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Der Mann, der freigesprochen wurde

 

»Ist es dir schon einmal aufgefallen, daß Giftmörder und Engelmacherinnen unweigerlich mystisch veranlagt sind?« fragte Leon Gonsalez seinen Freund. Er schaute von seinem Buch auf und nahm seine Hornbrille ab, die er beim Lesen benutzt hatte.

 

»Ich habe noch nicht viele Engelmacherinnen oder Giftmörder daraufhin beobachtet«, erwiderte Manfred gähnend. »Verstehst du unter ›mystisch‹ veranlagten Personen ekstatische Menschen, die glauben, daß sie direkt mit der Allmacht in Verbindung treten können?«

 

Leon nickte.

 

»Ich habe niemals ganz verstanden, welche Zusammenhänge zwischen einer oberflächlichen, aber lebhaft in die Augen fallenden Form religiösen Gebarens und dem Verbrechen bestehen«, sagte Leon stirnrunzelnd. »Wahre Religion entwickelt natürlich nicht die schlummernde Veranlagung zum Verbrecher in einem Menschen, aber es ist eine bekannte Tatsache, daß gewisse Verbrecher in eine sonderbare religiöse Begeisterung geraten. Ferri, der zweihundert italienische Mörder befragte, mußte feststellen, daß sie alle gläubig waren. Und in Neapel, der frömmsten Stadt Europas, werden zugleich die meisten Verbrechen begangen. Zehn Prozent aller tätowierten Verbrecher in englischen Gefängnissen sind mit religiösen Symbolen geschmückt.«

 

»Daraus könnte man aber doch nur folgern, daß ein wenig intelligenter Mann, der sich tätowieren läßt, nach Mustern und Bildern verlangt, die ihm vertraut und bekannt sind. Du denkst doch nicht etwa an Dr. Twenden?«

 

Leon nickte langsam. »Ja, ich dachte an ihn.«

 

Manfred lächelte.

 

»Twenden wurde unter allgemeinem Beifall des Publikums freigesprochen, und man jubelte ihm zu, als er den Exeter-Gerichtshof verließ. Und doch war er schuldig!«

 

»So schuldig, wie ein Mensch nur immer sein kann. Ich wundere mich, daß du an diesen Fall gedacht hast. Ich habe doch überhaupt nicht mit dir darüber gesprochen.«

 

»Ist Dr. Twenden etwa religiös veranlagt?«

 

»Das möchte ich gerade nicht behaupten. Ich dachte nur an den frommen Dankbrief, den er schrieb und der in den Zeitungen von Baxeter und Plymouth veröffentlicht wurde – er war so salbungsvoll wie eine Predigt. Von seinem Privatleben weiß ich nur das, was durch die Gerichtsverhandlung bekannt wurde. Du bist davon überzeugt, daß er seine Frau vergiftet hat?«

 

»Ja«, antwortete Manfred ruhig. »Ich hatte sowieso die Absicht, heute abend mit dir darüber zu sprechen.«

 

Der Prozeß des Dr. Twenden war in der letzten Woche die Sensation für die Zeitungen gewesen. Der Arzt war ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, seine Frau war siebzehn Jahre älter als er. Man nahm allgemein an, daß er sie nur ihres Geldes wegen geheiratet hatte – sie besaß ein jährliches Einkommen von zweitausend Pfund, das aber nur bis zu ihrem Tod gezahlt wurde. Drei Monate vor diesem Ereignis hatte sie dreiundsechzigtausend Pfund von ihrem Bruder geerbt, der in Johannesburg in Südafrika gestorben war.

 

Twenden und seine Frau hatten nicht in bestem Einvernehmen gelebt. Die Differenzen zwischen ihnen kamen meistens daher, daß sie seine Schulden nicht länger bezahlen wollte. Nachdem sie die Erbschaft angetreten hatte, setzte sie ein Testament auf und schickte das Konzept zu ihrem Rechtsanwalt nach Torquay. Hierin bestimmte sie, daß ihr Mann nur die Zinsen von zwölftausend Pfund erhalten sollte, und auch das nur, falls er sich nicht wieder verheiraten würde. Den Rest ihres Vermögens wollte sie ihrem Neffen, Mr. Jackley, vermachen, der Ingenieur war.

