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Dick Shannon war etwas ruhiger geworden, als er das Marshaltsche Haus verließ. Rein mechanisch warf er einen Blick auf das Nebengebäude, das er beobachtet hatte, als Audrey herausstürzte und ihm geradenwegs in die Arme lief. Die Fassade war vorhin dunkel gewesen, aber jetzt erblickte er Licht in einem der Fenster. Als er aber näherkam, erlosch es wieder. Er klopfte an die Tür und glaubte, eine leise Bewegung in der Halle zu vernehmen. Würde der geheimnisvolle Mann doch endlich herauskommen?

 

Fast zehn Minuten wartete er, bevor er seinen Wachtposten verließ. Er wollte Audrey noch sprechen und sich ihre Geschichte genauer erzählen lassen, die sie ihm vorhin nur abgerissen und zusammenhanglos mitgeteilt hatte. Vergeblich hielt er nach einem vorüberfahrenden Auto Ausschau und wandte sich schließlich um. Aber plötzlich blieb er wieder stehen. Bildete er es sich nur ein, daß eine dunkle Gestalt aus dem rätselhaften Haus herausschlüpfte und mit sonderbarem, etwas hinkendem Gang davoneilte? Sofort nahm er die Verfolgung auf und stellte den Mann an der Ecke der Orchard Street.

 

»Verzeihen Sie!«

 

Der Fremde kehrte ihm das schmale, strenge Gesicht zu. Durch die Gläser einer goldenen Brille musterten zwei forschende Augen den Detektiv, und unwillkürlich glitt seine Rechte in die Manteltasche.

 

»Sie sind ein Bekannter von Mr. Malpas, nicht wahr? Ich sah Sie aus seinem Haus herauskommen.«

 

»Nein, ich kenne Mr. Malpas nicht. Ich bin ganz fremd in London und wollte nach Oxford Circus.«

 

»Aber ich habe Sie vor zwei Minuten noch nicht auf dem Platz gesehen.«

 

Der Mann lächelte.

 

»Das liegt daran, daß ich von dieser Seite kam und umkehrte, als ich merkte, daß ich fehlgegangen war.«

 

»Wohnen Sie hier in London?«

 

»Ja, im Ritz-Carlton. Ich bin Präsident einer Südafrikanischen Minengesellschaft. Verzeihung, es ist wohl eigentlich töricht von mir, einem zufälligen Bekannten diese Auskunft zu geben, aber Sie sind doch Captain Richard Shannon?«

 

Dick war starr vor Staunen.

 

»Ich entsinne mich nicht, Mr. –«

 

»Mein Name kann Sie unmöglich interessieren. Mein Paß lautet auf den Namen Brown. Näheres können Sie im Kolonialamt erfahren. Nein, wir haben uns noch nicht getroffen, aber ich kenne Sie.«

 

Dick mußte trotz seiner Enttäuschung lachen.

 

»Gestatten Sie mir, Ihnen den Weg zu zeigen? Eine Autodroschke dürfte zu empfehlen sein. Ich will nach der Regent Street und werde mitfahren.«

 

Der Fremde neigte höflich den Kopf. Gleich darauf kam ein leeres Taxi vorüber und wurde angehalten.

 

Dick hatte ihn im Schein der Straßenlaterne genau betrachtet. Etwas Abschreckendes hatte der Mann nicht an sich. Sein dichtes Haar war weiß, die Schultern leicht gebeugt, und obwohl seine mageren, knorrigen Hände abgearbeitet waren, machte er doch entschieden den Eindruck eines Gentlemans.

 

An der Ecke des Circus hielt das Auto, und der alte Herr stieg mühsam aus.

 

»Ein armer Krüppel!« bemerkte er gutmütig. »Haben Sie vielen Dank; Captain Shannon.«

 

Dick beobachtete ihn noch, während der Mann auf die Untergrundbahn zuhinkte.

 

»Ich möchte nur wissen –!« murmelte er vor sich hin.

 

Audrey erwartete ihn in der Halle des Palace-Hotels, und alle Spuren von Kummer waren aus ihrem Gesicht verschwunden.

 

Sie wollte nicht auf ihr trauriges Erlebnis zurückkommen, aber er bestand darauf.

 

»Der Kerl ist ein Schuft!« sagte er dann. »Audrey, vom Portman Square müssen Sie sich fernhalten.«

 

»Audrey?« wiederholte sie lächelnd. »Nun, ich mache mir nichts daraus, obgleich ich fühle, daß ich etwas erwachsener sein müßte. In Holloway nannten sie mich ›83‹ oder einfach ›Bedford‹. Ich glaube, daß mir ›Audrey‹ besser gefällt – bei Leuten, die nicht dazu neigen, meine Hand festzuhalten und sentimental zu werden.«

 

Er gab sich große Mühe, ärgerlich zu werden, aber es gelang ihm nicht.

 

»Ich werde Sie Audrey nennen, und wenn ich sentimental werden sollte, so sagen Sie nur ›Geschäft‹, dann bin ich gleich wieder brav. Und Portman Square geben Sie auf.«

 

»Sie meinen Mr. Malpas?« fragte sie schnell.

 

Er nickte.

 

»Ich weiß nicht, wieviel Sie von seinem Geld ausgegeben haben –«

 

»Sechzig Pfund.«

 

»Die werde ich Ihnen geben, und dann können Sie ihm das Geld zurückschicken.«

 

Er spürte ihr Widerstreben.

