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Der Mann, der zweimal starb

 

Die Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt war ungewöhnlich lang. Aber die drei Herren, die in einer der Logen saßen, waren in so harmonischer Stimmung, daß keiner es für notwendig hielt, Konversation zu machen. Das Theaterstück, das sie sich ansahen, war ein gewöhnliches Detektiv- und Verbrecherstück, und jeder von ihnen hatte das »Geheimnis« des Mordes schon enträtselt, bevor der Vorhang nach dem ersten Akt fiel. Alle drei hatten ohne große geistige Anstrengung die richtige Lösung gefunden.

 

Mr. Fare, der Polizeidirektor, hatte mit George Manfred und Leon Gonsalez zu Abend gespeist, dann waren sie gemeinsam zum Theater gegangen.

 

Mr. Fare runzelte die Stirn, als ob er eine unangenehme Erinnerung hätte. Plötzlich hörte er ein leises Lachen und begegnete den belustigten Blicken Leons, als er aufschaute.

 

»Warum lachen Sie?« fragte er, angesteckt von der Fröhlichkeit des anderen.

 

»Über Ihre Gedanken!«

 

»Über meine Gedanken?« wiederholte Mr. Fare erstaunt.

 

»Ja – Sie dachten eben an die ›Vier Gerechten‹.«

 

»Das ist aber sehr merkwürdig! Ich habe tatsächlich an sie gedacht. War das nun Telepathie?«

 

Gonsalez schüttelte den Kopf.

 

Manfred schaute währenddessen zerstreut ins Parkett.

 

»Nein, es war keine Telepathie«, erwiderte Leon. »Ich konnte Ihre Gedanken von Ihrem Gesichtsausdruck ablesen.«

 

»Aber ich habe doch kein Wort von diesen Kerlen gesagt! Wie kommen Sie denn darauf …?«

 

»Der Gesichtsausdruck, besonders der Ausdruck der Erregung, gehört in die Kategorie der primitiven Instinkte sie sind nämlich nicht gewollt, nicht beabsichtigt.« Leon war nun bei seinem Lieblingsthema. »Wenn ein Billardspieler zum Beispiel einen Ball gestoßen hat, so verrenkt er gewöhnlich seinen Körper je nach der Richtung, die der Ball nimmt. Sie haben doch sicher schon einmal die Verdrehungen eines solchen Spielers beobachtet, der die zweite Kugel nur um ein Geringes verfehlte? Ein Mann, der mit der Schere ein Stück Tuch abschneidet, kaut unwillkürlich, und ein Ruderer bewegt seine Lippen bei jedem Ruderschlag. Wir nennen das unwillkürliche Bewegungen. Bei Tieren können Sie dasselbe bemerken.«

 

»Gibt es denn tatsächlich einen feststehenden Gesichtsausdruck für den Gedanken an die ›Vier Gerechten‹?« fragte Mr. Fare lächelnd.

 

Leon nickte.

 

»Es würde sehr lange dauern, das genau zu beschreiben – aber ich will Sie nicht täuschen. Ich habe Ihre Gedanken weniger gelesen als vermutet, indem ich ihnen folgte. Die letzten Worte des Aktes, den wir eben sahen, wurden von einem theatralischen Geistlichen gesprochen: ›Gerechtigkeit! Es gibt eine Gerechtigkeit, die über dem Gesetz steht!‹ Ich sah, daß Sie die Stirn runzelten und dann dem Redakteur des ›Megaphone‹ zunickten, der in der anderen Logenreihe sitzt. Es fiel mir ein, daß Sie für diese Zeitung einen Artikel über die ›Vier Gerechten‹ geschrieben haben –«

 

»Ach, Sie meinen den kleinen Nachruf für den armen Falmouth«, verbesserte Mr. Fare. »Ja, nun verstehe ich. Sie haben natürlich recht. Ich dachte an diese Leute und an ihre Anmaßung, sich als Richter und Henker aufzuwerfen, wenn das Gesetz die Schuldigen zu strafen verfehlt oder wenn sich die Schuldigen dem gerechten Urteil entziehen konnten.«

 

Manfred wandte sich plötzlich um.

 

»Leon«, sagte er in Spanisch – die drei hatten sich schon den ganzen Abend in dieser Sprache unterhalten –, »sieh dir doch einmal den Herrn mit den großen Brillantknöpfen an der Hemdenbrust an. Was hältst du von ihm?«

 

Leon richtete sein Opernglas auf den Mann und betrachtete ihn eingehend.

 

»Ich würde ihn gern einmal sprechen hören«, erwiderte er nach einer Weile. »Er hat ein zartes Gesicht, aber sein Unterkiefer ist so stark entwickelt, daß die unteren Zähne über die oberen vorgreifen. Sind seine Augen nicht ungewöhnlich groß?«

 

Manfred schaute durch das Opernglas zu dem ahnungslosen Fremden hinüber.

