15

 

Mary President stand früh auf und ging durch den wundervollen kleinen Garten, der in tausend Farben strahlte. Die Sonne schien herrlich, und Mary freute sich über den schönen Frühlingstag. Später ging sie in die Küche, um den Tee zu bereiten. Aber dann beschloß sie, mit dem Frühstück noch auf ihren Großvater zu warten, den sie nicht stören wollte. Es war kurz vor sieben.

 

Sie seufzte, als sie an Eric Stanton dachte. Was mußte er von alledem denken? Wie würde er über John President urteilen? Und doch hatte er kein Recht, über ihn den Stab zu brechen. Gewiß hatte der Mann eine schreckliche Tat begangen, aber er hatte auch sehr darunter gelitten und sie bitter bereut. Und die Sache lag schon so weit zurück … Eric würde sicher milde urteilen. Aber sie wollte keine Gnade, sondern Recht.

 

Nachdenklich setzte sie sich ah den einfachen Küchentisch. Der Duft der Blumen zog vom Garten her zum Fenster herein. Eine kühne Drossel hüpfte auf das Fensterbrett, legte den Kopf auf die Seite, sah sie schief an und flog dann wieder weg. Mary sah ihr betrübt nach, aber dann senkte sie den Blick. Als gleich darauf ein Schatten auf den Tisch fiel, schaute sie schnell wieder auf. Erschreckt erhob sie sich, als sie plötzlich Mr. Stanton vor sich sah, mit dem sich ihre Gedanken dauernd beschäftigt hatten.

 

»Guten Morgen«, sagte sie verlegen.

 

»Darf ich vielleicht nähertreten?«

 

Sie zeigte lächelnd auf die Tür.

 

»Ja, bitte, kommen Sie nur herein.«

 

Er kam ins Zimmer und legte Peitsche, Hut und Handschuhe auf einen Stuhl.

 

»Zu einem großen Frühstück kann ich Sie allerdings nicht einladen, nur zu einer einfachen Tasse Tee.«

 

»Das genügt auch vollkommen«, entgegnete er vergnügt und rückte seinen Stuhl an den Tisch.

 

»Wir müssen ganz leise sein, damit mein Großvater nicht aufwacht. Er schläft noch.«

 

»Das wundert mich aber«, erwiderte er erstaunt und betrachtete sie aufs neue. Wie schön sie heute morgen wieder aussah! In dem duftigen Kleid kam ihre hübsche Figur in vorteilhaftester Weise zur Geltung.

 

»Wieviel Stück Zucker darf ich Ihnen geben?« fragte sie plötzlich.

 

»Sechs«, sagte er verwirrt. »Ich wollte sieben sagen«, erklärte er dann bestimmt. »Ich nehme mir immer sieben Stück Zucker«, behauptete er, um seine Verlegenheit zu verbergen.

 

»Ich werde Ihnen ein Stück geben, das genügt. Wenn Sie noch mehr wollen, müssen Sie es sich selbst nehmen.«

 

»Ich bin auf eine Einladung Mr. Presidents hergekommen. Auch ich habe hier in der Nähe ein Haus«, erzählte er ihr, während sie Tee tranken.

 

Sie atmete erleichtert auf.

 

»Denken Sie denn nicht schlecht über meinen Großvater?« fragte sie leise.

 

»Nein, durchaus nicht. Warum sollte ich denn schlecht von ihm denken? Er ist einer der besten Menschen, die mir jemals begegnet sind.«

 

Sie war ihm dankbar für diese Worte und sah ihn freudestrahlend an. Eine große Sorge war nun von ihr genommen.

 

»Sie sind wirklich sehr gut«, sagte sie mit ihrer klingenden, melodischen Stimme.

 

»Hoffentlich kann ich recht häufig zu Ihnen kommen. Ich möchte Mr. President einige meiner Pferde zur Verfügung stellen, damit sie zusammen mit Donavan trainieren können. – Es ist doch herrlich, wenn man morgens ausreitet.«

 

Er hatte schnell das Thema gewechselt, als er sah, daß Tränen in ihre Augen traten.

 

»Man fühlt sich so frisch und jung, wenn man schon in der Frühe im Sattel sitzt.«

 

Wieder traf ihn ein dankbarer Blick aus ihren Augen.

 

»Wir wollen in den Garten gehen«, sagte sie plötzlich und erhob sich.

