rot und wandte sich an den Butler.

 

»Ach, würden Sie Mr. – Mr. – sehen Sie doch bitte nach, ob mein Mann draußen ist«, führ sie dann energisch fort. Sie ärgerte sich nicht nur über die Taktlosigkeit des jungen Mannes, sondern schämte sich auch, daß sie ihren eigenen Namen nicht wußte.

 

Der Butler kam gleich darauf zurück.

 

»Er läßt sich entschuldigen – er käme später«, sagte er höflich.

 

»Ist denn Sir John zu Hause?« fragte der Rechtsanwalt.

 

»Nein, er ist augenblicklich nicht anwesend, aber ich werde ihm Ihre Ankunft melden, wenn er zurückkommt. – Ich habe Ihr Gepäck auf die Zimmer bringen lassen, meine Herren. Wollen Sie sich zum Abendessen umkleiden? Sir John tut es immer.«

 

Rechtsanwalt Parsons und sein Sohn hatten selbstverständlich Abendanzüge mitgenommen. Sheriff Henesey war schon wieder fortgeritten. Er hatte die Trauungsurkunde ausgefertigt und befand sich bereits auf dem Weg nach Little Pine Beach.

 

Dorothy sah ihren Mann an diesem Nachmittag nicht mehr. Nur einmal entdeckte sie ihn von weitem, Er hatte den Sheriff ein Stück begleitet und betrat das Haus von der Rückseite durch den Eingang für das Personal.

 

*

 

Mit größter Sorgfalt zog sich Dorothy zum Abendessen an. Es war das erstemal, daß sie in dieser Gegend ein richtiges Abendkleid anlegen konnte. Wie mochte wohl der Baron aussehen, schoß es ihr durch den Kopf. Ob sie ihm gefallen würde? Aber sie verscheuchte diesen Gedanken sofort. Was würde Harry sagen, wenn er sie in diesem Kleid sehen, könnte? Wahrscheinlich dachte er doch an nichts anderes, als möglichst bald in die nächste Stadt zu kommen und das Geld zu vertrinken, das er von ihr erhalten würde und das er bis jetzt so großspurig zurückgewiesen hatte. Trotzdem war sie gespannt, wann sie ihn wiedersehen würde – ihren Mann!

 

Strahlend trat sie ins Speisezimmer, das von vielen Lampen erleuchtet wurde, denn der Baron hatte einen nahegelegenen Wasserfall zu einem Kraftwerk ausbauen lassen.

 

Reggie betrachtete sie spöttisch.

 

»Nun, wissen Sie jetzt, wo Ihr Mann ist?« fragte er.

 

Dorothy ging auf den Butler zu, der respektvoll am Ende des Tisches stand.

 

»Würden Sie so freundlich sein und meinem Mann sagen, daß das Essen angerichtet ist?« bat sie ein wenig verlegen.

 

Sie wollte diese Rolle zu Ende spielen und sich vor allem in Gegenwart der beiden Parsons keine Blöße geben.

 

»Sie meint ›Harry mit den Handschuhen‹«, erklärte Reginald bereitwillig.

 

Der Butler verbeugte sich und verließ das Zimmer. Ein paar Minuten später erschien er wieder, öffnete die Tür weit und trat dann zur Seite.

 

»›Harry mit den Handschuhen‹«, sagte er dann laut.

 

Als der Rechtsanwalt erkannte, wer da hereinkam, fuhr er sich mit der Hand an den Kopf und wurde blaß vor Schreck. Dorothy aber hatte sich voller Staunen erhoben, sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen.

 

Harry hatte sich rasiert und den Verband abgenommen. Seine beiden Augen waren gesund und leuchteten zum erstenmal, seit sie ihn kannte, gutgelaunt und fast belustigt. Der Frack stand ihm tadellos, und das weiße Frackhemd unterstrich sehr vorteilhaft seine braune Hautfarbe.

 

Lächelnd verbeugte er sich, dann ging er zum Platz des Hausherrn. Er kümmerte sich überhaupt nicht um die beiden Parsons, sondern wandte sich lächelnd an Dorothy.

 

»Hoffentlich habe ich Sie nicht zu sehr überrascht«, erklärte er liebenswürdig, »aber Sie müssen bedenken, daß ich sechs Monate lang auf der Jagd war und während der Zeit keine Gelegenheit zum Haarschneiden oder Rasieren hatte.«

 

Er sah zum Butler hinüber.

 

»Tibbins, fangen Sie bitte mit dem Servieren bei Mylady an.«

 

Inzwischen war auch Mr. Parsons zu sich gekommen.

 

»Sie sind also Sir John Storey?« fragte er verlegen.

 

»Ja, das ist mein Name.«

 

»Aber in Little Pine Beach kannte Sie doch niemand?«

 

»Wenn ich dort hingehe, bin ich niemals anders angezogen«, sagte Sir John. »Ich bin leidenschaftlicher Jäger und jage hauptsächlich in jener Gegend. Am Tag vor Ihrer Ankunft traf ich ziemlich abgerissen dort ein. – Zu Ihrer Information, Lady Storey, ich bin in Little Pine Beach als ›Harry mit den Handschuhen‹ bekannt.

 

»Weil Sie immer Handschuhe tragen«, bemerkte Reginald sehr treffend.

 

»Ja, das tue ich, um meine Hände zu schonen.«

 

*

 

Als sich die Parsons zurückgezogen hatten, ging Sir John mit Dorothy auf die weite Terrasse, die einen überwältigenden Ausblick auf die von Mondlicht übergossenen Berge und Wälder bot.

 

»Es ist einzigartig schön hier«, sagte sie ergriffen. »Ich wundere mich jetzt nicht mehr, daß Sie sich hierher zurückgezogen haben. Aber ist es Ihnen manchmal nicht doch etwas einsam?«

 

Er streifte die Asche seiner Zigarette ab, bevor er mit seiner tiefen Stimme antwortete.

 

»Sie haben recht, manchmal ist es ziemlich einsam hier.«

 

Sie schwiegen beide verlegen.