 

»Sie sind groß – ja, sie treten stark hervor.«

 

»Was siehst du sonst noch?«

 

»Seine Lippen sind dick und wie geschwollen.«

 

Leon nahm das Glas zurück und wandte sich an Fare.

 

»Ich wette nie, aber wenn ich es täte, würde ich tausend Pesetas darauf setzen, daß dieser Mann eine heisere, gebrochene Stimme hat.«

 

Mr. Fare schaute auch ins Parkett hinunter.

 

»Sie haben ganz recht. Mr. Ballams Stimme ist tatsächlich ungewöhnlich rauh und heiser. Was schließen Sie denn daraus?«

 

»Daß er einen bösen Charakter hat«, erwiderte Gonsalez. »Mein lieber Freund, dieser Mann ist ein gefährlicher, schlechter Mensch. Die vortretenden Augen und die krächzende Stimme sind untrügliche Zeichen – sie deuten auf nichts Gutes.«

 

Mr. Fare rieb aufgeregt seine Nase.

 

»Wenn ich Sie nicht so genau kennen würde, könnte ich jetzt sehr grob werden und einfach behaupten, daß Ihnen der Mann von früher her bekannt ist und daß Sie ihn schon öfter getroffen haben. Aber nachdem Sie mir gestern eine so außergewöhnliche Probe Ihrer Fähigkeiten gegeben haben, bin ich davon überzeugt, daß doch etwas hinter der Physiognomik stecken muß.«

 

Mr. Fare dachte an den Besuch, den Leon Gonsalez und Manfred in der Registratur von Scotland Yard gemacht hatten. Man hatte vierzig Fotografien auf dem Tisch vor Gonsalez ausgebreitet, und er hatte die Leute nacheinander beurteilt und die Verbrechen aufgezählt, deren sie sich schuldig gemacht hatten. Es unterliefen ihm dabei im ganzen nur vier Fehler, und auch diese waren entschuldbar.

 

»Ja, Gregory Ballam ist ein schlechter Mensch«, sagte der Polizeidirektor nachdenklich. »Er ist uns niemals unter die Hände gekommen, aber das ist eben Glück im Spiel. Er ist so schlau wie der Teufel, und es tut mir leid, daß eine so hübsche Dame wie Genee Maggiore ihn begleitet.«

 

»Ist das die Dame, die neben ihm sitzt?« fragte Manfred interessiert.

 

»Sie ist Schauspielerin«, murmelte Gonsalez. »Siehst du, wie sie in gewissen Zwischenräumen ihren Kopf erst nach links und dann nach rechts dreht, obwohl es weder links noch rechts etwas zu sehen gibt? Sie ist daran gewöhnt, daß man sie beobachtet. Das ist weniger Eitelkeit als ein ganz besonderes Kennzeichen ihres Berufes.«

 

»Was treibt dieser Ballam eigentlich?« fragte Manfred den Polizeibeamten.

 

»Sie kennen doch unseren Dickens?« Mr. Fare hielt Manfred für einen Spanier. »Es ist sehr schwer, Ihnen zu erklären, wie Gregory Ballam sein großes Einkommen erwirbt«, sagte er dann ernst. »Er ist eine Art Geldverleiher und hat nebenbei noch verschiedene andere einträgliche Geschäfte.«

 

»Was denn zum Beispiel?« fragte Manfred.

 

Mr. Fare schien nicht gern zu antworten.

 

»Ich will es Ihnen im tiefsten Vertrauen sagen. Wir haben Grund anzunehmen, daß er eine Opiumhöhle unterhält, die von reichen Leuten besucht wird. Haben Sie nicht letzte Woche von John Didworth gelesen, der eine Krankenpflegerin in Kensington Gardens niederknallte und sich dann selbst erschoß?«

 

Manfred nickte.

 

»Er war doch ein sehr bekannter Mann?«

 

»Ja, er genoß so großes Ansehen und hatte so viele Beziehungen, daß wir den Fall auf sich beruhen ließen. Es hätte zuviel Staub aufgewirbelt. Er starb am nächsten Tag im Hospital, und die Ärzte erklärten, daß er unweigerlich unter dem Einfluß eines indischen Rauschgiftes stand. In den wenigen Augenblicken, in denen er noch zum Bewußtsein kam, erzählte er dem Arzt, daß er in der Nacht vorher betrunken war und schließlich in einer Art Opiumhöhle landete. Von der Zeit an konnte er sich auf nichts mehr besinnen, bis er im Hospital erwachte. Er starb, ohne zu wissen, daß er dieses gräßliche Verbrechen begangen hatte. Zweifellos hat er unter dem Einfluß dieses Rauschgiftes in einer Art Wahnsinn die erste Person niedergeschossen, die ihm begegnete.«

 

»War er in Mr. Ballams Opiumhöhle?« fragte Gonsalez interessiert.