 

Der Rechtsanwalt bereitete ein Schriftstück vor, das all ihren Anforderungen entsprach, und sandte es ihr durch die Post zu. Sie sollte es durchsehen, bevor er das amtliche Dokument ausfertigte. Der Brief kam in Newton Abbott an, wo der Doktor mit seiner Frau wohnte und auch seine Praxis hatte, aber er wurde nicht wieder gesehen. Ein Postbeamter bezeugte, daß er den Brief auf seinem Rundgang etwa um acht Uhr morgens an einem Sonnabend abgegeben hatte. Gerade an diesem Tag wurde Dr. Twenden zu einer Kranken gerufen, die von einer Schlange gebissen worden war, und kehrte erst gegen Abend zurück. Er aß zusammen mit seiner Frau, und es ereignete sich nichts Ungewöhnliches. Der Doktor ging anschließend noch in sein Laboratorium, um die Giftdrüsen der Schlange zu untersuchen, die er herausgeschnitten hatte.

 

Am nächsten Morgen war Mrs. Twenden schwer krank, und es zeigten sich bei ihr Symptome, die auf Blutvergiftung schließen ließ. Am Sonntag abend starb sie.

 

Bei der Untersuchung fand man eine Stichwunde in ihrem Arm, die von einer Einspritzung herrühren mußte. Dr. Twenden hatte etwa zehn Spritzen in seinem Besitz.

 

Sofort fiel ein schwerer Verdacht auf ihn, besonders da er keine anderen Ärzte zu dem Fall zugezogen hatte, bevor jede Hoffnung auf Rettung der unglücklichen Frau geschwunden war. Später wurde bewiesen, daß die Frau an Schlangengift gestorben war.

 

Zugunsten des Doktors sprach allerdings die Tatsache, daß an keiner der Spritzen irgendwelche Spuren nachgewiesen werden konnten. Die Dienstboten sowie ein anderer Arzt sagten außerdem aus, daß auf seine Anordnung hin Dr. Twenden seiner Frau zweimal wöchentlich Einspritzungen machte, um sie von ihrem Rheumatismus zu heilen. Es wurde dabei ein neues Serum angewandt, das erst kürzlich entdeckt worden war. An jenem Sonnabend war eine solche Injektion fällig gewesen.

 

Er wurde vor Gericht gestellt, aber schließlich freigesprochen. In der Zeit zwischen seiner Verhaftung und seiner Freilassung war er so bekannt geworden wie ein erfolgreicher Politiker oder ein grausamer Mörder. Nach seiner Freisprechung wurde er von begeisterten Leuten auf den Schultern aus dem Sitzungssaal getragen. Sie hatten allerdings weder eine bewundernswürdige Eigenschaft in seinem Charakter entdeckt, noch hatten sie ihn gekannt, ehe er plötzlich in diesen bösen Prozeß verwickelt worden war.

 

Wahrscheinlich war die Begeisterung der Menge durch seine Ankündigung von der Anklagebank aus bis zum Siedepunkt erhitzt worden. Er hatte seine Verteidigung selbst geführt.

 

»Ob ich nun verurteilt oder freigesprochen werde, nicht einen Pfennig des Vermögens meiner unvergeßlichen Frau will ich anrühren. Ich bin fest entschlossen, dieses unselige Geld den Armen des Landes zu geben. Ich selbst verlasse England und gehe in ein fernes Land, wo ich in einer fremden Umgebung unter Fremden das Andenken an meine liebe Frau, an die Gefährtin und Freundin meiner Tage, pflegen werde.«

 

Hier war der Angeklagte mit einem Aufschluchzen zusammengebrochen.

 

»Er will also in ein fernes Land gehen«, sagte Manfred, der sich an diese leidenschaftlichen Worte Twendens erinnerte. »Mit dreiundsechzigtausend Pfund kann man allerdings in der Fremde ganz gut leben.«

 

Leon unterdrückte ein Lächeln.