 

»Und es wird noch viel einsamer werden, wenn Sie wieder nach Hause zurückkehren.«

 

Sie lachte und lehnte sich über das Geländer.

 

»Sie sind wirklich ein seltsamer Mann. Aber wenn Sie mich nach Little Pine Beach bringen…«

 

»Ja, was dann?«

 

Sie antwortete nicht gleich.

 

»Ich habe Ihnen versprochen, Sie dorthin zurückzubringen«, erklärte er, »und ich muß mein Wort halten.«

 

»Sie haben aber hinzugefügt, falls ich es wünschte«, erwiderte sie leise.

 

»Und – wünschen Sie es?«

 

Sie spielte mit einer Ranke, die sich um einen Pfeiler wand, und als sie sprach, war es so leise, daß er ihre Worte kaum verstehen konnte. Da nahm er sie einfach in die Arme und küßte sie, und sie wehrte sich durchaus nicht dagegen.

 

Ende

 

Zehn Minuten bevor Snub Reilly seinen Ankleideraum verließ, um in den Ring zu klettern, wurde ihm ein Brief überbracht. Sein Trainer und sein Manager wollten nicht zulassen, daß er ihn öffnete und las. Sie befürchteten einen nachteiligen Einfluß auf den Boxer, in diesem Augenblick, vor dem großen Titelkampf. Snub Reilly sollte gegen Curly Boyd antreten, einen gefährlichen Gegner, der jetzt den Weltmeisterschaftstitel im Mittelgewicht erobern wollte. Vier Boxer hatte Boyd schon k.o. geschlagen, und nun hatte er Snub Reilly herausgefordert. Der Kampf stand unmittelbar bevor.

 

»Geben Sie mir das Schreiben – ich will es lesen!« sagte Snub energisch. Er war ein Mann, der keinen Widerspruch duldete. Rasch überflog er den Brief, der mit der Schreibmaschine geschrieben und von zwei in der Sportwelt bekannten Leuten unterzeichnet war.

 

»Eine Herausforderung«, sagte er kurz. »Einsatz zehntausend Pfund.«

 

»Was ist denn das für ein Kerl?« fragte der Manager.

 

»Hier wird er der ›Unbekannte‹ genannt. Er fordert den Gewinner des heutigen Kampfes heraus. Schicken Sie ihm sofort eine telegrafische Zusage – ich werde gegen den ›Unbekannten‹ kämpfen.«

 

»Wir wollen lieber bis nach dem Kampf warten«, meinte der Manager, den die Zuversicht seines Schützlings beunruhigte.

 

»Nein, schicken Sie das Telegramm sofort ab«, erklärte Snub, zog seinen Frottiermantel an und verließ gleich darauf den Ankleideraum.

 

Der Manager gab das Telegramm auf, aber es war ihm selbst nicht ganz geheuer dabei. Die vierte Runde brachte jedoch schon die Entscheidung zugunsten Snub Reillys.

 

Für Snub war dies ein ungeheurer Erfolg, denn die ganze Welt hatte den Ausgang dieses Kampfes mit Ungeduld und Spannung erwartet. Noch bevor Snub seinen Umkleideraum wieder erreicht hatte, war die Nachricht von seinem Sieg schon in alle Teile der Welt gefunkt worden.

 

Er legte den Frottiermantel ab, ließ die Prozedur des Massierens über sich ergehen, und bereits zehn Minuten nach Beendigung des Kampfes verließ er das Gebäude durch eine Seitentür.

 

Snub Reilly war ein bescheidener Mann.

 

Das Echo dieses großen Erfolges hallte noch tagelang in der Presse wider. Snub wurde wie ein Nationalheld gefeiert. Doch umgab ihn ein Geheimnis. Niemals ließ er sich von Sportreportern oder anderen Zeitungsleuten interviewen und war überhaupt schweigsam und zurückhaltend. Aber gerade diese Eigenschaft ließ ihn dem Publikum als einen außergewöhnlichen Mann erscheinen und schuf ihm einen Nimbus, wie ihn kein anderer Weltmeister vor ihm besessen hatte.

 

*

 

Selbst in dem kleinen und verschlafenen Rindle hallte die Begeisterung für Snub Reilly nach. Der Ort war bekannt für sein gutes Internat, in dem die Söhne der besten Familien der Gegend erzogen wurden.

 

Beim Frühstück las der Direktor des Gymnasiums den Bericht über den Kampf. Er selbst war ein Bewunderer Snub Reillys, und mit Staunen las er von dem blitzschnellen Schlag, der Curly Boyd den Rest gegeben hatte.

 

Seine hübsche neunzehnjährige Tochter Vera saß ihm gegenüber. Auch sie hatte eine Zeitung auf den Knien und las heimlich den Sportbericht.

 

Draußen im Hof stand eine Gruppe von Schülern, die sich auf dem Weg zur Morgenandacht in der Aula befanden. Sie drängten sich um einen ihrer Kameraden, der entgegen aller Schulvorschriften so kühn gewesen war, sich eine Zeitung zu besorgen. Alle hörten zu, wie er ihnen von dem Sieg des angeschwärmten Snub Reilly vorlas.

 

Der Mathematiklehrer Barry Tearle saß inzwischen im Lehrerzimmer und korrigierte die Aufgabenhefte der Schüler. Aber plötzlich lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und dachte an den Boxkampf. Ihn, der gleichzeitig Turnlehrer des Internats war, interessierten natürlich alle Ereignisse des Sportlebens ganz besonders.

 

Da läutete es: Die Morgenandacht sollte beginnen. Tearle erhob sich. Er eilte die Treppe hinunter und über den großen Schulhof. Als er durch den Torbogen kam, dachte er wie immer daran, daß Vera eines der Zimmer darüber bewohnte. Plötzlich hörte er seinen Namen und drehte sich um.

 

Vera Shaw, an die er soeben noch gedacht hatte, stand vor ihm.

 

»Ich habe Sie gesehen, als Sie heute früh heimkamen«, sagte sie und lachte verschmitzt.