 

In diesem Augenblick hob sich der Vorhang wieder, und sie konnten ihre Unterhaltung nur noch flüsternd fortsetzen.

 

»Das wissen wir nicht genau. In seinem Delirium hat er allerdings Ballams Namen erwähnt. Wir haben alles getan, was in unseren Kräften stand, um es herauszubringen. Ballam ist Tag und Nacht beobachtet worden. Alle Lokale, die er besucht hat, haben wir durchforscht, aber wir haben nichts gefunden, was ihn in irgendeiner Weise belasten könnte.«

 

Leon Gonsalez hatte seine besonderen Eigentümlichkeiten. Morgens um neun Uhr beim Frühstück war er am lebhaftesten und leistungsfähigsten. Am nächsten Morgen legte er die Zeitung hin und fragte:

 

»Was ist eigentlich Verbrechen?«

 

»Mein lieber Professor«, sagte Manfred feierlich, »das will ich dir sagen. Es ist die Abweichung von den Gesetzen, welche die menschliche Gesellschaft beherrschen.«

 

»Das ist eine abgegriffene Erklärung. Mein lieber George, um neun Uhr morgens bist du immer etwas fade. Hätte ich dich um Mitternacht gefragt, so hättest du mir geantwortet, daß jede Handlung ein Verbrechen ist, die absichtlich deinen Nächsten verletzt oder schädigt. Wenn ich die Sache noch genauer bestimmen und, wie man sich hierzulande ausdrückt, juristisch definieren wollte, würde ich hinzusetzen, ›die gegen das Gesetz verstößt‹. Auf ein aufgeklärtes Verbrechen kommen wohl zehntausend unentdeckte. Die Leute nennen eigentlich nur diejenigen Übertretungen Verbrechen, die von einer gewissen Klasse von ungebildeten oder halbgebildeten Verrückten oder Halbverrückten begangen werden. Hier liegt doch eine ganz gemeine Tat vor, ein ungeheuerliches Verbrechen. Wir haben hier einen Mann, der die Lebenskraft junger Menschen zerstört und ihr Glück erbarmungslos mordet. Hier ist einer, der Männer und Frauen in den Schmutz zieht, sie in ihren eigenen Augen herabsetzt und allen Ehrgeiz, alles Aufwärtsstreben in ihnen tötet, nur damit er in einem gewissen Luxus leben, schneeweiße Wäsche tragen, teure Weine trinken und die feinsten Leckerbissen essen kann.«

 

»Wen meinst du denn eigentlich?« fragte Manfred.

 

»Er wohnt Nr. 93 Jermyn Street, er ist sozusagen unser Nachbar.«

 

»Ach so, du sprichst von Mr. Ballam?«

 

»Allerdings«, erwiderte Gonsalez ernst. »Heute abend werde ich als ein ausländischer Artist ausgehen und mir viel Geld in die Tasche stecken. Ich habe die Absicht, mich auf Tod und Leben zu amüsieren, und ich zweifle nicht, daß ich früher oder später dabei mit Mr. Ballam zusammentreffe. Sehe ich eigentlich wie ein Detektiv aus, George?« fragte er unvermittelt.

 

»Du siehst eher wie ein genialer Klaviervirtuose aus«, sagte George.

 

Gonsalez rümpfte die Nase.

 

»Du kannst sogar morgens um neun Uhr schon recht unausstehlich sein.«

 

*

 

Die Verbrecher haben mit zwei Gefahrmomenten zu rechnen, wenn sie darauf ausgehen, schnell und leicht zu Reichtum zu kommen. Zunächst besteht das Risiko der Entdeckung und Bestrafung sowohl für wohlhabende als für arme Verbrecher, und außerdem können sie viel Geld verlieren, das sie angelegt haben, um sich damit noch größere Summen anzueignen. Der Verbrecher, der Geld in ein Geschäft steckt, läuft die geringste Gefahr, entdeckt zu werden. Aus diesem Grunde werden gewöhnlich auch nur die Mittellosen und die Dummen gefaßt und zur Verantwortung vor den Richter gezogen, während die Wohlhabenden selten auf der Anklagebank sitzen.