 

»Ich kann derartig zynische Bemerkungen von dir nicht hören. Hast du vergessen, daß die arme Bevölkerung von Devonshire sich zur Stunde noch den Kopf darüber zerbricht, wie man das Geld am besten anwenden könnte?«

 

Manfred lachte verächtlich und las seine Zeitung weiter, aber Leon beschäftigte sich noch mit der Sache.

 

»Ich würde doch diesem Twenden gar zu gerne einmal begegnen«, meinte er nachdenklich. »Kommst du mit mir nach Newton Abbott, George? Die Stadt an sich ist ja nicht besonders schön, aber wir haben von dort aus nur eine halbe Stunde Fahrt zu unserem alten Heim in Babbacombe.«

 

George Manfred legte die Zeitung endgültig beiseite.

 

»Es war ein gemeines Verbrechen«, sagte er düster. »Ich bin ganz deiner Meinung, Leon. Ich habe schon den ganzen Morgen darüber nachdenken müssen. Diese Tat muß irgendwie gerächt werden.

 

Aber«, fügte er zögernd hinzu, »erst müssen wir klare Beweise in der Hand haben, die vor Gericht noch nicht vorgebracht wurden. Auf bloße Vermutung hin können wir nicht handeln.«

 

Leon nickte.

 

»Aber wenn wir Gewißheit haben, dann verspreche ich dir, Manfred, daß ich einen wunderbaren Plan zur Ausführung bringen werde.«

 

Am Nachmittag machte er Mr. Fare einen Besuch. Als der Polizeidirektor seine Bitte hörte, war er nicht überrascht.

 

»Ich war schon neugierig, wie lange es noch dauern würde, bis Sie sich unsere Gefängnisse einmal ansehen wollten. Ich kann die Sache leicht mit meinen Vorgesetzten besprechen. Welche Anstalt wollen Sie denn besichtigen?«

 

»Ein typisches Gefängnis in der Provinz. Was meinen Sie zu Baxeter?«

 

»Baxeter liegt aber doch sehr weit von London entfernt«, entgegnete der Polizeibeamte erstaunt. »Es unterscheidet sich auch sehr wenig von Wandsworth, das wir ganz in der Nähe haben, oder Pentonville, unserem Zentralgefängnis.«

 

»Trotzdem möchte ich gerne Baxeter sehen. Ich habe nämlich die Absicht, an die Küste von Devonshire zu gehen, und bei dieser Gelegenheit könnte ich die Besichtigung gut vornehmen.«

 

Schon am nächsten Tag erhielt Leon den Erlaubnisschein – ein gedrucktes Formular, das den Gefängnisdirektor in Baxeter anwies, dem Überbringer des Schreibens in den Stunden zwischen zehn und zwölf Uhr vormittags und zwei und vier Uhr nachmittags Zutritt zum Gefängnis zu gewähren.

 

Die beiden unterbrachen ihre Reise in Baxeter, und Leon machte sich auf den Weg zum Gefängnis, das hübscher und stattlicher aussah als die meisten anderen Gebäude dieser Art. Er wurde von dem stellvertretenden Direktor und einem kräftigen Oberwärter, einem früheren Gardisten, empfangen. die ihm die drei großen Flügel des Gefängnisses, die Höfe und alle Gebäude der Anstalt zeigten.

 

Auf dem Bahnhof traf Leon wieder mit Manfred zusammen und kam gerade zur rechten Zeit, um den Zug nach Plymouth zu besteigen, der sie nach Newton Abbott bringen sollte.

 

»Ich bin mit meinem Besuch durchaus zufrieden«, sagte Leon. »Es ist das beste Gefängnis und erstaunlich bequem. Ich habe noch kein so angenehmes Gefängnis gesehen.«

 

»Meinst du bequem hineinzukommen oder bequem wieder daraus zu verschwinden?«

 

»Beides.«

 

Sie hatten keine Zimmer im Hotel bestellt. Leon wollte ein Privatquartier in der Nähe von Dr. Twenden nehmen und war auch erfolgreich bei seinen Bemühungen. Drei Häuser von der Wohnung des Arztes entfernt konnten sie möblierte Zimmer mieten.