 

Barry Tearle wurde verlegen.

 

»Ach – haben Sie mich gesehen? – Ich hatte in der Nähe von Northwood eine Panne. Hoffentlich habe ich Sie nicht gestört.«

 

Vera lachte über sein schuldbewußtes Gesicht. In diesem Augenblick sah sie so bezaubernd aus, daß Tearle sie hingerissen anstarrte.

 

»Nein, Sie haben mich nicht gestört. Ich konnte nicht schlafen, saß am Fenster und schaute in die schöne Mondlandschaft hinaus, als Sie über den Schulhof schlichen wie der Dieb in der Nacht. Anders kann man es nicht nennen. – Haben Sie übrigens den Boxkampf gesehen?« fragte sie plötzlich.

 

»Nein«, entgegnete er schnell, »ich habe ihn nicht gesehen, und ich bin erstaunt, daß Snub Reilly…«

 

»Ach, tun Sie doch nicht so!« unterbrach sie ihn. »Sagen Sie mir lieber, wer dieser Unbekannte ist, von dem es heißt, daß er Snub Reilly herausgefordert hat! – Aber jetzt müssen Sie gehen, sonst kommen Sie zu spät zur Morgenandacht.«

 

*

 

Als Barry Tearle nach der Andacht wieder auf den Schulhof kam, stand Vera noch an derselben Stelle, aber diesmal war Mr. Selby bei ihr, und Tearle vergaß bei diesem Anblick sofort alle frommen Gedanken.

 

John Selby wohnte auch in Rindle. Seine Vorfahren hatten die berühmte Schule gegründet, und er tat nun so, als ob er der Schutzheilige des Internats sei. Er war schlank und mindestens fünfzehn Zentimeter größer als Barry. Man sah ihm auch an, daß er reich war. Er machte Vera Shaw in aller Form den Hof und ließ keinen Zweifel darüber, daß er hoffte, sie eines Tages heiraten zu können.

 

»Guten Morgen, Mr. Tearle«, sagte er zu dem Mathematiklehrer. »Haben Sie gestern den Boxkampf gesehen?«

 

»Nein«, erwiderte Barry ärgerlich. »Sie meinen wohl, ich hätte nichts Besseres zu tun? – Aber waren Sie dort?« fragte er plötzlich.

 

»Ja. Ich habe eben Vera genau geschildert, wie der Kampf verlief. Dieser Reilly ist wirklich toll! Er ist nicht größer als – ich möchte fast sagen, er ist noch kleiner als Sie.«

 

»Nicht möglich!« erwiderte Barry und tat erstaunt. »Haben Sie ihn denn nicht genau angesehen?«

 

»Werden Sie nur nicht ironisch. Natürlich habe ich ihn genau gesehen – aber ich saß nicht gerade in der ersten Reihe. – Das kann ich Ihnen jedoch sagen: Dieser Reilly ist wirklich großartig!«

 

»Das behaupten die Zeitungen auch«, meinte Barry gelangweilt.

 

»Und dieser Idiot von einem Unbekannten, der ihn herausforderte –«

 

»Sie entschuldigen mich wohl«, sagte Barry, lüftete den Hut und ging davon.

 

»Na, dieser Tearle ist aber eine komische Marke!« Mr. Selby schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was in den gefahren ist, Vera.«

 

»Mr. Selby«, sagte das Mädchen ruhig, »bitte nennen Sie mich nicht beim Vornamen.«

 

Er war erstaunt und verletzt.

 

»Aber mein liebes Kind –«

 

»Ich bin auch nicht Ihr ›liebes Kind‹«, sagte sie kühl. »Ich bin überhaupt kein Kind mehr.«

 

Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Schließlich war er ein Selby aus Rindle, und die Selbys aus Rindle richteten sich immer zu ihrer vollen Größe auf, wenn ihnen etwas nicht paßte.

 

»Natürlich – wenn Sie es wünschen, Miss Shaw. Es tut mir leid, daß ich Ihnen zu nahegetreten bin.«

 

Selbstverständlich war das nur eine Redensart, denn es tat ihm durchaus nicht leid. Aber es war eine Antwort, wie man es von einem Vertreter einer der ältesten Familien des Landes erwarten konnte.

 

»Zu nahegetreten sind Sie mir nicht. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich manche Dinge nicht hören mag. – Warum halten Sie übrigens Mr. Tearle für so merkwürdig?«

 

»Nun, ein junger Lehrer hat gerade kein hohes Gehalt, und doch lebt dieser Tearle auf großem Fuß, hat ein Auto und ist immer erstklassig angezogen.«

 

Sie sah ihn ruhig und ein wenig mitleidig an – etwas, das ihn aus der Fassung bringen konnte.

 

»Nun, daran ist doch nichts merkwürdiges! Oder halten Sie es für merkwürdig, daß Sie nicht alles Geld auf der Welt haben?«

 

Er sagte spöttisch: »Es sieht Ihnen ähnlich, daß Sie ihn verteidigen. – Ich wünschte nur …«

 

»Ja, was wünschten Sie?«

 

»Daß andere Verfügungen getroffen würden in bezug auf … Es ist eine große Summe gesammelt worden für den Erweiterungsbau der Schule. Und es ist doch eigentlich gefährlich, daß ein schlechtbezahlter Lehrer, soviel Geld verwaltet.«

 

Schon bevor er zu Ende gesprochen hatte, wußte er, daß er einen Fehler gemacht hatte, denn Veras Gesicht war erst dunkelrot und dann blaß geworden.

 

»Wollen Sie damit sagen –« fragte sie atemlos, und ihre Stimme klang ihr selbst fremd –, »wollen Sie damit sagen daß – Mr. Tearle das Geld – zum Kauf seines Autos … Ach nein, der Gedanke ist ja absurd! Wie können Sie etwas Ähnliches nur andeuten!«

 

Er sah sie überrascht an. Früher hatte er sie immer für ein liebenswürdiges, zartes junges Mädchen gehalten. Aber jetzt sah er eine Vera, die er noch nie erlebt hatte. Ihre graublauen Augen blitzten.