 

Mr. Gregory Ballam hatte früher bei einer Auktion drei Häuser in der Montague Street, Portland Place, gekauft. Sie standen nebeneinander und bildeten einen Block für sich. Das erste war als Bürogebäude vermietet; ein Rechtsanwalt hatte das Erdgeschoß belegt, im ersten Stock befanden sich die Räume eines Wein- und Spirituosenhändlers. Der zweite Stock enthielt eine Reihe einfacher Zimmer, in denen Mr. Gregory Ballam seine Geschäfte abwickelte. Außerdem benutzte er auch das Kellergeschoß, das er vollständig hatte ausbessern und herrichten lassen. Hier war, wenn auch gerade nicht ein komfortables, so doch nettes und sauberes Lager angelegt. Durch den Keller konnte man unter anderem auch zu einer neuen Garage kommen, die für einen Teilhaber Mr. Ballams eingebaut worden war.

 

Nur die Bauarbeiter, die bei den Reparaturen beschäftigt waren, wußten, daß man auch von einem Haus in das andere gelangen konnte, und zwar durch eine Tür im Keller, die schon vor dem Verkauf der Häuser bestand, oder durch einen neuen Zugang in den Büroräumen Mr. Ballams.

 

Das dritte Haus beherbergte die Räume des Internationalen Artistenklubs. Die Polizei war Mr. Ballam niemals dorthin gefolgt, weil er niemals dorthin gegangen war, wenigstens nicht durch den vorderen Haupteingang. Der Artistenklub hatte unter seinen Räumen auch einen ›Ruhesalon‹, und hier war Mr. Ballam manchmal erschienen, als ob er ein Zauberer wäre. Er hatte dann eine kleine, ausgewählte Gesellschaft getroffen und sie durch eine wohlverborgene Seitentür in das Erdgeschoß des Mittelhauses geführt, welches das ansehnlichste der drei Gebäude war. Hübsche Gardinen hingen an allen Fenstern. Hier wohnte Mr. Reymond, ein älterer, achtbarer Herr mit seiner Frau.

 

Es war seine Gewohnheit, jeden Morgen um zehn Uhr ins Geschäft zu gehen. Sein blitzblanker Zylinder saß dann immer etwas kühn auf dem Kopf, unter dem Arm schaute ein zusammengerollter Regenschirm hervor, und im Knopfloch prangte eine Blume. Die Polizei kannte ihn vom Ansehen, und die Polizisten des Bezirks grüßten ihn freundlich. In früheren Zeiten hatte dieser Mr. Reymond einen prachtvollen, weißen Bart und bezog ein verhältnismäßig hohes Einkommen, indem er Bettelbriefe schrieb und leichtgläubige, mitfühlende alte Damen besuchte, um ihren Geldbeutel zu erleichtern. Damals führte er allerdings einen ganz anderen Namen und genoß auch nicht den guten Ruf, dessen er sich in der Montague Street erfreute. Aber jetzt war er glattrasiert, sah aus wie ein pensionierter Admiral und erhielt vier Pfund wöchentlich dafür, daß er jeden Morgen um zehn Uhr aus dem Hause ging, seinen tadellosen Zylinder kühn durch die Straßen trug, den zusammengerollten Regenschirm unter den Arm klemmte und eine Blume im Knopfloch trug. Die meiste Zeit des Tages verbrachte er in der Guildhall-Bibliothek; um fünf Uhr abends kam er dann wieder heiter und guter Dinge in seine Wohnung zurück.

 

Wenn er sein schweres Tagwerk vollendet hatte, ging er mit seiner Frau in das kleine Wohnzimmer, und dort spielten sie Karten. Sie unterhielten sich dabei lustig und vergnügt, aber ihre Ausdrücke waren keineswegs salonfähig.

 

Im Obergeschoß dieses Mittelhauses befand sich ein geheimnisvoller, luxuriös eingerichteter Salon. Dort frönten hinter dreifachen schwarzen Samtvorhängen Männer und Frauen Tag und Nacht dem Opiumrauchen. Mr. Ballam hatte die Trennungswand zwischen zwei Zimmern herausbrechen lassen und dadurch einen kleinen Saal geschaffen, der unter seiner persönlichen Aufsicht auf das prächtigste ausgestattet worden war. Dieser Raum war nur zum Opiumrauchen bestimmt. Wenn jemand Haschisch bevorzugte, konnte er sich diesen Genuß im Erdgeschoß verschaffen. Zuweilen erschien auch Mr. Ballam selbst, um eine Pfeife von diesem träumeerzeugenden Kraut zu rauchen, aber gewöhnlich beschränkte er seine Besuche auf besondere Gelegenheiten, zum Beispiel die Einführung eines neuen lukrativen Kunden. Merkwürdigerweise hatten die Rauschgifte keinen gesundheitsschädigenden Einfluß auf ihn, worauf er sehr stolz war.

 

Auch jetzt rühmte er sich wieder einem neuen Gast gegenüber. Es war ein reicher, spanischer Artist, den einer seiner Agenten aufgegriffen und zum Internationalen Artistenklub gebracht hatte.

