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Milton Sands ging auf der Rennbahn in Sandown auf und ab. Unerwartet traf er Mary President in der Begleitung Eric Stantons und begrüßte sie erstaunt.

 

»Ich dachte, Sie wären in Sussex?«

 

Sie sah ihn schuldbewußt an, aber Eric nahm sie sofort in Schutz.

 

»Ich wollte Miss Presidents Meinung über mein Rennpferd Jerry hören.«

 

Milton sprach noch eine Weile mit den beiden, dann trennten sie sich. Später sah er, daß Miss President allein zu den Sattelplätzen ging. Mr. Wilton trat auf sie zu, nahm aber kaum den Hut vor ihr ab, denn er fühlte sich ihr im Augenblick vollkommen überlegen.

 

»Hallo, Miss President, sind Sie ganz allein auf der Rennbahn?«

 

»Im Moment bin ich allein«, entgegnete sie höflich.

 

»Ich hatte schon seit langer Zeit die Absicht, einmal mit Ihnen zu sprechen.«

 

Sie wußte, daß das der Fall war, denn er hatte ihr stets seine Aufmerksamkeiten aufgedrängt. Er hatte immer Sir George Frodmere begleitet, wenn dieser zu ihrem Großvater kam, und in letzter Zeit hatten sich diese Besuche öfter wiederholt. Sir George kam unter irgendeinem Vorwand zu dem alten Herrn, und merkwürdigerweise hatte John President keine Abneigung gegen den Baronet, obwohl er wußte, daß dieser Mann nur Nutzen aus seinen Rennerfahrungen ziehen wollte. Mr. Wilton war ihr unausstehlich, besonders da er sich einbildete, viel Glück bei Frauen zu haben. Sie konnte ihn so wenig leiden, daß sie sich Mühe geben mußte, nicht unhöflich zu ihm zu sein.

 

Heute war er wieder ganz besonders unausstehlich.

 

»Wie geht es dem alten Herrn?« fragte er.

 

»Meinem Großvater geht es gut«, antwortete sie kurz.

 

»Sie sehen wirklich entzückend aus«, erklärte er voll Bewunderung. »So schön wie eine Rosenknospe …«

 

»Ich wünschte, Sie würden so etwas nicht sagen«, entgegnete sie und errötete vor Ärger.

 

»Aber warum wollen Sie denn das nicht hören? Es ist nur die reine Wahrheit. Außerdem darf ich Ihnen das doch sagen, weil ich Ihr Freund bin. Und ich glaube, Sie können in der nächsten Zeit Freunde brauchen.«

 

»Was soll denn das heißen?«

 

Er sah sich um, als ob er nach jemand suchte, und schließlich entdeckte er seinen Begleiter.

 

»Kennen Sie den Herrn dort?«

 

In einiger Entfernung sah sie Pentridge. Er war elegant und auffällig nach der neuesten Mode gekleidet, trug hellgelbe Handschuhe und einen tadellosen Zylinder.

 

»Haben Sie den Grafen Colini schon kennengelernt?«

 

Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. Und doch interessierte sie sich für den Herrn, der eine große Zigarre rauchte und sich selbstbewußt umschaute.

 

»Das ist Graf Colini, der in Monte Carlo die Bank gesprengt hat«, erwiderte Wilton großartig. »Er ist gerade kein Freund von John President.«

 

Sie wandte sich ab und sah Wilton mit einem ärgerlichen Blick an.

 

»Was soll das heißen?«

 

Er sah ihre Erregung und wollte sie beruhigen.

 

»Sie brauchen sich nicht weiter aufzuregen«, sagte er vertraulich. »Es muß ja sonst niemand etwas davon erfahren.«

 

In dem Augenblick hatte Pentridge ihn gesehen und kam auf ihn zu. Er sah älter aus als ihr Großvater, und seine Gesichtszüge kamen ihr bekannt vor. Aber sie wußte nicht, wo sie ihm schon begegnet war.

 

»Hallo, was machen Sie, Wilton?« fragte Pentridge.

 

»Miss President, darf ich Sie mit Graf Colini bekanntmachen?«

 

Sie starrte Pentridge an. Ihr Blick schien ihn nicht weiter zu stören.

 

»Wie geht es Ihnen, mein Kind? Sie sind also die Enkelin von John President?«

 

Sie wurde dunkelrot und wollte fortgehen, aber Wilton faßte sie am Arm.

 

»Tun Sie doch nicht so«, sagte er unverschämt.

 

In dem Augenblick merkte sie, daß der Mann zuviel getrunken hatte. Toady hatte mit Pentridge zu Mittag gegessen, und die beiden hatten reichlich Alkohol zu sich genommen. Als sie sah, in welcher Verfassung sie sich befanden, wurde sie plötzlich kühl.

 

»Ich kann nicht länger bleiben«, erklärte sie, aber Wilton hielt sie fest.

 

»Bleiben Sie doch noch einen Augenblick.«

 

Milton Sands hatte die Szene beobachtet und kam nun mit langen Schritten auf sie zu. Ohne weitere Umschweife packte er Toady am Kragen und schob ihn zur Seite.

 

So war bisher noch niemand mit Wilton umgegangen, und er erhielt einen schweren Schock. Aber dann faßte er sich wieder.

 

»Was fällt Ihnen denn ein?«« fragte er aufgebracht.

 

Noch drei andere Herren hatten sein anstößiges Betragen beobachtet und waren auch hinzugekommen. Toady war plötzlich von ihnen umgeben. Glücklicherweise waren die anderen Leute durch das Rennen so stark in Anspruch genommen, daß sie nicht weiter auf die Szene achteten.