 

»Aber liebe Vera …«, begann er verlegen.

 

»Sie müssen selbst einen ganz gemeinen Charakter haben, wenn Sie sich so etwas ausdenken können«, rief sie erregt. »Ich hasse Sie!«

 

Er stand noch verblüfft an derselben Stelle, als sie schon im Haus verschwunden war. Dann zuckte er die Achseln, schlug den Mantelkragen hoch und trat durch den Torbogen hinaus auf die Straße.

 

»Sehr vorteilhaft sah sie gerade nicht aus«, sagte er halblaut vor sich hin. »Sie benimmt sich eigentlich nicht wie eine Dame. Wie kann man sich nur über Kleinigkeiten so aufregen!«

 

*

 

Veras Vater kam zehn Minuten früher zum Essen, als sie erwartet hatte, und brachte Selby mit. Darüber ärgerte sie sich im stillen.

 

Wenn Selby nur ein bißchen Feingefühl besessen hätte, wäre er nicht mitgekommen! Aber er hatte ein dickes Fell und lächelte Vera verbindlich zu – wie ein Mann von Welt, der nichts nachträgt.

 

Vera war froh, daß sie bei Tisch nicht viel zu sagen brauchte, denn die Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um die am Nachmittag stattfindende Sitzung des Schulausschusses, dessen Vorsitzender Mr. Selby war. Der Erweiterungsbau war ein unerschöpfliches Thema. Vera wartete nur darauf, daß Mr. Selby etwas Abfälliges über Barry Tearle sagen würde, aber er war gewarnt und vermied klugerweise das Thema. Dafür, erwähnte der Direktor Tearles Namen.

 

»Heute morgen gab es einen unangenehmen Zwischenfall in der Stadt«, sagte er. Die Lehrer und der Direktor bezeichneten mit ›Stadt‹ alles, was nicht zur Schule und zum Internat gehörte. »Ich weiß nicht, wie die Sache anfing, aber ich bin fest davon überzeugt, daß unser Schüler im Recht war. – Du erinnerst dich doch sicher noch an diesen Crickley, Vera«, wandte er sich an seine Tochter.

 

»Ja, dieser stadtbekannte Grobian, der voriges Jahr wegen Trunkenheit am Steuer im Gefängnis gesessen hat. Aber gebessert hat er sich nicht.«

 

»Heute morgen muß er wieder betrunken gewesen sein, denn als er mit seiner Frau durch die Stadt ging, stritt er sich mit ihr. Er hob den Stock und schlug auf sie ein. Er kann sie nicht schwer getroffen haben, aber einer unserer Schüler aus der Untersekunda – du weißt schon, der junge Tilling –, der zufällig vorbeikam, mischte sich ein. Dieser Crickley wollte ihn daraufhin auch verprügeln, da kam aber gerade Tearle dazu. Soviel ich hörte, hat er den Mann höflich aufgefordert, den Jungen loszulassen. Das tat Crickley auch, wandte sich aber jetzt gegen Tearle.«

 

»Hat er ihn geschlagen? Ist Tearle verletzt?« fragte Vera schnell.

 

»Nein, ich glaube nicht.« Der Direktor lachte leise und wandte sich an Selby. »Sie kennen doch Tearle? Er ist unser Turnlehrer und ein vorzüglicher Boxer.«

 

»Hat Tearle denn den Mann niedergeschlagen? Gab es einen Auftritt auf offener Straße?« fragte Selby, bereit, sich darüber zu entrüsten. »Ich weiß nicht, ob das den guten Ruf der Schule von Rindle fördert«, meinte er und fühlte sich wieder ganz als Schutzpatron.

 

»Ach, das ist doch Unsinn!« entgegnete der Direktor, und Vera warf ihrem Vater einen dankbaren Blick zu. »Dem Grobian tut das mal ganz gut, und für unsere Schüler gab Tearle ein gutes Beispiel.«

 

Der Direktor schwieg eine Weile. Dann sagte er nachdenklich: »Ich weiß nicht, Vera, ich hatte so ein komisches Gefühl, als ich danach mit ihm sprach. Heute morgen stand in der Zeitung eine Notiz, die du nicht gelesen haben wirst – im Sportteil nämlich –, daß ein Unbekannter Snub Reilly herausgefordert hat.«

 

»Aber Vater, du meinst doch nicht etwa, daß Tearle der Unbekannte ist?« fragte sie verblüfft.

 

»Ja. Unwillkürlich hatte ich den Eindruck, daß es kein anderer sein kann. Ich sprach mit ihm über den glänzenden Kampf gestern und erwähnte auch die Herausforderung. Es war ein harmloses Gespräch, aber er wurde rot wie ein Krebs.«

 

Selby lachte laut.

 

»Das ist doch unmöglich!« sagte er verächtlich. »Ich gebe ja zu, daß er ein ganz guter Boxer sein mag, aber vergessen Sie nicht, Snub Reilly ist Weltmeister seiner Klasse.«

 

Der Direktor zuckte die Achseln.

 

»Mir ist ja selbst klar, daß es lächerlich klingt.«

 

»Außerdem muß der Herausforderer zehntausend Pfund einzahlen, bevor der Kampf ausgetragen werden kann, und zehntausend Pfund sind eine ganz schöne Stange Geld.«

 

Vera schaute zu Selby hinüber. Sie wußte wohl, was er mit diesen Worten sagen wollte. Auch er sah sie an.

 

Als Selby für kurze Zeit das Zimmer verließ, um zu telefonieren, fragte sie ihren Vater: »Wie stehst du eigentlich zu Mr. Selby?«

 

Er sah sie über seine Brille hinweg an.

 

»Ich kann ihn nicht ausstehen. Wenn ich offen sein soll – halte ich ihn für einen dummen, eingebildeten Trottel. Aber er ist nun einmal Vorsitzender des Komitees, und so muß ich eben mit ihm verkehren.«

 

Vera atmete erleichtert auf.