 

»Mir schadet es auch nicht«, erwiderte der Fremde und wehrte einen gelbgesichtigen Chinesen ab, der ihm eine Opiumpfeife anbieten wollte. »Nur bringe ich für gewöhnlich meinen eigenen Stoff mit.«

 

Ballam neigte sich neugierig vor, als der Spanier eine grünliche harzige Pille aus einem kleinen, silbernen Kasten herausnahm.

 

»Was ist denn das?« fragte er neugierig.

 

»Das ist meine eigene Mischung, canabis indica, Opium und etwas türkischer Tabak. Sie ist noch milder als Opium und die Wirkung noch viel wundervoller.«

 

»Das können Sie hier oben aber nicht rauchen«, meinte Ballam kopfschüttelnd. »Versuchen Sie ruhig eine Pfeife Opium, alter Knabe.«

 

Aber der »alte Knabe«, der trotz seiner weißen Haare noch sehr jung war, ließ sich nicht überreden.

 

»Das macht nichts – ich kann ebensogut auch zu Hause rauchen. Ich bin eigentlich nur aus Neugierde hergekommen.« Mit diesen Worten erhob er sich, um zu gehen.

 

»So eilig werden Sie es doch wohl nicht haben«, erwiderte Ballam hastig.

 

»Wir haben unten im Erdgeschoß noch einen Salon für die Hanfraucher – die Leute hier oben können den Geruch nicht vertragen. Ich werde mit Ihnen hinuntergehen und einmal Ihre neue Mischung probieren. Nehmen Sie Ihren Kaffee mit.«

 

Der untere Salon war ganz leer. Sie suchten sich einen bequemen, weichen Diwan aus und nahmen dort Platz.

 

»Meine Mischung können Sie mit einem einfachen Streichholz anzünden, Sie brauchen keinen Spirituskocher dazu«, sagte der Fremde.

 

Ballam nippte an seinem Kaffee und betrachtete argwöhnisch die Pfeife, die ihm Gonsalez anbot.

 

»Ich wollte Sie noch etwas fragen. Verursacht Ihnen der Betrieb eines solchen Lokals nicht schlaflose Nächte?«

 

»Nun seien Sie doch nicht wunderlich.« Mr. Ballam steckte seine Pfeife gemächlich an und rauchte mit offenbarer Befriedigung. »Wirklich eine gute Mischung. Weshalb soll ich denn schlaflose Nächte haben?«

 

»Nun, es werden doch viele Leute hier aus ihrem Gleis geworfen. Ich meine, die Leute, die diese Rauschgifte zu sich nehmen, werden doch alle früher oder später ruiniert.«

 

»Das ist ihre Sache, das geht mich nichts an«, sagte Mr. Ballam selbstzufrieden. »Dafür haben sie aber auch eine ganze Menge Vergnügen genossen. Wir haben eben nur ein Leben, und wir müssen alle einmal sterben.«

 

»Manche Menschen sterben aber zweimal«, erwiderte Leon trocken. »Menschen, die ihr Bewußtsein unter dem Einfluß dieser schädlichen Gifte verlieren und zu Mördern geworden sind, wenn sie wieder aufwachen. Im Osten gibt es ein Rauschmittel, das die Eingeborenen Bal nennen. Es macht die Menschen rasend und wahnsinnig.«

 

»Ach, das interessiert mich nicht.« Ballam wurde ungeduldig. »Ich habe auch nicht mehr viel Zeit, wir müssen schnell machen, daß wir mit dem Rauchen zu Ende kommen. Heute abend besucht mich eine Dame – ich habe noch eine Verabredung, die ich einhalten muß, alter Freund!« meinte er lachend.

 

»Im Gegenteil, diese Frage interessiert Sie sehr, und selbst wenn Sie sich mit Miss Maggiore verabredet haben –«

 

Mr. Ballam starrte ihn erstaunt an.

 

»Zum Teufel, wovon reden Sie denn überhaupt?« fragte er heftig.

 

»Obwohl Sie diese Verabredung haben, muß ich Ihnen mitteilen, daß dieses Rauschgift Bal, das die Menschen zu Amokläufern macht, stärker ist als irgendein anderes Mittel, das Sie hier in Ihrem Lokal verabreichen.«

 

»Was hat denn das mit mir zu tun?« brummte Ballam.