 

Eine liebenswürdige, rotbäckige Frau von Devonshire war ihre Wirtin. Ihr Mann war Richtkanonier auf einem der großen Schlachtschiffe und befand sich augenblicklich auf hoher See. Leon und George waren die einzigen Untermieter und bekamen zwei gemütliche Schlafzimmer und ein gemeinschaftliches Wohnzimmer im selben Stockwerk. Manfred bestellte sofort Tee, und nachdem sich die Tür hinter der Frau geschlossen hatte, wandte er sich an Leon, der am Fenster stand und intensiv auf die innere Fläche seiner linken Hand schaute, die ebenso wie die rechte in einem grauen Seidenhandschuh steckte.

 

Manfred lachte.

 

»Ich mache im allgemeinen keine Bemerkungen über deinen Anzug, mein lieber Leon. Und wenn man bedenkt, daß du auf dem Kontinent geboren bist, muß man zugeben, daß du merkwürdig wenig Fehler in bezug auf deine Kleidung machst – vom englischen Standpunkt aus.«

 

»Es ist sonderbar«, erwiderte Leon, ohne aufzuschauen.

 

»Aber ich habe früher noch niemals gesehen, daß du seidene Handschuhe trugst«, fuhr Manfred neugierig fort. »In Spanien ist es ja nicht ungebräuchlich, baumwollene oder sogar seidene Handschuhe anzuziehen –«

 

»Feinste Seide«, murmelte Leon. »Und ich kann trotzdem meine Hand in ihnen nicht einmal biegen.«

 

»Hast du sie deshalb in der Tasche stecken lassen?« fragte Manfred überrascht.

 

Gonsalez nickte.

 

»Ich kann sie deshalb nicht biegen, weil ich eine starke Kupferplatte in der inneren Handfläche halte, und auf dieser Platte befindet sich ein halbzollstarker Aufstrich von Plastilin.«

 

»Ach so, nun verstehe ich«, entgegnete Manfred bedächtig.

 

»Ich muß wirklich sagen, daß mir das Baxeter-Gefängnis außerordentlich gefallen hat«, sagte Leon. »Der stellvertretende Direktor ist wirklich ein netter junger Mann. Er freute sich sehr über mein Erstaunen und Interesse, als er mir die Zellen zeigte. Er hat mich sogar den Paßschlüssel des ganzen Gefängnisses besichtigen lassen, der alle Türen schließt und den er persönlich bei sich trägt. Als ich ihn in der Hand hatte, schaute ich den Mann unverwandt an und preßte schnell das Ende des Schlüssels gegen meine Handfläche. Es dauerte nur eine Sekunde, mein lieber George, und weil ich den Seidenhandschuh trug, blieb kein verräterisches Zeichen an dem Schlüssel zurück, das dem Direktor meine hinterlistige Absicht verraten hätte.«

 

Er nahm eine zusammenklappbare Schere aus seiner Tasche, öffnete sie geschickt und schnitt ein Stück Seide aus der inneren Fläche des Handschuhs heraus.

 

»›Wundervoll! Das ist also der Paßschlüssel!‹, sagte ich, betrachtete ihn bewundernd und gab ihn dann zurück. Wir gingen zusammen zu der Strafzelle und besichtigten den Garten; er zeigte mir auch die kleinen, ungepflegten Gräber, wo die hingerichteten Verbrecher liegen. Und während dieser ganzen Zeit mußte ich meine Hand in der Tasche halten, um nicht gegen irgendeinen harten Gegenstand zu stoßen und den Abdruck zu verderben. Hier kannst du ihn sehen.«

 

Die Seide schien besonders präpariert zu sein, denn sie löste sich leicht ab. Darunter zeigte sich in dem grauen Ton der scharfe und unversehrte Abdruck des Schlüssels.

 

»Der kleine Eindruck an der Seite bedeutet wohl die Form des Schlüsselendes?«

 

Leon nickte.

 

»Das ist der Paßschlüssel des Baxeter-Gefängnisses, mein lieber Manfred.« Er lächelte, als er die Kupferplatte auf den Tisch legte. »Hiermit könnte ich nun in das Gefängnis hineinkommen … Nein, das ist doch zu dumm.« Plötzlich hielt er inne und biß sich auf die Lippen.