 

»Jetzt sollst du aber etwas zu hören bekommen, was dieser Kerl heute morgen zu mir gesagt hat. Stell dir vor, er machte eine Andeutung, daß Mr. Tearle Geld aus dem Baufonds entwendet haben müßte.«

 

Mr. Shaw sprang auf.

 

»Unerhört! Das ist eine unglaubliche Beleidigung! Ich werde ihn sofort deswegen zur Rede stellen!«

 

»Nein, Vater, das wirst du nicht tun«, fiel Vera ihm ins Wort. »Welchen Zweck hat es denn, wenn ich dir etwas im Vertrauen sage, und du posaunst es sofort aus? Ich habe dir das nur erzählt, damit du Bescheid weißt.«

 

Mr. Shaw setzte sich wieder.

 

»Da hört sich aber doch alles auf!« schimpfte er. »Wie kann dieser Selby nur so dummes Zeug reden! Natürlich hat Tearle die Verwaltung des Geldes, er ist ja Schatzmeister.«

 

»Liegt der Baufonds in barem Geld in einer Stahlkassette? Ich meine, könnte Tearle hingehen und sich soundsoviel Geld in die Tasche stecken?«

 

Der Direktor mußte lachen.

 

»Nein, so werden die Gelder nicht verwaltet. Wir haben sie in Wertpapieren und Aktien angelegt. Tearle kennt sich darin aus. – Aber daß dieser Idiot zu behaupten wagt …«

 

*

 

Mr. Selby war tief in Gedanken versunken, als er an dem Abend nach Hause fuhr. Bis zwei Uhr in der Nacht saß er in seinem Arbeitszimmer und schrieb Briefe an seine Freunde. Darunter befand sich auch der Herausgeber einer Sportzeitung. Von ihm erfuhr Selby Einzelheiten über die Herausforderung. Die zehntausend Pfund mußten bis zum 5. des nächsten Monats eingezahlt werden.

 

Woher mochte Tearle nur diese zehntausend Pfund haben? Wie konnte er eine solche Summe aufbringen?

 

Selby war fest davon überzeugt, daß kein anderer als Tearle der unbekannte Herausforderer war. Eine Bestätigung dafür erhielt er, als er eines Tages in einer Komiteesitzung sah, wie der Mathematiklehrer einige Papiere aus der Tasche holte. Darunter erkannte Selby auch ein grünes Blatt, das, wie er wußte, das Programm des Kampfes Reilly gegen Boyd war. Tearle hatte sich also doch den Boxkampf angesehen, obwohl er es so heftig abgestritten hatte. Außerdem trainierte Tearle hart. Als Selby eines Morgens in aller Frühe zufällig aus dem Fenster seines Schlafzimmers sah, bemerkte er einen Mann im Trainingsanzug, der am Gartenzaun seines Landhauses entlanglief. Als er näher hinsah, erkannte er Barry Tearle.

 

In den folgenden Wochen stellte Selby eingehende Nachforschungen an. Bei einer Sitzung des Schulausschusses frage er nach einer Liste der Wertpapiere, in denen der Baufonds angelegt worden war. Tearle gab sie ihm sofort, und nun hatte Selby, was er brauchte.

 

Um diese Zeit besuchte ihn auch ein Detektiv, der sich in letzter Zeit ständig im Dorf herumtrieb, sich nach allem möglichen erkundigte, mit allen Leuten Bekanntschaft schloß und seine Nase in alles steckte.

 

»Mr. Selby«, sagte der Mann zufrieden, »ich habe ein paar Nachrichten für Sie, die Sie interessieren werden.«

 

Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin.

 

»Gestern nachmittag hat Tearle einen eingeschriebenen Brief abgeschickt. Fragen Sie mich nicht, wie ich es herausbekommen habe, aber ich kann Ihnen sagen, daß darin Aktien der Rochester-Eisenbahn-Gesellschaft, des Landsyndikats und der Newport-Dock-Gesellschaft waren.«

 

»Einen Augenblick«, sagte Selby und ging schnell zu seinem Schreibtisch, wo er eine Schublade aufzog und eine Liste herausnahm.

 

»Lesen Sie mir die Namen der Aktien noch einmal vor, aber langsam.«

 

Der Detektiv tat es.

 

»Ja, es stimmt«, rief Selby befriedigt. »Tearle hat das Geld der Baukommission in diesen Aktien angelegt.«

 

Der Detektiv sah ihn gespannt an.

 

»Was werden Sie mit ihm machen? Wollen Sie ihn verhaften lassen?«

 

Aber Mr. Selby lächelte nur.

 

»Nein«, entgegnete er, »das werde ich nicht tun. Im Gegenteil, es ist besser, wenn er noch einige Zeit in Freiheit bleibt.«

 

Er wanderte im Zimmer auf und ab.

 

»Ich will Ihnen sagen, was ich tun werde: Ich werde alle Lehrer der Schule morgen zum Abendessen einladen. Das ist eine Gepflogenheit der Selbys seit Gründung der Schule. Sie wissen doch, daß das Internat von den Selbys gegründet wurde?«

 

Der Detektiv wußte es nicht, aber er lächelte höflich.

 

»Tearle wohnt bei der alten Mrs. Gold in der High Street«, fuhr Selby fort. »Die ist stocktaub, und soviel ich weiß, geht sie jeden Abend um neun ins Bett. Sie wird nichts merken, wenn Sie in Tearles Zimmer einsteigen.«

 

»Was meinen Sie damit?«

 

»Während ich die Lehrer und auch Mr. Tearle hier bei mir zu Gast habe, werden Sie Tearles Wohnung durchsuchen, vor allem seine Papiere.«

 

Der Detektiv nickte.

 

»Ich verstehe. Aber wie soll ich denn ins Haus kommen?«

 

»Die Haustür ist nicht abgeschlossen, wenn Tearle ausgeht. Er hat dem Direktor neulich in meiner Gegenwart gesagt, daß er niemals einen Hausschlüssel mitnimmt. Es gibt keine Verbrechen in Rindle. Wir leben hier in paradiesischen Verhältnissen.«

 

»Dann sind höchstens wir die Bösewichter«, meinte der Detektiv und lachte.