 

»Sehr viel«, entgegnete Leon kühl. »Sie rauchen gerade ein doppeltes Quantum von dem, was ein gewöhnlicher Mensch vertragen kann!«

 

Mit einem Schreckensschrei sprang Ballam auf, aber er konnte sich später nicht mehr auf die weiteren Vorgänge besinnen. Es war ihm nur, als ob ihm irgend etwas den Schädel spaltete, ein entsetzliches Licht blendete seine Augen, und dann schienen Tausende von Jahren an ihm vorüberzuziehen. Eine Ewigkeit lang wurde er von grellen Blitzen geschreckt, donnerähnliche Geräusche betäubten seine Ohren, er hörte flüsternde, geheimnisvolle Stimmen, und eine namenlose Unruhe bemächtigte sich seiner. Manchmal kam ihm zum Bewußtsein, daß er sprach, und er lauschte gierig auf seine eigenen Worte. Zuweilen redeten fremde, unsichtbare Geister zu ihm und verhöhnten ihn, und er fühlte, daß ihn irgend jemand verfolgte.

 

Wie lange dieser Zustand dauerte, konnte er selbst nicht beurteilen. In seiner halb bewußtlosen Verfassung versuchte er, die Zeit nachzurechnen, aber er fand, daß er kein Maß besaß, an das er sich halten konnte. Es schienen ihm viele Jahre verflossen zu sein, als er mit einem tiefen Seufzer die Augen öffnete. Er fuhr mit der Hand über seinen schmerzenden Kopf, und allmählich wurde ihm klar, daß er in einem Bett lag. Es war hart, und die Kopfstütze noch härter. Er starrte zu der weißgetünchten Decke empor und betrachtete dann die einfachen, gekalkten Wände. Als er über die Seite seines Lagers schaute, wurde er gewahr, daß der Fußboden aus Eisenbeton bestand. Zwei Lichter brannten in dem Raum, eins auf dem Tisch und eins in der Ecke des Zimmers, wo ein Mann saß und die Zeitung las. Der Mann kam ihm ganz sonderbar vor, und er blinzelte zu ihm hinüber. »Ich träume natürlich«, sagte er laut.

 

Der Mann schaute auf.

 

»Hallo! Wollen Sie aufstehen?«

 

Ballam antwortete nicht. Er starrte noch mit offenem Munde umher und traute seinen Sinnen nicht. Der Mann war in Uniform, trug einen dunklen, enganliegenden Rock und hatte einen Ledergürtel umgeschnallt. Auf dem Kopf saß eine Mütze mit einer Kokarde. Ballam las die Buchstaben auf den Schulterstücken.

 

»A. W.«, wiederholte er verwirrt. »A. W.«

 

Was sollte dieses »A. W.« bedeuten? Aber plötzlich wurde es ihm klar.

 

Assistenzwärter! Er schaute sich in dem Raum um. Es war nur ein Fenster zu sehen, das mit schweren, eisernen Gittern verschlossen war. Dickes Milchglas war dort eingesetzt. An der Wand hing ein Anschlag. Ballam erhob sich mit großer Mühe vom Bett, taumelte dorthin und versuchte, den Text zu lesen.

 

»Dienstvorschriften für die königlichen Gefängnisse.« Er schaute auf seine eigene Kleidung. Er war allem Anschein nach in Strümpfen und Beinkleidern zu Bett gegangen, aber die Hose, die er trug, war aus einem rauhen, gelblichgrauen Stoff und über und über mit verwaschenen schwarzen Pfeilen bedruckt. Er war im Gefängnis! Wie lange mochte er hier sein?

 

»Wollen Sie sich heute anständig benehmen?« fragte der Wärter kurz. »Wir haben keine Lust, noch mehr von diesen Spektakelszenen zu erleben, wie Sie gestern wieder eine aufgeführt haben!«

 

»Seit wann bin ich denn eigentlich hier?« stieß Ballam heiser hervor.

 

»Sie wissen doch ganz genau, wie lange Sie hier sind. Gestern waren es drei Wochen.«

 

»Drei Wochen!« rief Ballam entsetzt. »Weshalb hat man mich denn angeklagt?«

 

»Nun fangen Sie nicht wieder diesen alten Quatsch an, mein lieber Ballam«, sagte der Wärter nicht unfreundlich. »Sie wissen ganz genau, daß es mir verboten ist, mich mit Ihnen zu unterhalten. Legen Sie sich wieder aufs Bett und schlafen Sie. Manchmal denke ich wirklich, daß Sie so verrückt sind, wie Sie sich anstellen.«

 

»Habe ich denn – irgendwelche Dummheiten angestellt?«

 

»Dummheiten?« Der Wärter wandte sich erstaunt um. »Ich war zwar nicht bei der Gerichtsverhandlung dabei, aber sie haben mir alle erzählt, daß Sie vor Gericht den Verrückten gespielt haben. Und als der Richter Sie zum Tode verurteilte –«

 

»Mein Gott!« schrie Ballam und sank kreidebleich und vernichtet auf das Bett. »Zum Tode verurteilt!« Er konnte die Worte kaum aussprechen. »Was habe ich denn getan?«

 

»Sie haben doch die junge Dame umgebracht – das wissen Sie doch ganz genau… Ich wundere mich nur über Sie, daß Sie mir nun auch noch solch ein Theater vorspielen, nachdem ich doch die ganze Zeit so gut zu Ihnen war, Ballam. Warum bocken Sie denn? Tragen Sie doch Ihre Strafe wie ein Mann.«

 

Über dem Platz des Wärters hing ein Abreißkalender.