 

Auch er stand langsam auf. Er war zwischen ihr und der Tür, und wenn sie ins Freie gehen wollte, mußte sie an ihm vorüber. Aus einem Grund, über den sie sich nicht klar wurde, scheute sie sich aber, sich ihm zu nähern.

 

»Gehen Sie bitte voraus.«

 

Aber er blieb stehen und sah sie so sonderbar an, daß sie in Verwirrung geriet und aufs neue errötete. Rasch trat er auf sie zu und schloß sie in die Arme. Sie ließ es geschehen und lehnte den Kopf glücklich an seine Brust.

 

*

 

»Mary!«

 

Sie löste sich schnell aus Erics Umarmung und strich in größter Eile ihr Haar zurecht.

 

»Ach, das ist mein Großvater«, sagte sie bestürzt. »Ich habe ihm den Tee nicht gebracht. Er ist schon im Garten! Und ich habe gar nicht gehört, daß er die Treppe heruntergekommen ist!«

 

»Das war auch wohl nicht möglich«, erklärte Eric fröhlich. »Ich habe ihn nämlich heute morgen schon draußen getroffen. Ich war sehr erstaunt, als du mir erzähltest, daß er noch schlafen würde …«

 

Sie warf ihm einen entrüsteten Blick zu und stürzte dann In den Garten hinaus. Aber im Vorbeigehen streichelte sie ihn.

 

»Hast du Mr. Stanton gesehen?« fragte John President besorgt. »Ich habe ihn doch hierhergeschickt. Ach, da ist er ja«, sagte er und sah Eric lächelnd an, als dieser ebenfalls in den Garten heraustrat. »Du bist wohl erstaunt, daß du mich hier siehst«, meinte der alte Herr lachend und klopfte sie auf die Wange. »Aber du siehst ja so erhitzt aus, Mary«, sagte er dann verwundert. »Hast du denn den ganzen Morgen am Herd gestanden?«

 

»Nein.« Sie wurde noch verlegener. »Ich habe – wir haben zusammen Tee getrunken – gefrühstückt.«

 

John President schüttelte den Kopf.

 

»Wer sorgt denn jetzt für mich?«

 

Er schaute Eric bedeutungsvoll an, dann nahm er ihn am Arm und ging mit ihm durch den Garten.

 

»Ich verstehe vollkommen«, sagte er nur.

 

Ein tiefes Schweigen folgte.

 

»Sie haben das Recht, Genaueres über mein Leben zu erfahren«, begann John President nach einiger Zeit. »Sie haben gehört, was Wilton neulich auf dem Rennplatz sagte … Es stimmt alles. Ich habe im Jähzorn meine, Frau erschossen. Aber was im allgemeinen nicht bekannt wurde, ist die Tatsache, daß ich auf ihren Bruder schoß und unglücklicherweise sie traf. Ich hatte mich furchtbar über ihn aufgeregt, und ich war damals noch jung und heißblütig. Bei dem Gerichtsverfahren wurden mir mildernde Umstände zuerkannt. Die Richter zogen in Betracht, wie schwer ich für mein Vergehen gestraft war, und verurteilten mich nicht zum Tode. Ich wurde nach Australien deportiert. Denken Sie sich, Mr. Stanton«, fuhr er mit bitterer Stimme fort, »ich stand damals am Beginn einer bedeutenden Laufbahn. Man hielt mich für einen großen Erfinder, der seiner Zeit viel nützen würde. Meine Frau war mir plötzlich genommen – ich hatte sie durch meine eigene Schuld verloren. Auch meine beiden Kinder hatte ich nicht mehr bei mir. Australien war damals noch ein verrufenes Land. Ich war fast von Sinnen, als ich dort anlangte. Niemals blieb ich lange in Gefangenenlagern, denn ich war ein sehr unruhiges Element und plante alle möglichen Anschläge gegen die Gefängnisleitung. Deshalb wurde ich schließlich zur Strafe an Bord des Dampfers ›President‹ gesandt. Sechs Jahre, mußte ich auf diesem, erbärmlichen Kasten aushalten. Ich war fast verzweifelt, aber dann bekam ich einen Brief von einem alten Freund aus England, der mir berichtete, daß er meine beiden Kinder zu sich genommen hätte und für sie sorgen wolle. Ihretwegen machte ich mir die schwersten Vorwürfe. Später schrieb er mir, daß sie nur auf den Tag warteten, an dem sie zu mir nach Australien kommen könnten. Das gab mir wieder Lebensmut. Ich hatte eine Unterredung mit Colonel Champ, der damals das Gefangenenlager beaufsichtigte und viel für die Leute tat, die seiner Obhut anvertraut waren. Ich sagte ihm, daß ich mich bessern wollte. Er glaubte mir auch und half mir. So wurde ich in einem wissenschaftlichen Institut beschäftigt und konnte dort in einem Laboratorium arbeiten. Ich machte wichtige Entdeckungen, die mich später zur Erfindung des biegsamen Glases brachten. Nachdem ich genügend Proben meiner Befähigung abgelegt hatte, kam ich in das Regierungslaboratorium und arbeitete unter dem jungen Dr. Lubbock.

