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Abends um elf erhielt Slick Smith den Besuch einer Dame. Der Hauswirt, der sehr auf guten Ruf hielt, erklärte unmutig, daß er das zu so später Stunde nicht dulden könnte. »Es handelt sich um eine äußerst wichtige Botschaft meines Freundes, Captain Shannon. Vielleicht würden Sie so freundlich sein, mir Ihr Wohnzimmer auf kurze Zeit zur Verfügung zu stellen?« erwiderte Slick. Dazu erklärte sich der Mann bereit. Nach einer Viertelstunde entfernte sich die Dame wieder, und Slick bedankte sich bei dem Wirt. Dann ging er in seine Wohnung hinauf, vertauschte den Frack mit einem Straßenanzug, schlüpfte in einen Flauschmantel und steckte allerhand rätselhafte Gegenstände ein. Die Dame, die ihn besucht hatte, wartete noch vor dem Haus auf ihn, und sie gingen zusammen bis zum Marble Arch. Slick bemerkte sehr wohl, daß der unvermeidliche Mann von Stormer ihm folgte, kümmerte sich aber nicht darum. Er verabschiedete sich von der Dame und fuhr in einer Droschke nach dem Greville-Gebäude, wo der Nachtportier ihn dienstbeflissen empfing und im Lift nach oben fuhr. Slick besaß zur Zeit eine elegante Wohnung im zweiten Stock des Hauses … Am selben Abend machte Sergeant Steel seine übliche Runde durch die zahllosen, außerordentlich verschiedenartigen Nachtklubs, die in London seit dem Krieg aus dem Boden geschossen waren. Gegen zwölf kehrte er heim und fühlte schon in der Tasche nach seinem Schlüssel, als ihm ein Mann mit einer Handtasche entgegenkam. Steel war todmüde, aber als er diese Tasche sah, nahm er die Verfolgung sofort auf. Sie war so schwer, daß der Mann sie bald in die eine, bald in die andere Hand nahm. Es war eine lange Jagd, denn der Mann merkte die Gefahr, beschleunigte seine Schritte, huschte bald um diese, bald um jene Ecke und begann schließlich zu laufen. Aber auch Steel hatte flinke Beine und ließ nicht von ihm ab, denn sein Instinkt sagte ihm, daß er diesen Mann stellen müßte. Der Flüchtling wurde immer nervöser, als die Verfolgung andauerte, und als er an einer Straßenecke einen Polizisten stehen sah und Steel dicht hinter sich wußte, zauderte er eine Sekunde, ließ dann die Tasche fallen und eilte blitzschnell davon. In diesem Augenblick erkannte ihn Steel: es war Slick Smith. »Folgen Sie dem Mann«, befahl er dem Polizisten und wandte seine Aufmerksamkeit der Handtasche zu … Dick Shannon war beim Auskleiden, als sein Assistent mit leuchtenden Augen ins Zimmer stürzte. »Sehen Sie her!« rief er und öffnete die Tasche mit einem Ruck. Wie versteinert schaute Dick hinein. »Die Diamanten!« flüsterte er. »Slick Smith hatte sie!« fuhr Steel atemlos fort. »Ich sah ihn von weitem und folgte ihm, ohne zu wissen, daß er es war. Er kniff aus, und als ich ihn erreichte, ließ er die Tasche fallen.« »Holen Sie ein Auto!« erwiderte Dick und zog sich schnell wieder an. Fünf Minuten später erschien Steel wieder, und diesmal hatte er die nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Das Auto war von Polizisten umringt. Sie verteilten sich auf den Sitzen und brachten die Diamanten wohlbehalten nach Scotland Yard. Dick kehrte mit Steel dann zum Haymarket zurück. Vor seiner Haustür fand er einen kleinen, schmutzigen Jungen. William stand neben ihm. »Er sagt, er hätte einen Brief für Sie«, meldete der Diener. »Mir wollte er ihn nicht geben.« »Ich bin Captain Shannon«, sagte Dick, aber der kleine Mann schien immer noch abgeneigt, sich von seiner Botschaft zu trennen. »Bringen Sie ihn herein«, befahl Shannon. Im Wohnzimmer zog der Junge endlich einen unsauberen Fetzen Zeitungspapier aus der Tasche. Dick nahm ihn und sah, daß es ein Stück von einem Londoner Morgenblatt war. Die Botschaft war mit Bleistift auf den unbedruckten Rand gekritzelt:

»Um Himmels willen, retten Sie mich! Ich bin am Foulds Kai. Der Teufel will mich noch vor morgen früh umbringen. Lacy Marshalt.«