 

»Der zwölfte April«, las Ballam. Am liebsten hätte er wieder laut aufgeschrien, denn am ersten März hatte er diesen sonderbaren Fremden getroffen. Jetzt konnte er sich wieder an alles erinnern. Er hatte Bal geraucht, das Gift, das die Menschen zum Wahnsinn treibt!

 

Plötzlich sprang er wieder auf.

 

»Ich will den Gefängnisdirektor sprechen! Ich will ihm die Wahrheit sagen, wie sich alles zugetragen hat… man hat mich betäubt!«

 

»All den Quatsch haben Sie uns ja früher schon, wer weiß wie oft, erzählt«, erwiderte der Wärter ärgerlich. »Als Sie die junge Dame umgebracht haben –«

 

»Welche junge Dame?« schrie Ballam. »Doch nicht Miss Maggiore! Sagen Sie nicht…«

 

»Sie wissen gut genug, daß Sie sie getötet haben. Was hat es denn für einen Zweck, diesen ganzen Lärm zu machen. Legen Sie sich zu Bett, Ballam. Es ist ganz sinnlos, daß Sie heute wieder einen solchen Spektakel aufführen. Ausgerechnet in dieser Nacht!«

 

»Ich muß den Gefängnisdirektor sehen! Kann ich ihm nicht schreiben?«

 

»Sie können ihm schreiben, wenn es Ihnen Spaß macht«, sagte der Wärter und zeigte auf einen Tisch.

 

Ballam taumelte hin und setzte sich in den Stuhl. Er zitterte an allen Gliedern. Vor sich sah er ein halbes Dutzend großer, blauer Briefbogen, auf denen mit schwarzer Schrift »Königliches Gefängnis Wandsworth S. W. J.« gedruckt stand.

 

Er war im Wandsworth-Gefängnis! Wieder schaute er sich in der Zelle um. Sie machte eigentlich kaum den Eindruck einer Zelle, und doch mußte es wahr sein. Es war alles so schrecklich kahl, die Tür war fest und mit Eisen beschlagen. Er war früher niemals in einer Gefängniszelle gewesen, und sie sah doch ganz anders aus, als er gedacht hatte.

 

Plötzlich kam ihm ein fürchterlicher Gedanke.

 

»Wann – wann – findet die Hinrichtung statt?« Er konnte die Worte kaum hervorbringen, so würgten sie ihn.

 

»Morgen!«

 

Die ganze Welt brach für ihn zusammen bei diesem Schicksalsspruch. Er fiel vornüber auf den Tisch und vergrub den Kopf in seine Arme. Ein Weinkrampf befiel ihn. Aber dann riß er sich plötzlich zusammen und begann in fieberhafter Eile zu schreiben. Er konnte kaum klar sehen, immer wieder traten ihm die Tränen in die roten Augen.

 

Was er schrieb, war vollständig zusammenhanglos. Er erzählte von einem Mann, der zu dem Klub gekommen war und ihm ein Gift gegeben hatte. Dann hatte er eine ganze Ewigkeit lang in Finsternis gelegen, hatte Blitze gesehen, war von schrecklichen Gestalten verfolgt worden und hatte unheimliche Stimmen gehört. Und doch war er nicht schuldig, im Gegenteil, er liebte doch Genee Maggiore. Er würde ihr niemals ein Haar gekrümmt haben.

 

Er konnte nicht weiterschreiben, er mußte immer wieder schluchzen. Aber vielleicht war dies alles nur ein schrecklicher Traum? Vielleicht stand er immer noch unter dem Einfluß dieses höllischen Rauschgiftes. Er schlug mit aller Gewalt gegen die Wand und schrie dann vor Schmerz laut auf.

 

»Lassen Sie das bleiben!« sagte der Wärter streng. »Jetzt legen Sie sich sofort wieder zu Bett.«

 

Ballam schaute auf seine blutenden Knöchel. Es war bittere Wahrheit! Es war kein Traum – es war wahr – wahr!