 

»Nein, das geht nicht, Mr. Shannon«, erwiderte sie rasch. »Ich muß die Sache selbst ordnen. Wenn ich am Sonnabend hingehe, werde ich ihn bitten, mir die Höhe des Gehaltes zu nennen, und ihm dann ganz offen sagen, wieviel ich verbraucht habe. Das Übrige gebe ich zurück. Wenn ich die Unterredung hinter mir habe –«

 

»Sie darf nicht lang dauern«, warf er ein. »Sonst komme ich in sein gruseliges Wohnzimmer hineinspaziert –«

 

Als sie später in ihrem Zimmer war und sich auskleidete, entdeckte sie auf dem Toilettentisch ein Briefchen. Die kritzlige Handschrift war ihr wohlbekannt, und sie riß den Umschlag auf. Er enthielt nur einen Zettel mit wenigen Zeilen:

 

»Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Entkommen. Sie hätten sich des Messers bedienen sollen.«

 

Der Atem verging ihr fast. Wie konnte Malpas wissen, was hinter verschlossenen Türen in Marshalts Privatzimmer vorgegangen war? …

 

Dick Shannon kehrte zu Fuß nach seiner Wohnung zurück und wollte eben ins Haus gehen, als er seinen Begleiter von vorhin am Rand des Gehsteigs stehen sah. Er trat auf ihn zu.

 

»Haben Sie sich wieder verirrt, Mr. Brown?«

 

»O nein«, erwiderte der alte Herr gelassen. »Aber nachdem wir uns getrennt hatten, fiel mir ein, daß ich gern ein wenig mit Ihnen gesprochen hätte.«

 

»Bitte, treten Sie näher.«

 

Dick führte ihn in sein Arbeitszimmer und schob einen Lehnsessel für ihn zurecht.

 

»Stehen und Gehen ist etwas schmerzhaft für mich«, meinte Brown, als er sich mit einem Seufzer niederließ. »Danke sehr, Mr. Shannon. Was wissen Sie eigentlich über Malpas?«

 

Fast bestürzt schaute ihn der Detektiv an.

 

»Wahrscheinlich weniger als Sie«, entgegnete er zögernd.

 

»Ich weiß nur, daß er sehr zurückgezogen lebt, sich nicht in die Angelegenheiten seiner Nächsten mischt und auch keine Einmischung ihrerseits wünscht.«

 

War das eine Herausforderung? Dick war sich nicht klar darüber.

 

»Wir wissen nur, daß seltsame Leute ihn besuchen.«

 

»Wer bekommt keine solchen Besuche? Spricht das gegen ihn?«

 

»Durchaus nicht. Aber alleinlebende, ältere Herren geben uns immer zu denken. Es kann jeden Tag die Notwendigkeit an uns herantreten, uns Eintritt zu erzwingen und dann eine Leiche vorzufinden. Weshalb nehmen Sie denn an, daß ich etwas über Malpas weiß?«

 

»Weil Sie das Haus beobachteten, bevor die junge Dame aus Marshalts Haus herauskam und Ihre Aufmerksamkeit ablenkte. Um die Wahrheit zu sagen, ich beobachtete den Beobachter und dachte darüber nach, was Sie wohl gegen Malpas hätten. Übrigens – was ist denn dem Mädchen zugestoßen? Marshalt hatte früher einen schlechten Ruf, und man darf wohl annehmen, daß er sich nicht sonderlich gebessert hat. Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?« Er nahm einen Kiesel aus der Westentasche, an dem ein rotes Siegel klebte.

 

Dick betrachtete das Stück genau.

 

»Was ist das?«

 

»Ein roher Diamant mit dem Merkmal unserer Minengesellschaft. Wir versehen jeden größeren Stein mit einem solchen Kennzeichen und benützen dazu eine besondere Art von Siegellack, die nicht erhitzt zu werden braucht. Ich wüßte gern, ob jemand Ihnen einen Stein dieser Art gebracht hat. Die Polizei pflegt ja in den Besitz der seltsamsten Gegenstände zu kommen.«

 

»Nein, einen solchen Stein habe ich noch nicht gesehen. Haben Sie einen verloren?«

 

»Ja, wir vermissen einen. Haben Sie vielleicht einmal von einem gewissen Laker gehört? Nein? Den hätte ich Ihnen gern vorgestellt. Ein interessanter Mensch – leider trank er. Nüchtern war er ein Genie – betrunken ein kolossaler Dummkopf!« Mr. Brown erhob sich. »Der jungen Dame ist doch nichts Ernstliches passiert?«

 

»Nein – sie hat nur eine sehr unangenehme Erfahrung gemacht.«

 

»Wer könnte mit Lacy zusammenkommen, ohne unangenehme Erfahrungen zu machen?«

 

»Sie kennen ihn also?«

 

Brown nickte.

 

»Sehr genau?«

 

»Niemand kennt einen anderen genau«, erwiderte der alte Mann ruhig. »Gute Nacht, Captain! Verzeihen Sie die Störung. Meine Adresse kennen Sie ja. Sollten Sie mich einmal brauchen, so telephonieren Sie bitte vorher. Ich halte mich viel auf dem Lande auf.«

 

Dick schaute ihm nachdenklich nach. Wer war dieser Mann? Und warum herrschte Feindschaft zwischen ihm und Lacy Marshalt?