 

»Das hast du großartig gemacht«, sagte Manfred voll Bewunderung.

 

»Glaubst du?« Leon machte ein trauriges Gesicht. »Weißt du auch, daß es eine Tür dort gibt, die wir nicht damit öffnen können?«

 

»Welche ist denn das?«

 

»Das Eingangsportal, das kann man nur von innen öffnen.«

 

Als die Wirtin mit dem Tablett hereinkam, legte er sorgfältig seinen Hut über die Tonabdrücke.

 

Leon trank seinen Tee und musterte wie geistesabwesend die Tapete. Manfred unterbrach ihn nicht in seinen Gedanken.

 

Leon Gonsalez hatte schon oft die Pläne der Vier Gerechten ausgedacht und alle Einzelheiten eines ganzen Unternehmens ersonnen. Seine außerordentliche Phantasie befähigte ihn, alle Möglichkeiten vorauszusehen. Manfred hatte oft gesagt, daß das Ausdenken des Planes Leon ebensoviel Genugtuung bereitete wie die erfolgreiche Ausführung desselben.

 

»Was für ein schrecklicher Idiot bin ich doch«, sagte er schließlich. »Ich habe nicht darauf geachtet, daß das Haupttor eines Gefängnisses selten ein Schlüsselloch hat. Eine Ausnahme davon macht nur Dartmoor.«

 

Wieder versank er in Nachdenken. Die Stille wurde nur manchmal von geheimnisvollen Bemerkungen unterbrochen, die er zu sich selbst zu machen schien.

 

»Ich schicke das Telegramm … Es muß natürlich von London kommen … Sie werden sicherlich herunterschicken, wenn der Inhalt des Telegramms nur dringend genug ist. Es müssen fünf Leute sein – nein, fünf kann man zur Not in einem Taxi unterbringen … Sechs – wenn die Tür des Gefängniswagens verschlossen ist, aber das wird nicht der Fall sein … Wenn es wider Erwarten nicht geht, muß ich es in der nächsten Nacht versuchen.«

 

»Sag mal, wovon sprichst du eigentlich?« fragte Manfred belustigt.

 

Leon wachte plötzlich aus seinen Träumen auf.

 

»Wir müssen zuerst die Schuld des Mannes genau feststellen, und wir werden heute abend noch damit beginnen. Ich möchte nur wissen, ob unsere Wirtin einen Garten hat.«

 

Es zeigte sich, daß hinter dem Haus ein Garten von zweihundert Yards Länge lag. Leon ging hinunter, machte einen Erkundungsgang und war mit dem Ergebnis zufrieden.

 

»Ist das drüben die Wohnung des Doktors?« fragte er unschuldig, als ihn die Wirtin darauf aufmerksam machte. »Das ist doch nicht etwa der Mann, der den Prozeß in Baxeter gehabt hat?«

 

»Ganz gewiß, derselbe«, sagte die Frau triumphierend. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß es viel Aufsehen hier in der Gegend erregte.«

 

»Glauben Sie, daß er unschuldig ist?«

 

Die Wirtin war nicht darauf vorbereitet, auf diese klare Frage eine klare Antwort zu geben.

 

»Die einen denken so, die anderen so«, erwiderte sie deshalb diplomatisch. »Er ist immer ein netter Mensch gewesen, er hatte auch meinen Mann behandelt, als er das letztemal daheim war.«

 

»Wohnt der Doktor in dem Haus?«

 

»Ja, aber er geht bald fort.«

 

»Davon habe ich auch gehört. Er will doch das ganze Vermögen seiner Frau verteilen, nicht wahr? Das stand in den Zeitungen – die Armen können sich darauf freuen.«

 

Die Wirtin räusperte sich.

 

»Ich hoffe, daß sie es wirklich bekommen«, sagte sie mit einer gewissen Betonung.

 

»Sie scheinen nicht davon überzeugt zu sein?« meinte Manfred lächelnd, als er mit ihr aus dem Garten zurückkehrte, wo er die schönen Chrysanthemen bewundert hatte.