 

Er lag auf dem Bett und verlor das Bewußtsein wieder. Als er aufs neue erwachte, saß der Wärter immer noch auf seinem Platz und las die Zeitung. Es schien ihm, als ob er wieder eine halbe Stunde im Halbschlaf gelegen hätte, obwohl es in Wirklichkeit nur ein paar Minuten gewesen waren. Und jedesmal, wenn er wieder aufschreckte, sagte eine Stimme in ihm: »Heute morgen mußt du sterben!«

 

Einmal sprang er in unheimlicher Angst vom Bett auf und schrie laut vor Furcht. Der Wärter mußte ihn wieder niederdrücken.

 

»Wenn Sie noch mehr solchen Unfug machen, muß ich einen anderen Beamten rufen, dann binden wir Sie ans Bett fest. Warum tragen Sie es denn nicht in aller Ruhe wie ein Mann? Es ist für Sie doch nicht schlimmer als für das arme Mädchen«, sagte der Wärter böse.

 

Ballam lag nun still und fiel wieder in einen längeren Schlaf, aus dem er plötzlich erwachte, als der Wärter ihn an der Schulter berührte. Er sah, daß seine eigenen Kleider sorgfältig zusammengefaltet auf dem Stuhl vor seinem Bett lagen. Eilig kleidete er sich an und schaute sich suchend um.

 

»Wo ist mein Kragen?« fragte er zitternd.

 

»Sie brauchen doch keinen Kragen«, erwiderte der Wärter mit grimmigem Humor. »Nehmen Sie sich doch endlich zusammen! Andere Leute haben das auch durchmachen müssen. Soviel ich weiß, haben Sie doch eine Opiumspelunke gehabt? Viele haben dort ihren Verstand verloren und sind dann auch zu uns gekommen. Die haben es auch ausgehalten. Nun ist die Reihe eben an Ihnen.«

 

Ballam setzte sich auf die Kante seines Bettes und vergrub das Gesicht in den Händen. Plötzlich öffnete sich die Tür, und ein Mann kam herein. Er war schlank, hatte einen roten Bart und rötliche Haare.

 

Der Wärter packte den Gefangenen an der Schulter, stellte ihn auf die Füße und drehte ihn um.

 

»Legen Sie Ihre Hände auf den Rücken«, sagte er.

 

Ballam brach der kalte Angstschweiß aus, als er fühlte, daß seine Handgelenke zusammengebunden wurden.

 

Dann ging das Licht aus. Es wurde ihm eine Kappe über das Gesicht gezogen, und er glaubte, Stimmen hinter sich zu hören. Er war nicht darauf vorbereitet, zu sterben, seine Nerven würden ihn im Stich lassen, das fühlte er jetzt. Aber er hatte doch immer gehört, daß bei solchen Gelegenheiten ein Geistlicher zugegen sein müßte. Zwei Leute faßten ihn an den Armen und führten ihn langsam vorwärts durch die Tür über einen Hof, dann durch eine andere Tür. Der Weg schien endlos zu sein, und einmal gaben seine Knie nach. Gleich darauf hielten sie an.

 

»Bleiben Sie, wo Sie sind!«

 

Es wurde ihm eine Schlinge ums Genick gelegt, und er wartete, wartete verzweifelt und in Todesangst. Minuten vergingen, die ihm wie Stunden erschienen. Plötzlich hörte er schwere Schritte, dann packte ihn jemand am Arm.

 

»Was machen Sie denn hier, mein Herr?« fragte eine Stimme.

 

Die Kappe wurde ihm vom Gesicht gerissen. Er stand auf der Straße. Es war Nacht, neben ihm brannte eine Straßenlaterne. Der Mann, der ihn neugierig betrachtete, war ein Polizist.

 

»Sie haben ja einen Strick um den Hals… jemand hat Ihnen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden! Hat man Sie überfallen?« Der Polizist schnitt die Stricke durch. »Oder wollen Sie mir hier etwa einen Schabernack spielen?« fragte der Vertreter des Gesetzes. »Ich bin erstaunt – so ein alter Herr wie Sie, mit weißen Haaren!«

 

Vor sieben Stunden war Gregory Ballams Haar noch schwarz gewesen, Leon Gonsalez hatte ihm ein Betäubungsmittel in den Kaffee geschüttet und ihn dann durch die Tür im Keller auf den großen Hof geführt, der hinter dem Klub lag. Hier befand sich die neue Garage, die Leon entdeckt hatte, als er den Platz auskundschaftete. Und hier konnten Gonsalez und Manfred ungestört die Komödie in der angeblichen Verbrecherzelle mit ihm aufführen. Das blaue Briefpapier hatten sie sich besonders für diesen Zweck beschafft. Ein Exemplar der »Dienstvorschriften für die königlichen Gefängnisse« hatte ihnen Mr. Fare geschenkt, ohne allerdings zu wissen, wozu es dienen sollte.