 

Damals machte ich auch die Bekanntschaft eines gewissen John Cotton, der sich jetzt John Pentridge nennt. Wir waren zusammen in dem Laboratorium tätig, wo er die schweren Arbeiten zu verrichten hatte. Wir wurden gute Freunde. Er war so begabt, daß er den Sinn meiner Experimente verstand und auch ihren Wert beurteilen konnte. Ich arbeitete damals fieberhaft, um mir einen großen Erfolg zu sichern, denn ich hatte immer die Absicht, mit meinen Kindern in guten Verhältnissen zu leben, wenn ich freigelassen würde. Meine Freunde in England halfen, mir, und ich wurde schließlich am selben Tage wie John Pentridge entlassen. Wir logierten in einem kleinen Hotel in Melbourne und arbeiteten später in der gleichen Fabrik. Wenn wir abends zurückkamen, experimentierten wir noch zusammen. Ich fand eine neue Methode, Schafwolle zu färben, und nun brauchte ich nicht mehr in der Fabrik zu arbeiten. Meine Einnahmen wuchsen ständig, und ich konnte meine Studien in aller Muße betreiben. Meine beiden Kinder kamen zu mir nach Australien. Wir lebten glücklich zusammen, und die Jahre vergingen. Die beiden wuchsen auf, und meine Tochter heiratete. Mary ist ihr Kind. Mein Sohn fiel in den Kolonialkriegen in Afrika. Damals erfand ich das biegsame Glas und stellte die genaue Formel auf. Ich hatte für mich eine Scheibe Glas hergestellt, die so biegsam war wie Pappe. Aber ich hatte mich überarbeitet und wurde sehr schwer krank. Weil ich fürchtete, daß ich sterben müßte, schrieb ich den ganzen Herstellungsprozeß auf. Nachher packte mich das Fieber, und ich lag lange besinnungslos. Erst drei Wochen später kam ich wieder zum Bewußtsein, war aber noch sehr schwach und krank. In der Zwischenzeit war John Pentridge aus Australien verschwunden und hatte mir die Papiere gestohlen. Das ist in groben Umrissen die Geschichte meines Lebens.«

 

Eric hatte schweigend zugehört. Er empfand tiefes Mitgefühl für den alten Mann.

 

»Zehn Jahre lang habe ich in Australien nach John Pentridge gesucht«, fuhr John President fort. »Nun habe ich ihn hier gefunden, aber ich fühle, daß es vergeblich ist.«

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Stanton überrascht.

 

»Die Papiere sind nicht mehr in seinem Besitz. Das erkannte ich sofort, als er mir in Sandown so unverschämt entgegentrat. Er hat sie sicher veräußert.«

 

»Aber Sie können ihn doch zur Rechenschaft ziehen, und er muß Ihnen sagen, wo er sie gelassen hat!«

 

»Da kennen Sie John Pentridge schlecht«, erwiderte der alte Mann. »Aber jetzt wollen wir zu den Pferden gehen.«

 

Er änderte das Gesprächsthema, denn die Erinnerung an das schwere Leid seines Lebens nahm ihn zu sehr mit.

 

»Ich glaube, ich bin zu alt geworden, um noch zu hassen«, sagt er, während sie über das ebene Gelände gingen. »Ich habe verschiedene Detektive engagiert, um Pentridge ausfindig zu machen, und jetzt, da ich ihn gefunden habe, weiß ich nicht, was ich mit ihm machen soll.«

 

»Warum stellen Sie denn nicht jemand an, der Ihnen die Schriftstücke wieder beschafft?«

 

Eric war ein gutmütiger Mensch, der stets bereitwillig anderen helfen wollte, und seiner Meinung nach war das wieder eine Aufgabe für Milton Sands.

