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Sir George stand ärgerlich vor dem großen Eßtisch. Soltescu saß in einem Lehnsessel, hatte die Hände in die Taschen gesteckt und schien sich über diese Entwicklung zu freuen. Als dritter war Polizeiinspektor Grayson anwesend. Toady kannte ihn von London her und wußte, daß er ein sehr fähiger Beamter war. Er wurde etwas unruhig, als er ihn sah.

 

»Haben Sie schon das Neueste gehört?« fragte Sir George entrüstet.

 

»Nein.«

 

»Kitson ist im Portland-Gefängnis!«

 

Toady erschrak und wurde noch bleicher.

 

»Aber wie ist denn das gekommen?« fragte er verstört.

 

»Erzählen Sie es ihm doch, Inspektor«, sagte Sir George, der jetzt nervös im Zimmer auf und ab ging.

 

»Es ist eine merkwürdige Geschichte«, begann Grayson mit einem sonderbaren Lächeln. »Ihr Freund, wenn ich so sagen darf – der Mann behauptet wenigstens, daß Sie sein Freund seien, und Sir George sagte mir, daß Sie ihn jedenfalls kennen –, wurde vor drei Tagen in London verhaftet. Sie haben vielleicht in der Zeitung gelesen, daß vor einigen Wochen ein Mann aus dem Gefängnis von Portland ausgebrochen ist, den die Polizei bisher noch nicht wieder finden konnte. Man nahm allgemein an, daß er sich nach London gewandt hätte, und allen Polizeistationen wurde seine Personalbeschreibung mitgeteilt. Am vergangenen Dienstagmorgen fand nun ein Polizist auf seinem Patrouillengang einen bewußtlosen Mann in einem Torweg. Er versuchte, ihn zu wecken, denn er hielt ihn für betrunken. Als ihm das nicht gelang, holte er Hilfe herbei und brachte ihn in einem Wagen zur Polizeistation. Man entdeckte dann, daß der Mann unter seinen Kleidern einen Sträflingsanzug trug. Alles stimmte genau, sogar die Gefängnisnummer. Es blieb nichts anderes übrig, als ihn zu verhaften und sich mit der Verwaltung des Portland-Gefängnisses in Verbindung zu setzen. Am nächsten Morgen kam der Mann zu sich und protestierte heftig gegen die Anklage. Er erzählte eine unglaubliche Geschichte, daß man ihn betäubt habe. Trotzdem wurde er oberflächlich von den Wärtern wiedererkannt, die ihn nach Portland brachten. Der Gefängnisdirektor und der Anstaltsarzt haben ihn dann verhört. Er blieb aber hartnäckig bei seiner Behauptung, daß er nicht der entkommene Sträfling sei. Als man ihn genauer untersuchte, fand man auch heraus, daß ein Irrtum vorliegen mußte. Die Nummern der Sachen wurden verglichen, und man entdeckte, daß sie gefälscht waren. Die Sache ist ein großes Rätsel. Ich bin nun von London gekommen und möchte Sir George und Sie bitten, mich nach dem Gefängnis von Portland zu begleiten. Die Persönlichkeit des Mannes, der sich selbst Kitson nennt, muß festgestellt werden.«

 

»Ich glaube bestimmt, daß er es ist«, entgegnete Sir George. »Ich habe selbst das Bild des ausgebrochenen Gefangenen gesehen, und mir ist sofort die außerordentliche Ähnlichkeit aufgefallen. Ist es tatsächlich nötig, daß ich persönlich mitkomme?«

 

»Ich fürchte, es ist unumgänglich notwendig«, erwiderte Inspektor Grayson.

 

»Wir müssen wirklich alle drei hingehen? Monsieur Soltescu braucht uns doch sicherlich nicht zu begleiten. Er will mit dem nächsten Zug fortfahren. Es genügt doch, wenn Mr. Wilton dabei ist.«

 

»Es wäre aber besser, Sie kämen alle mit.«

 

»Das ist sehr unangenehm«, meinte Sir George nach einer Pause. »Ich habe jemand hierher eingeladen, und ich wollte bei seiner Ankunft natürlich gern zugegen sein. Aber das ist nun Nebensache. Vor allem müssen wir sehen, daß dieser Pechvogel aus dem Gefängnis befreit wird. Wie weit ist es denn von hier nach Portland?«

 

»Nicht allzu weit, man kann die Strecke bequem im Auto machen.«

 

»Nun, dann bleibt also nichts anderes übrig«, erwiderte Sir George resigniert. »Wir müssen hinfahren, Toady. Holen Sie Ihren Mantel, ich lasse den Wagen sofort kommen. Bei der Gelegenheit können wir ja auch Soltescu zum Bahnhof bringen. Begleiten Sie uns, Inspektor?«

 

Der Beamte nickte.