 

Mr. Selby verzog keine Miene.

 

»Nein, das dürfen Sie nicht sagen. Ich begehe kein Verbrechen, sondern handle im Interesse des Baukomitees, dessen Vorsitzender ich bin.«

 

*

 

Das große Essen, zu dem Selby die Lehrer eingeladen hatte, war für mindestens zwei der Gäste furchtbar langweilig. Der Gastgeber hatte es extra so eingerichtet, daß Vera Shaw an der einen Seite des Tisches neben ihm saß, während Tearle an die andere Seite rechts von Direktor Shaw placiert worden war.

 

Selby wollte an diesem Abend ungestört mit Vera sprechen. Er beabsichtigte, ihr einen Vorschlag zu machen, den er reiflich überlegt hatte.

 

Das Essen war halb vorüber, als er davon anfing.

 

»Miss Vera«, sagte er, »ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen: Wie wäre es, wenn Sie sich den Boxkampf ansehen würden?«

 

»Meinen Sie, ich sollte selbst hingehen – zu dem Kampf zwischen Snub Reilly und dem unbekannten Herausforderer?« Sie dachte einen Augenblick nach. »Ich glaube nicht, daß ich ihn ansehen möchte.«

 

»Auch nicht, wenn der große Unbekannte ein Freund von Ihnen ist?«

 

Sie errötete.

 

»Aber wie sollte das möglich sein? Sie denken doch nicht, daß Mr. Tearle –«

 

»Ich weiß es! Aber versprechen Sie mir, daß Sie es Tearle nicht weitersagen. Er würde sich nur darüber aufregen, daß Sie es wissen, und dadurch könnte die Sache vor der Zeit bekanntwerden.«

 

»Aber das ist doch ausgeschlossen«, sagte Vera ratlos. »Wie könnte denn Mr. Tearle die zehntausend Pfund –« Sie biß sich auf die Lippen.

 

»Vielleicht hat er gute Freunde, die das Geld für ihn auslegen«, bemerkte Mr. Selby anzüglich.

 

Eine Weile schwiegen beide.

 

»Warum möchten Sie eigentlich, daß ich mir den Kampf ansehe?« fragte sie plötzlich.

 

»Weil ich davon überzeugt bin, daß Tearle gewinnt. Außerdem habe ich das Gefühl, daß er Sie verehrt.«

 

Es kostete Mr. Selby einige Anstrengung, das herauszubringen, aber er wollte Vera unter allen Umständen überreden, sich den Kampf anzusehen.

 

»Ich will Ihre Einladung unter einer Bedingung annehmen«, sagte sie langsam. »Ich glaube, daß ich es einrichten kann. Ich muß sowieso in die Stadt, und meine Tante hat mich schon lange eingeladen, die Nacht über bei ihr zu wohnen. Ich kann ihr sagen, daß ich ins Theater gehe. Aber mit wem soll ich denn zu dem Boxkampf gehen?«

 

»Natürlich werde ich Sie begleiten«, erklärte Mr. Selby höflich. »Und welche Bedingung stellen Sie?«

 

»Wenn Sie herausfinden, daß Ihre Vermutung nicht stimmt und daß der Herausforderer nicht Mr. Tearle ist, bringen Sie mich sofort wieder nach Hause.«

 

»Aber selbstverständlich! Das verspreche ich Ihnen sehr gern. Bitte erzählen Sie aber auf keinen Fall Mr. Tearle, daß Sie sich den Kampf ansehen werden. Es soll doch eine große Überraschung werden.«

 

Auf dem Heimweg zerbrach sich Barry Tearle verzweifelt den Kopf, warum Vera nicht mit ihm gesprochen hatte und was sie so intensiv mit Mr. Selby verhandelt haben mochte. Ob die beiden sein Geheimnis kannten? Er bekam Herzklopfen bei dem bloßen Gedanken daran.

 

Als die letzten Gäste das Haus verlassen hatten, kam der Detektiv in Selbys Bibliothek, und der Hausherr sah auf den ersten Blick, daß er Erfolg gehabt hatte.

 

»Jetzt haben wir ihn!« sagte der Detektiv triumphierend. »Sehen Sie, was ich gefunden habe.« Er legte ein Blatt Papier auf den Tisch. »Ich habe das von einem Brief abgeschrieben, den ich bei Mr. Tearle fand.«

 

Mr. Selby nahm das Papier in die Hand und las. Es war eine Quittung der Stadtbank über den Empfang von zehntausend Pfund, die auf Barry Tearles Konto eingezahlt worden waren. Aus einer zweiten Mitteilung ging hervor, daß die zehntausend Pfund dem Komitee überwiesen worden waren, das den Kampf arrangierte.

 

Mr. Selby lächelte zufrieden.

 

»Das haben Sie glänzend gemacht, mein Lieber^ Was wollen wir jetzt unternehmen?«

 

Aber er wartete die Antwort des Detektivs gar nicht ab, denn er hatte schon einen Plan, wie er Tearle und Vera am wirkungsvollsten treffen konnte. Vor allem wollte er sehen und es Vera auch zeigen, wie Tearle bei dem Kampf geschlagen wurde. Erst wenn alles vorüber war, wollte er eingreifen. Falls dann das Geld verloren war, beziehungsweise das Komitee es nicht mehr herausrücken wollte, so war er ja in der glücklichen Lage, dem Baufonds die Summe zu ersetzen, die Tearle gestohlen hatte.

 

*

 

Vera fuhr an dem Tag, an dem der Kampf stattfinden sollte, nach London, und als Tearle hörte, daß sie fortgefahren war, ohne mit ihm zu sprechen, war er tief enttäuscht.

 

Eine Stunde vor seiner Abfahrt nach London ließ ihn der Direktor zu sich kommen. Tearle war das nicht ganz geheuer, aber er ging doch sofort zu ihm.

 

»Sie wollten mich sprechen?« fragte er, als er dem Direktor gegenüberstand.

 

Der Direktor hob den Kopf.