 

*

 

John Pentridge hatte eine Einladung nach Pennwaring erhalten, aber er zögerte, die Gastfreundschaft Sir Georges anzunehmen. Sein Auftreten hatte sich vollkommen geändert, nachdem er John President gesehen hatte. Er ging in seinem Hotelzimmer unruhig auf und ab, hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und den Kopf auf die Brust gesenkt. Er dachte darüber nach, ob es nicht besser wäre, wieder nach Frankreich zurückzukehren. Seine Stimmung war trüb, als Milton Sands in sein Zimmer trat.

 

Pentridge wandte sich sofort um, als sich die Tür öffnete.

 

»Wer sind Sie?« fragte er. »Wissen Sie nicht, daß dies mein Zimmer ist? Wie kommen Sie dazu, mich unangemeldet zu stören?«

 

»Beruhigen Sie sich, Penty«, erwiderte Sands leichthin.

 

Pentridge erkannte in ihm sofort einen Zeugen jenes Auftritts auf der Rennhahn, und es überkam ihn plötzlich eine ungewisse Furcht. Wahrscheinlich hatte dieser Besuch mehr zu bedeuten. Dieser Mann schien offenbar ein Freund John Presidents zu sein.

 

»Es hat keinen Zweck, daß Sie hierherkommen, um mich auszuholen«, sagte er ärgerlich. »Damit haben Sie kein Glück bei mir.«

 

»Ja, das ist mir klar«, entgegnete Milton und rückte einen Stuhl an den kleinen Tisch in der Mitte des Raums. »Trotzdem möchte ich einige Fragen an Sie richten, die Sie mir sicher gern beantworten werden. Sie sind doch der Mann, der Monsieur Soltescu die Formel des biegsamen Glases verkauft hat?«

 

»Ich lehne es ab, diese Frage zu beantworten«, erklärte Pentridge hartnäckig.

 

»Ich bin aber von Soltescu hierhergeschickt worden«, entgegnete Milton Sands lächelnd. »Er schrieb mir heute morgen einen Brief und bat mich darin, Sie aufzusuchen. Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen das Schreiben ja zeigen.«

 

Er griff in die Tasche und brachte den Brief zum Vorschein.

 

Pentridge betrachtete ihn argwöhnisch.

 

»Wie kann ich wissen, daß dieser Brief von Soltescu ist?«

 

»Beweise kann ich Ihnen dafür nicht geben. Sie müssen eben auf mein Wort glauben, daß der Brief von ihm ist.«

 

Pentridge las ziemlich lange, denn Soltescu hatte keine besonders leserliche Handschrift.

 

»Die Sache scheint in Ordnung zu sein«, brummte er. »Was wollen Sie denn von mir wissen?«

 

»Sie haben doch Soltescu die Beschreibung des Herstellungsprozesses verkauft?«

 

Pentridge nickte.

 

»Wie kamen die Papiere in Ihren Besitz?«

 

»Ich habe sie von einem Freund bekommen«, antwortete Pentridge ausweichend.

 

»Ich nehme an, daß Sie sie gestohlen haben, und zwar von eben diesem Freund. Aber ich möchte gern wissen, wer dieser Freund war, dem Sie die Papiere entwendeten, und unter welchen näheren Umständen Sie dies taten. Diese Einzelheiten sind für Monsieur Soltescu sehr wichtig. Ein Komitee auf der großen Ausstellung in Lyon hat nämlich eine Belohnung von hunderttausend Pfund für die Erfindung des biegsamen Glases ausgesetzt. Und dabei ist gar nicht einmal bekannt, daß ein solches Glas schon erfunden worden ist. Aber wenn Soltescu die Erfindung zur Prämiierung einreicht, muß er wissen, wer der Erfinder ist, und wir müssen noch viele. Details darüber in Erfahrung bringen.«

 

Pentridge ging in seinem Zimmer auf und ab und blickte düster vor sich hin.

 

»Wie lange dauert es, bis ein Diebstahl verjährt?«

 

Milton wußte sofort, worauf der Mann hinauswollte.