»Lacy Marshalt!« schrie Steel. »Großer Gott, das ist doch nicht möglich!« »Woher hast du das?« fragte Dick rasch. »Ein Junge gab es mir in der Spa Road. Er sagte, ein Herr hätte es dicht bei Dockhead durch ein Gitter gesteckt, und ich würde ein Pfund kriegen, wenn ich es Captain Shannon brächte.« »Warum kam er denn nicht selbst damit her?« Der Bursche grinste. »Weil er Sie kennt!« »Weißt du, wo Foulds Kai ist?« »Ja, ich hab‘ oft dort geangelt.« »Gut, dann kannst du uns den Weg zeigen. William, holen Sie den Wagen heraus. Setzen Sie den Bengel neben sich, und desinfizieren Sie ihn! Hier hast du dein Geld.« Sie fuhren bei Scotland Yard vor, um ein paar Beamte mitzunehmen, und hielten an der London Bridge an, wo sie einen Distriktssergeanten vorfanden, der am Fluß Bescheid wußte. Dann wurde der Junge entlassen. Kurz darauf sahen sie das glitzernde Wasser der Themse. »Nach rechts«, sagte der Sergeant. Sie betraten einen Pfahlrost, auf dem Dicks Schritte hohl und dumpf tönten, als er darauf entlangging und ins Wasser hinunterschaute. »Niemand zu sehen. Wir müssen ins Lagergebäude hinein.« »Hilfe!« Die Stimme klang schwach, aber Dick hörte sie und hob die Hand. Einen Augenblick standen alle reglos und lauschten, dann hörten sie das leise Wimmern wieder: »Hilfe! Um Himmels willen, Hilfe!« Dick beugte sich über das Wasser hinab. Die Flut stieg, und etwas weiter nach rechts lag ein Boot. Vorsichtig tastete er sich hin und sprang hinein. »Hilfe!« Jetzt klang die Stimme näher. »Wo sind Sie?« schrie Dick. »Hier!« Es war Marshalts Stimme! Da keine Ruder vorhanden waren, zog sich Dick, nachdem er das Boot losgemacht hatte, mit den Händen an den Planken entlang, bis er die Stelle erreichte, von der der Ruf gekommen war. Mit seiner Taschenlampe leuchtete er umher, und wenige Sekunden später fiel ihr Schein auf Marshalts Gesicht. Der Mann stand bis über die Schultern im Wasser, und seine über den Kopf emporgereckten Hände waren an einem Pfahl festgebunden. »Machen Sie das Licht aus – sonst faßt er Sie!« schrie er. Dick folgte der Aufforderung, und im selben Augenblick knallten zwei Schüsse. Sein Hut flog davon, und er fühlte einen brennenden Schmerz am linken Ohr. Rasch paddelte er das Boot mit den Händen zurück und holte Steel. »Holen Sie Ihren Revolver heraus und machen Sie Licht«, sagte er, während er das Boot wieder durch das Labyrinth der faulenden Pfähle steuerte. »Und schießen Sie, sobald Sie einen Kopf sehen!« Drei Minuten später war Marshalt aus seiner furchtbaren Lage befreit und sank keuchend auf dem Boden des Bootes nieder. So schnell als möglich brachten sie ihn zur nächsten Polizeiwache, wo er nach einem heißen Bad und in geborgten Kleidern etwas mehr zu sich kam. Er zitterte allerdings noch wie Espenlaub. Dick hatte inzwischen mit einigen Leuten das Lagerhaus durchsucht, ohne etwas anderes zu finden als eine der grünen Patronenschachteln, die er in Marshalts Vorratszimmer gesehen hatte. Marshalt selbst wußte nicht viel zu erzählen, als Dick erschien. »Es war dumm von mir, in die Falle zu gehen, als Tonger mir den Brief brachte«, begann er. »Den Brief einer Dame, die mir schrieb, daß ich sie dort treffen würde. Sie können Tonger fragen.« »Ich fürchte, er kann uns nichts mehr sagen«, warf Dick ein. »Wie? Er ist doch nicht –« »Eine Stunde, nachdem man Sie überfallen hatte, fand man ihn – erschossen auf.« »Großer Gott!« erwiderte Marshalt tonlos und schwieg eine Weile. »Ich weiß selbst nicht, wie ich dazu kam«, fuhr er dann mit einem Seufzer fort, »aber ehe ich hinüberging, zog ich eine kugelfeste Weste an – ein unbequemes Kleidungsstück, das ich während des Kriegs im Balkan getragen hatte, als ich dort in Geschäften herumreiste. Sie rettete mir tatsächlich das Leben. Ich ging ohne Mantel nach Nr. 551 hinüber und wurde auch gleich eingelassen, nachdem ich geklopft hatte. Als eine Stimme von oben mich aufforderte, hinzukommen, folgte ich der Einladung natürlich und stand plötzlich einem offenbar verkleideten Mann gegenüber. ›Nun hab ich dich!‹ rief er lachend und richtete den Revolver auf mich. Der Schuß war das Letzte, was ich hörte, bevor ich wieder zu mir kam. Auch was nachher mit mir geschah, weiß ich nicht recht. Ich muß wohl viel geschlafen haben, und ein paarmal kam der alte Mann und bohrte mir eine Nadel in den Arm …« Er lehnte sich matt zurück. »Und das Weitere wissen Sie ja bereits.« Dick nickte. »Nur eins, Marshalt! Gibt es einen Durchgang oder eine Tür, die das Malpas’sche Haus mit dem Ihrigen verbindet?« »Meines Wissens nicht.« »Und Sie behaupten, Malpas nicht wiedererkannt zu haben? Sie müssen doch irgendeinen Gedanken – oder wenigstens eine Ahnung über seine Persönlichkeit haben?« Marshalt zögerte einen Augenblick. »Sie werden es vielleicht phantastisch finden«, meinte er dann, »aber es kommt mir so vor, als ob – als ob Malpas eine Frau wäre.«