 

Mary zitterte und ging mit bleichem Gesicht zu ihrem Großvater, der eben erregt auf Toady zukam.

 

»Wie dürfen Sie das wagen?« fuhr Toady Milton Sands an.

 

»Das ist noch gar nichts gegen das, was Sie erleben, wenn Sie noch einmal so unverschämt werden sollten«, entgegnete Milton grimmig.

 

»Was ist denn geschehen, Sands?« fragte Eric Stanton, der im Augenblick hinzugekommen war.

 

»Was los ist?« brüllte Toady. »Ich habe gerade mit einem Mädchen gesprochen, dessen Großvater früher im Gefängnis saß!«

 

»Was sagen Sie da?« rief Eric atemlos.

 

»Ja, er ist ein alter Zuchthäusler«, wiederholte Toady triumphierend und wandte sich an Pentridge, der John President erkannt hatte. »Stimmt das, Graf Colini?«

 

»Vollkommen, mein Freund«, entgegnete Pentridge laut und aggressiv.

 

»Sie sind es?« fragte John President und trat auf ihn zu. Pentridge fühlte sich nun doch etwas unbehaglich, schrak zurück und hob die Hand, als ob er einen Schlag abwehren wollte. Mary flüsterte ihrem Großvater etwas zu.

 

»Sie sind es?« wandte sich der alte Mann wieder an Pentridge.

 

»Ja, ich bin es«, entgegnete dieser trotzig. »Ihr alter Kamerad John Pentridge! Man nannte mich so, weil ich zwanzig Jahre im Gefängnis in Pentridge saß. Und Sie sind John President, der früher zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde. Vor vielen Jahren sind Sie nach Australien deportiert worden, weil Sie einen Mord begangen haben – er hat seine Frau aus Eifersucht erschossen!«

 

Der alte Mann bedeckte das Gesicht mit den Händen.

 

»Ja, das ist so«, sagte er und atmete schwer. »Vor fünfundfünfzig Jahren geschah es, und ich habe schwer dafür gebüßt.«

 

»Hören Sie, was er sagt?« rief Toady. »Und solche Leute dürfen sich heute ungestraft auf der Rennbahn zeigen! Ein alter australischer Zuchthäusler! Da weiß man endlich einmal, in welcher Gesellschaft man sich hier bewegt.«

 

»Sie wären der letzte, der so reden dürfte!«

 

Wilton wandte sich um. Lord Chanderson stand hinter ihm und sah ihn durchdringend an.

 

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Toady mit stockender Stimme. Es war ihm äußerst peinlich, daß der Lord Zeuge dieses Auftritts gewesen war.

 

»Ich sagte, daß Sie der letzte wären, der sich darüber beschweren sollte. Ihr Vorleben ist nicht vollkommen einwandfrei. Mr. Stanton, ist das Ihr Freund?«

 

»Wir standen ganz gut miteinander«, erwiderte Eric ruhig.

 

»Ich halte es für besser, daß Sie erfahren, was mir schon seit Jahren bekannt ist. Mr. Wilton ist der Mann, der meinen Namen in dem Hotel in Paris gefälscht hat. Und er war es auch, der die Briefe fälschte, die Ihr Vater fand. Er hat versucht, sich Ihrer Mutter zu nähern. Die Briefe sind in meinem Besitz. Weil sie ihn damals abwies, wollte er sich an ihr rächen. Außerdem hatte er die Nebenabsicht, von Ihrem Vater Geld zu erpressen.«

 

»Das ist eine gemeine Lüge!« schrie Toady außer sich.

 

»Ihr Vater entdeckte die Fälschung kurz vor seinem Tode und wollte Ihnen alles mitteilen. Wilton aber hat die Tatsache, daß Ihr Vater seinen Namen erwähnte, zu seinen Gunsten mißbraucht und so ausgelegt, als ob Ihr Vater für ihn sorgen wollte.«

 

Ein häßliches Grinsen verzerrte Wiltons Züge.

 

»Sie haben ja eine lebhafte Phantasie, Mylord. Sie können doch nicht wissen, was der Sterbende sagen wollte!«

 

Lord Chanderson nickte.

 

»Doch, dazu bin ich in der Lage. Mr. Stanton hat der Krankenschwester alles anvertraut, die ihn damals pflegte. Und Sie haben nachher die Frau bestochen, damit sie zu Ihren Gunsten aussagte. In meinem Besitz befindet sich aber die beeidete Erklärung der Frau und außerdem ein Nummernverzeichnis der Banknoten, die Sie ihr gezahlt haben.«

 

Während sich die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf Toady konzentrierte, hatte sich Pentridge aus dem Staube gemacht. Selbst John President, der die ganze Welt nach diesem Mann abgesucht hatte, war so fasziniert durch die dramatischen Enthüllungen des Lords, daß er es nicht bemerkte.

 

Eric Stantons Gesicht war bleich und hart.

 

»Das ist wahr, Wilton«, sagte er streng. »Ich kann es an Ihrem Gesicht sehen.«

 

»Ich – ich habe nur – getan, was ich für recht hielt«, erwiderte Toady verstört.

 

»Lassen Sie mich bitte einen Augenblick mit diesem Mann allein«, bat Eric.

 

Was die beiden miteinander besprachen, erfuhr niemand. Milton Sands beobachtete aus einiger Entfernung die Auseinandersetzung und sah nur, daß Stanton plötzlich Toady am Kragen packte und ihn heftig von sich stieß.