 

»Ja, Mr. Tearle«, entgegnete er. Ihm war auch nicht wohl in seiner Haut. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Ich wollte Ihnen sagen, daß ich Ihnen Glück wünsche.« Er reichte dem Mathematiklehrer die Hand. »Mr. Tearle, ich bin ein bißchen nervös wegen dieser Angelegenheit«, fuhr er dann fort, »und mir scheint, daß Sie wenig Aussichten haben.«

 

»Was wollen Sie damit sagen?«

 

»Nun, ich glaube, daß Sie der Unbekannte sind, der den Weltmeister Snub Reilly herausgefordert hat, und das ist mir eigentlich nicht ganz recht. Es könnte bei der Schulbehörde Schwierigkeiten geben, wenn das herauskommt. Aber das werden wir schließlich wieder einrenken können. Ich fürchte nur, daß Sie Ihr eigenes Vermögen dabei aufs Spiel setzen …« Shaw zögerte eine Sekunde, »… wenn natürlich nicht Ihre Freunde für Sie eingesprungen« sind und Ihnen geholfen haben.«

 

»Das braucht Sie nicht zu beunruhigen«, erwiderte Tearle und blickte den Direktor offen an. »Es ist mein eigenes Geld.«

 

»Dann kann ich nur wünschen, daß. Sie gewinnen.« Direktor Shaw drückte ihm noch einmal herzlich die Hand. »Ich habe Sie immer gern gehabt, Mr. Tearle, und ich hoffe aufrichtig, daß es Ihnen gelingen wird. Ich bin sicher, daß sich meine Tochter, wenn sie etwas davon wüßte, meinen Wünschen anschließen würde. Aber sie, hat ja keine Ahnung, daß Sie an dem Kampf teilnehmen.«

 

Barry Tearle machte schweigend eine Verbeugung und verließ das Zimmer.

 

Es war ein großes Erlebnis für Vera. Den ganzen Tag dachte sie an nichts anderes. Sie schwankte zwischen Furcht und Hoffnung, und manchmal wünschte sie, daß sie gar nicht hinzugehen brauchte.

 

Mr. Selby holte sie pünktlich um neun Uhr abends ab. Er war in der besten Stimmung, und er hatte auch allen Grund dazu. Kurz zuvor hatte er sich nämlich von zwei Kriminalbeamten getrennt, nachdem er ihnen ein paar Hinweise gegeben hatte.

 

Er hatte es so eingerichtet, daß er mit Vera den Sportpalast erst kurz vor dem Kampf betrat. Im letzten Augenblick Wurde er jedoch von einem Freund angesprochen, und er entschuldigte sich für einen Augenblick bei Vera.

 

Kaum hatte Vera Zeit zum Überlegen, als ihr auch schon Zweifel kamen: Würde ihre Gegenwart Tearle nicht verwirren? Hätte sie überhaupt kommen sollen? Sie wünschte doch so dringend seinen Sieg!

 

»Sie können später noch mit mir sprechen, Johnson«, hörte, sie Selby sagen. »Ich gehe jetzt hinein.«

 

Gleich darauf nahm er Veras Arm und führte sie in die große Halle.

 

Sie sah sich erschreckt um. Noch, nie hatte sie so viele Menschen auf einmal gesehen. Was würden all diese Leute tun, wenn Barry unterlag? Würden sie pfeifen? Das konnte sie nicht ertragen. Sie blieb stehen.

 

»Ich möchte nicht hierbleiben«, sagte sie leise. »Ich glaube, ich halte es nicht aus.«

 

»Kommen Sie nur«, beruhigte er sie und brachte sie zu einem der vordersten Plätze.

 

Das war ihr besonders unangenehm! Am liebsten hätte sie den Kampf von weiter hinten angesehen, so daß sie die beiden Kämpfer nicht genau unterscheiden konnte. Aber sie mußte bleiben.

 

Dann wurde durch Lautsprecher bekanntgegeben, daß Snub Reilly noch nicht angekommen war. Aber er hatte angerufen, daß er sich auf dem Weg in den Sportpalast befände. Wäre diese Wartezeit nicht gewesen, so hätte Selby bis zum Ende geschwiegen. Nun aber konnte er es sich nicht verkneifen, ihr von seinen Nachforschungen zu erzählen. Sie hörte starr vor Entsetzen zu, fand aber nicht die Kraft, zu widersprechen.

 

Dann kam das Schlimmste. Vera klammerte sich krampfhaft an die Lehnen ihres Sessels, denn ihr wurde plötzlich schlecht.

 

Der Mann, mit dem Selby im Vestibül gesprochen hatte, stand auf einmal neben Selby und sagte ihm, daß Snub Reilly angekommen sei.

 

»Ist der Unbekannte auch da?« fragte Selby und lächelte in der Vorfreude auf seinen Sieg. »Es warten ein paar Kriminalbeamte, die ihn festnehmen werden.«

 

»Ach, tun Sie das nicht – nein, das dürfen Sie nicht tun«, bat Vera verzweifelt.

 

»Sie haben also schon die Kriminalpolizei verständigt?« erkundigte sich der Mann. »Das finde ich aber nicht fair von Ihnen, Mr. Selby. Der Mann saß doch schon einmal im Gefängnis. Warum wollen Sie so hart gegen ihn vorgehen? Kennen Sie ihn denn persönlich?«

 

»Ich kenne ihn sehr gut«, antwortete Selby, »aber ich wußte nicht, daß er schon eine Vorstrafe hat.«

 

»Er ist zwei Jahre im Gefängnis gewesen, und zwar in Australien – wegen Betrugs. Früher war er einer der besten Mittelgewichtler, die wir hier in England hatten. Ich habe, dem Komitee von Anfang an gesagt, daß man seinen Namen nicht verheimlichen sollte. Es hätte gleich eine Sensation gegeben, wenn bekannt geworden wäre, daß Kid Mackey der Herausforderer ist. Aber die Leute, die den Kampf veranstalten, bestanden darauf, ihn als den großen Unbekannten einzuführen.«

 

Vera wurde plötzlich wieder besser.