 

»Für den Staatsanwalt verjährt ein Verbrechen allerdings, aber nicht für den Bestohlenen und seine Schadenersatzansprüche. Aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Sie nicht angeklagt werden sollen.«

 

»Dann will ich Ihnen erzählen, wie die Geschichte kam«, erwiderte John Pentridge nach einer längeren Pause. »Ich hatte einen Freund in New South Wales, einen tüchtigen Erfinder. Er war der klügste Mensch, der mir jemals in meinem Leben begegnet ist. In Pentridge war er der älteste Gefangene, aber auch der schlaueste. Vor vielen Jahren wurde er deportiert, weil er seine Frau erschossen hatte. Er war ein schwer zugänglicher Mann, bis er sich plötzlich vollständig änderte. Er arbeitete die ganze Zeit an Erfindungen, und als er schließlich aus dem Gefängnis entlassen wurde, half ich ihm, denn ich kannte seine Methoden und war an die Zusammenarbeit mit ihm gewöhnt.«

 

Wieder machte er eine Pause.

 

»Dieser Mann hat auch die Herstellung von biegsamem Glas erfunden. Ich glaubte, daß er sterben würde – und –«

 

»Und da haben Sie sich mit den Aufzeichnungen über den Herstellungsprozeß aus dem Staube gemacht!«

 

»Aus dem Staube gemacht habe ich mich nicht. Ich bin von Australien abgereist. Das ist die ganze Geschichte.« »Wer war denn der Mann, den Sie bestohlen haben?«

 

Pentridge hatte die Überzeugung, daß Sands nicht für John President arbeitete.

 

»Das werde ich Ihnen nicht erzählen«, sagte er nach einer kleinen Weile. »Das müssen Sie selbst herausbringen. Der Mann ist tot.« Bei diesen Worten sah er Sands prüfend an.

 

»Sind Sie Ihrer Sache auch ganz gewiß?«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte Pentridge laut. »Glauben Sie, ich lüge Ihnen etwas vor?«

 

»Ich habe mir die Sache noch nicht genau überlegt. Aber wenn mir jemand das sagte, wäre ich nicht sehr erstaunt.«

 

»Monsieur Soltescu kann Ihnen verraten, wer es war. Der Name stand auf dem Briefumschlag.«

 

»Unglücklicherweise hat Soltescu den Briefumschlag vernichtet und kann sich nicht mehr auf den Namen besinnen.«

 

Milton sah, daß Pentridge erleichtert aufatmete.

 

»Nun, ich kann es Ihnen auch nicht sagen«, erklärte er kurz.

 

»Dann wäre noch etwas zu besprechen. Sie hatten einen alten Freund, mit dem Sie in früheren Jahren häufig zusammen gesehen worden sind. Sie kannten ihn schon in Australien, und er kam mit Ihnen nach Europa. Vor einiger Zeit fand man ihn in Monte Carlo ermordet auf.«

 

»Ermordet?« rief Pentridge bestürzt. Er war bleich geworden, und seine Hände zitterten. »Was wollen Sie damit sagen?«

 

»Nichts Besonderes. Er wurde mit zertrümmertem Schädel im Garten einer leerstehenden Villa aufgefunden. Und er wurde an dem Abend ermordet, an dem ich und Sie Monte Carlo verließen.«

 

»An dem Abend war ich nicht in Monte Carlo«, sagte Pentridge schnell.

 

»Selbstverständlich waren Sie dort. Sie spielten an demselben Tisch mit mir und wurden später aus dem Kasino gewiesen, weil Sie durch Ihr Benehmen die anderen Spieler störten.«

 

»Ich weiß nichts davon«, erwiderte Pentridge düster. »Auf keinen Fall hatte ich eine Ahnung, daß der Mann in Monte Carlo war.«

 

»Er hat Ihnen damals bei dem Diebstahl der Papiere in Australien geholfen, soviel ich weiß. Auf jeden Fall konnte ich feststellen, daß Sie beide von Melbourne mit demselben Dampfer abfuhren. War er der Erfinder?«

 

»Nein«, entgegnete Pentridge gereizt.

 

»Haben Sie eine Ahnung, warum der Mann ermordet wurde?«

 

Pentridge schwieg.

 

»Wissen Sie vielleicht, wer der Mörder ist?«

 

Wieder keine Antwort.