 

»Wenn Sie es wünschen. Sonst kann ich ja auch den Zug benützen. Aber ich komme dann wahrscheinlich erst einige Stunden später in Portland an, und Sie müßten auf mich warten.«

 

Sir George war wirklich ärgerlich, denn alle seine Dispositionen wurden über den Haufen geworfen. Er hatte das Haus und das Landgut noch nicht verlassen, seitdem das Training von Portonius begonnen hatte, aber er konnte jetzt nichts ändern. Kitson durfte nicht im Gefängnis bleiben, sonst erzählte der Mann womöglich noch Dinge, die verhängnisvoll werden konnten.

 

Er sprach mit seinem Hausmeister, bevor er abfuhr.

 

»Ich erwarte einen Herrn aus der Stadt, Gillespie. Seien Sie recht liebenswürdig zu ihm. Er kann alle Räume benützen, denn er soll sich hier zu Hause fühlen. Spätestens morgen früh komme ich wieder zurück.«

 

»Jawohl, Sir George. Und wie ist es mit Portonius?« »Ach, der Mann kann das Pferd ruhig sehen. Sorgen Sie dafür, daß es ihm hier gefällt. Er ist gerade kein Gentleman«, fügte er zögernd hinzu, »aber Sie müssen ihn trotzdem als einen solchen behandeln.«

 

»Ganz wie Sie wünschen.«

 

Kurz darauf fuhren sie in dem großen, blauen Wagen des Baronets ab, um Bud Kitson aus seiner wenig angenehmen Lage zu befreien.

 

*

 

Eine halbe Stunde nach der Abfahrt Sir Georges hielt ein anderer Wagen vor der großen Treppe des Herrenhauses in Pennwaring.

 

Der Hausmeister, der darauf vorbereitet war, kam eilig die Stufen herunter, um den Fremden zu begrüßen.

 

»Es tut Sir George außerordentlich leid, daß er Sie nicht persönlich empfangen kann, aber er wurde unerwarteterweise abgerufen. Er läßt Sie bitten, es sich hier bequem zu machen, bis er zurückkommt.«

 

Der große, schlanke Herr, der aus dem Auto stieg, nickte. Als er sah, daß der Hausmeister sich um sein Gepäck kümmern wollte, sagte er leichthin: »Meinen Koffer habe ich nicht mitgebracht, ich bleibe nicht lange. Wann wird Sir George denn wieder hier sein?«

 

»Spätestens morgen früh.«

 

»Gut, dann will ich den Tag über hierbleiben. Ich habe mich telegrafisch angesagt.«

 

Der Fremde entließ seinen Chauffeur nur durch ein Kopfnicken, denn er hatte ihm schon vorher genaue Instruktionen gegeben. Der Wagen verließ den Park.

 

Der Besucher hatte viel Zeit, aber er nützte jeden Augenblick aus. Zur größten Überraschung Gillespies war sein Benehmen tadellos und höflich und paßte nicht zu der Beschreibung, die ihm Sir George gegeben hatte. Er war allerdings sehr neugierig und fragte nach allem möglichen. Auch ließ er sich alle Räume des Hauses zeigen. Er selbst hatte ein Zimmer, das neben Toady Wiltons Räumen lag.

 

Als er nach dem Mittagessen erklärte, daß er am Nachmittag etwas ausruhen wollte, atmete der geplagte Hausmeister erleichtert auf.

 

»Wollen Sie sich nicht das Pferd ansehen?« erkundigte er sich noch.

 

Wenn der Fremde die Frage bejahte, hatte der Hausmeister ja weiter nichts zu tun, als ihn der Obhut Bunchers anzuvertrauen. Das enthob ihn selbst jeder weiteren Mühe.

 

»Sie können mich um drei Uhr wieder wecken, dann sehe ich mir Portonius an. Gehört habe ich ja schon viel von ihm.«

 

Um halb zwei ging er in sein Zimmer.

 

Für einen Gast benahm er sich etwas außergewöhnlich. Er schloß die Tür zu und machte sich dann daran, die Verbindungstür zu den Räumen Toady Wiltons zu öffnen. Während Gillespie unten den anderen Dienstboten von dem merkwürdigen Fremden erzählte, durchstöberte dieser Wiltons Zimmer. Die Inspektion dauerte einige Zeit, aber als der Hausmeister ihn um drei Uhr weckte, war alles erledigt.

 

Mr. Buncher war sehr argwöhnisch und fluchte über den Leichtsinn seines Herrn, der einem Fremden gestattete, das Rennpferd zu sehen. Es gelang ihm wenigstens, zu verhindern, daß der Mann den Stall selbst betrat. Er hatte nur den oberen Flügel der Stalltür geöffnet.