 

»Wie heißt er?« fragte sie leise.

 

»Kid Mackey«, antwortete Selbys Bekannter. »Einer der besten Boxer, die wir vor drei Jahren hier hatten.«

 

»Dann ist es also nicht Tearle?« fragte Selby entsetzt.

 

Vera hätte am liebsten laut gelacht, als sie seine Enttäuschung sah. Dann fiel ihr plötzlich ein, unter welcher Bedingung sie mitgekommen war.

 

»Jetzt müssen Sie mich nach Hause bringen – das haben Sie versprochen …«

 

Plötzlich erhob sich ein ohrenbetäubender Lärm.

 

Ein Mann in einem feuerroten Frottiermantel kam den Gang entlang, erschien auf der Plattform und winkte dem Publikum zu. Viele erkannten in ihm den früheren Meister im Mittelgewicht.

 

Aber gleich darauf brach noch ein größerer Begeisterungssturm los.

 

»Snub Reilly – Snub Reilly!« rief man von allen Seiten.

 

»Snub Reilly!« stieß Mr. Selby hervor.

 

Reilly drehte sich um, und Vera erhob sich von ihrem Sitz, denn der Weltmeister, der jetzt auf dem Podium stand und zu ihr niedersah – war Barry Tearle!

 

Mr. Selby saß wie versteinert. Vera kam sich wie im Traum vor. Sie sah die letzten Vorbereitungen zum Kampf, dann begann die erste Runde. Unverwandt schaute sie auf Barry, der vorwärts und rückwärts sprang, sich deckte und angriff.

 

Bei Beginn der zweiten Runde legte sich Kid Mackey stärker ins Zeug, obgleich ihm seine Trainer geraten hatten, er solle bis zur letzten Runde in der Verteidigung bleiben. Snub Reillys Linke schoß vor – der Unbekannte schien schwer getroffen zu sein und taumelte. Ein zweiter Haken von Snub Reilly …

 

Der Kampf war vorüber. Für Vera war die Aufregung zu groß gewesen. Wenn Barry Tearle, der plötzlich neben ihr auftauchte, sie nicht aufgefangen hätte, sie wäre bewußtlos umgesunken …

 

*

 

Am nächsten Morgen saß Barry Tearle im Zimmer des Direktors und berichtete. Von den Anstrengungen des vergangenen Abends war ihm nichts anzumerken.

 

»Mein Vater war Berufsboxer. Er reiste überall im Land umher und veranstaltete Schaukämpfe; jeden Schilling, den er verdiente, steckte er in meine Erziehung. Aber nicht nur das. Er gab mir auch Unterricht im Boxen, und von ihm lernte ich Tricks, die kaum ein anderer kennt. Er starb, während ich noch auf der Universität war, und es sah so aus, als ob ich mein Studium nicht fortsetzen könnte. Ich liebte meinen zukünftigen Beruf und wollte durchaus mein Examen machen, aber ich hatte kein Geld. Einflußreiche Freunde besaß ich nicht.

 

Da las ich eines Morgens in der Sportzeitung die Herausforderung eines Boxers, den ich schon öfters bei Kämpfen gesehen hatte. Ich war davon überzeugt, daß ich ihn schlagen konnte und machte alles zu Geld, was ich besaß, um die notwendige Summe zu. hinterlegen. Unter dem Namen Snub Reilly trat ich auf und gewann gleich diesen ersten öffentlichen Kampf. Ich habe dann in allen Ferien drei Jahre lang geboxt, auch nachdem ich die Anstellung hier erhalten hatte. – Aber dies ist mein letzter Kampf gewesen«, setzte er abschließend hinzu und warf einen liebevollen Blick auf Vera.

 

Der Direktor räusperte sich.

 

»Vera hat mir erzählt, daß Selby Sie verdächtigt hat, Aktien verkauft zu haben.«

 

Barry nickte.

 

»Ja, meine eigenen Papiere. Ich mußte zehntausend Pfund hinterlegen. Die Aktien waren von derselben Sorte, in der ich großenteils die Gelder des Baufonds angelegt habe.«

 

»Ich verstehe.« Direktor Shaw nickte. »Sie haben natürlich nur die besten und sichersten Papiere angeschafft, sowohl für sich als auch für die Schule.«

 

Nachdenklich sah er auf die Schreibunterlage, die vor ihm auf dem Tisch lag.

 

»Und nun sagen Sie, es wäre Ihr letzter Kampf gewesen?«

 

Barry nickte. »Ja, von jetzt ab wird Snub Reilly nicht mehr auftreten. Ich habe ein schönes Vermögen zusammengebracht. Das genügt mir.«

 

»Und hier im Internat und in Rindle weiß auch niemand, daß Sie Snub Reilly sind?«

 

»Nur Mr. Selby«, erwiderte Vera.

 

»Ich glaube nicht, daß er darüber sprechen wird«, meinte ihr Vater. »Er hatte eine sehr klägliche Rolle bei der ganzen Sache gespielt.«

 

Dann reichte er Barry die Hand.

 

»Ich wünschte, ich hätte den Kampf selbst auch gesehen. Du nicht auch, Vera?«

 

Sie schüttelte sich und verneinte heftig.

 

»Natürlich. Wie konnte ich nur eine solche Frage stellen!« sagte ihr Vater beruhigend und legte ihr die Hand auf die Schulter.

 

Mr. Tearle und Vera Shaw verließen das alte Schulhaus schweigend.

 

»Jetzt muß ich aber wieder ins Haus gehen, Barry«, sagte sie nach einiger Zeit. »Ach, ich war ja so glücklich, als du gewannst!« Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. »Und ich habe dir auch die kleine Lüge verziehen.«

 

»Welche Lüge?« fragte er erstaunt.

 

»Du sagtest doch damals, daß du den Boxkampf nicht gesehen hättest.«

 

Er lächelte.

 

»Ich habe ihn auch nicht gesehen – ich konnte es ja gar nicht, weil ich selbst daran teilgenommen habe.«

 

Ende