 

»Gab es einen triftigen Grund, aus dem Sie ihn getötet haben könnten?«

 

Pentridge wandte sich ärgerlich um.

 

»Wer sagt, daß ich ihn umgebracht habe?«

 

»Ich setze nur den Fall«, erklärte Milton liebenswürdig. »Ich will die Behauptung nicht ohne weiteres aufstellen.«

 

Damit erhob er sich und zog seine Handschuhe an.

 

»Ich sehe, daß ich die Informationen, die ich brauche, nicht von Ihnen bekommen kann.«

 

»Wohin wollen Sie gehen?« fragte Pentridge nervös.

 

»Ich setze meine Nachforschungen anderweitig fort.«

 

Als Milton Sands in das Auto stieg, das draußen auf ihn wartete, war er sich darüber klar, daß er Pentridge wohl einen heilsamen Schrecken eingejagt, sonst aber nicht viel erreicht hatte. In wessen Besitz mochten sich die Papiere jetzt befinden? Und wer war wohl ihr ursprünglicher Eigentümer? Wenn es ihm gelang, diesen Punkt aufzuklären, war viel gewonnen. Es war merkwürdig, daß er mit keinem Gedanken an John President dachte. Als Mary seine Hilfe gegen Bud Kitson in Anspruch nahm, glaubte er, daß sie nur deshalb in Verdacht gekommen war, weil sie das Zugabteil neben Soltescu innegehabt hatte. Er hielt den Verdacht des Rumänen damals für vollkommen unbegründet. Jetzt grübelte er darüber nach, ob nicht vielleicht doch mehr hinter der Sache stecke, als er vermutet hatte. Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe, und er kam deprimiert zu seinem Büro zurück. Aber es gab ja einen sehr einfachen Weg, dies festzustellen. Er brauchte doch nur Miss President selbst zu fragen. Als er eintrat, begrüßte er zuerst Janet, die eifrig die Morgenzeitungen durchstudierte. Dann nahm er einige Telegrammformulare aus seinem Schreibtisch und schrieb schnell.

 

»Ich muß aufs Land reisen, um mit Miss President zu sprechen.«

 

»Wie lange bleibst du fort?«

 

»Höchstens zwei Tage.«

 

»Du hast große Sorgen«, sagte sie schnell.

 

»Warum sollte ich denn große Sorgen haben?« protestierte er. »Ich war noch nie so lustig und vergnügt in meinem Leben.«

 

»Wie steht es denn mit deinen anderen Arbeiten? Hast du die Schwester Mr. Stantons gefunden?«

 

»Nein, bis jetzt habe ich noch keine Spur von ihr entdecken können.«

 

Sie sah ihn lange und nachdenklich an.

 

»Mir ist eine Idee gekommen«, sagte sie zögernd, »aber ich wage kaum, sie auszusprechen.«

 

»Was ist denn?« fragte er neugierig. »Ich bin dankbar für jede Anregung, die du mir geben kannst. Die Sache mit Miss Stanton fällt mir mit der Zeit auf die Nerven.«

 

»Vor vielen Jahren habe ich einmal Sir George Frodmeres Schwester kennengelernt. Jedenfalls war sie mit meiner Mutter bekannt.«

 

»Ich glaube, daß ich auch schon von ihr gehört habe«, erwiderte Milton lächelnd. »Sie ist die Dame, die leichtsinnig Dienstboten empfiehlt, wenn ihr Bruder es wünscht.«

 

»Darüber bin ich nicht orientiert. Aber ich weiß, daß sie sehr viel klatscht. Es ist während der letzten zwanzig Jahre kaum etwas in London passiert, was sie nicht wüßte. Vielleicht könnte dich diese Frau auf die Spur bringen.«

 

»Das ist tatsächlich eine gute Idee«, meinte er nachdenklich. »Ich will sie sofort aufsuchen, wenn ich von meiner Reise zurückkomme.«

 

Um zwei Uhr nachmittags fuhr er nach Sussex, aber er blieb nicht die beabsichtigten zwei Tage aus, sondern kam schon am selben Abend um elf Uhr wieder zurück. Die Nachrichten, die er erhalten hatte, stimmten ihn sehr nachdenklich und brachten ihm viel Arbeit. Als der graue Morgen dämmerte, und das erste Frühlicht durch die Fenster seines Schlafzimmers schien, saß er noch am Tisch und schrieb.