 

»Wirklich ein schönes Pferd«, sagte der Besucher anerkennend und pfiff leise.

 

Portonius drehte sich um und kam zu ihm. Der Fremde schien sich sehr gut auf Pferde zu verstehen. Er streckte seine Hand aus, und der Hengst rieb seine Schnauze daran.

 

»Was machen Sie denn da?« fragte Buncher plötzlich.

 

Der Besucher sah den Trainer verwundert an.

 

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

 

»Sie sehen ja nach seinen Zähnen!«

 

Der andere starrte den Trainer verständnislos an, als ob er nicht begreifen könnte, was dieser von ihm wollte.

 

»Warum sollte ich denn nach seinen Zähnen sehen?« fragte er und lächelte. »Ich bin doch kein Zahnarzt!«

 

»Sir George wünscht nicht, daß andere Leute das Pferd anfassen«, entgegnete Buncher grob und schloß die Stalltür.

 

Die vielen Fragen, die der Fremde an ihn stellte, beantwortete er nur unbestimmt und widerwillig, so daß dem Gast nichts übrigblieb, als nach dem Herrenhaus zurückzukehren und sich zur Abfahrt zu rüsten. Er ging wieder auf sein Zimmer und nahm verschiedene Schriftstücke an sich, die er in Toadys Räumen gefunden hatte. Dann lehnte er sich aus dem Fenster und gab ein Signal mit einer Trillerpfeife. Der Hausmeister und Buncher hörten es ebenso wie der Chauffeur.

 

Drei Minuten später fuhr der Wagen vor. Dem Hausmeister tat es aufrichtig leid, daß der fremde Herr nicht auf die Rückkehr von Sir George warten wollte. Er hielt ihn jetzt wirklich für einen vollkommenen Gentleman, weil er ihm ein so reichhaltiges Trinkgeld gegeben hatte.

 

»Bestellen Sie Sir George bitte, daß ich sehr bedauere, ihn nicht angetroffen zu haben –«

 

Weiter kam der Besucher nicht, denn im gleichen Augenblick fuhr ein anderes Auto die große Rampe herauf und hielt dicht hinter seinem Wagen. Sir George sprang heraus und wurde wütend, als er den Gast sah.

 

Bud Kitson folgte ihm.

 

Es war nicht nötig gewesen, nach Portland zu fahren, denn schon vorher war eine Anweisung vom Innenministerium eingelaufen, den Mann freizulassen. Sir George hatte ihn auf dem Weg nach Pennwaring auf der Landstraße getroffen.

 

»Sie sind doch Milton Sands?« sagte Sir George unwirsch.

 

»Ja, so heiße ich«, entgegnete der Detektiv und zog seine Handschuhe langsam an.

 

»War dieser Herr im Hause?«

 

»Jawohl, Sir George«, erwiderte Gillespie entsetzt.

 

»Auch im Stall?«

 

»Jawohl.«

 

Der Baronet wandte sich zornig an Milton.

 

»Das war also Ihre Absicht! Deshalb haben Sie uns fortgelockt! Womöglich steckt Grayson mit Ihnen unter einer Decke!«

 

»Sie können sich denken, was Sie wollen«, erwiderte Milton Sands gelassen. »Jedenfalls habe ich Ihnen einen Besuch gemacht, und das genügt mir. Darf ich mich von Ihnen verabschieden?«

 

Er lüftete den Hut und wollte die Treppe hinuntergehen. Aber der Baronet trat ihm in den Weg.

 

»Sie gehen nicht eher von hier fort, bis ich genau weiß, was Sie hier gemacht haben. Am Ende nehmen Sie noch etwas mit – ein Mann, der sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen den Zutritt in ein fremdes Haus verschafft, muß sich gefallen lassen, daß man ihn durchsucht.«

 

»Sie werden mich nicht durchsuchen«, entgegnete Milton lächelnd. –

 

Sir George packte ihn am Arm. Im gleichen Augenblick wandte sich Milton aber um und versetzte ihm einen Faustschlag gegen das Kinn, daß der Mann rückwärts die Treppe hinuntertaumelte.

 

»Fassen Sie ihn, Bud«, brüllte Sir George.

 

»Das werde ich nicht gestatten.« Milton hielt die beiden jetzt durch seinen Browning in Schach und stieg schnell in den Wagen. »Ich habe in diesen kurzen Stunden gerade genug erfahren«, sagte er und neigte sich hinaus. »Soviel, daß ich ein Buch darüber schreiben könnte, Sir George! Nicht nur über das, was ich in Ihren Ställen gesehen habe, sondern auch über Ihren Freund Toady.«

 

Wilton stand dabei und hörte entsetzt zu.

 

Der Chauffeur fuhr an, und Sands winkte zum Abschied aus dem Wagen.