 

»Bis jetzt hat er noch nichts in dieser Richtung unternommen«, erwiderte sie vorsichtig. »Der Vikar war gestern morgen bei ihm und hat ihn gefragt, ob nicht die Armen von Newton Abbott auch einen kleinen Teil der Summe abbekommen könnten. Wir haben hier in der letzten Zeit viel Arbeitslose. Der Doktor hat ihm gesagt, er würde sich die Sache durch den Kopf gehen lassen, und hat ihm dann einen Scheck über fünfzig Pfund geschickt, soviel ich gehört habe.«

 

»Das ist nicht gerade überwältigend viel«, entgegnete Manfred. »Warum glauben Sie, daß er bald abreisen will?«

 

»Seine Koffer sind gepackt, und seinen Dienstboten ist gekündigt, daher weiß ich es. Die arme Frau, sie hat wohl nicht viel Freude in ihrem Leben gehabt.«

 

Hiermit meinte sie wohl die Frau des Arztes. Aber sie wußte auch nicht mehr von ihr, als was sie von anderen Leuten erfahren hatte, und meinte, daß an den Redereien nicht viel sei. Warum sollte denn schließlich der Doktor nicht hübsche Mädchen auf seine Autotouren in die Heide mitnehmen, wenn ihm das Vergnügen machte.

 

»Ja, er hatte seine Eigenheiten«, sagte sie.

 

Anscheinend hatte der Doktor allerhand Seitensprünge während seiner Ehe hinter sich.

 

»Ich würde ihn gern einmal persönlich sprechen«, sagte Leon.

 

Aber sie schüttelte den Kopf.

 

»Er empfängt niemand, nicht einmal seine Patienten.«

 

Trotzdem hatte Leon Erfolg, als er einen Besuch machte. Er hatte den Charakter des Arztes richtig beurteilt, als er annahm, daß er einen Zeitungsreporter nicht abweisen würde.

 

Die Haushälterin meldete Leon an. Sie schloß aber vorsichtigerweise die Haustür vor ihm, bis sie sich Bescheid geholt hatte. Gleich darauf kam sie jedoch zurück und ließ ihn ein.

 

Er wurde in das Studierzimmer geführt. Der Raum war in vollständiger Unordnung, und es zeigte sich, daß die Mitteilung von Mrs. Martin auf Wahrheit beruhte. Dr. Twenden wollte die Stadt so bald als möglich verlassen und war gerade, noch damit beschäftigt, Briefe und Rechnungen zu verbrennen.

 

»Treten Sie bitte näher«, sagte der Doktor. »Sie hätten wahrscheinlich irgend etwas über mich erfunden, wenn ich Sie nicht empfangen hätte. Was wollen Sie von mir wissen?«

 

Dr. Twenden sah gepflegt aus, hatte regelmäßige Gesichtszüge und trug einen sorgfältig geschnittenen Schnurrbart.

 

Hellblaue Augen liebe ich nicht, sagte Leon zu sich selbst. Auch der Schnurrbart gefällt mir nicht.

 

»Man hat mich von London hierhergeschickt, um Sie zu fragen, an welche wohltätigen Anstalten Sie das Geld Ihrer verstorbenen Frau verteilen wollen, Dr. Twenden«, erwiderte Leon mit der Unverfrorenheit und rücksichtslosen Offenheit eines Londoner Reporters.

 

Der Doktor runzelte die Stirn.

 

»Die Leute in der Hauptstadt sollten sich doch wenigstens so viel Zeit lassen; daß ich mir das selbst überlegen kann. Ich bin im Begriff, eine wichtige Überseereise zu machen. An Bord des Dampfers habe ich ja Zeit genug, mich damit zu beschäftigen. Ich werde dann sehen, welche der verschiedenen wohltätigen Gesellschaften im Devonshire-Bezirk das größte Anrecht darauf haben, und dementsprechend werde ich das Geld verteilen.«

 

»Wenn Sie nun aber gar nicht mehr zurückkommen?« fragte Leon unbarmherzig. »Es könnte doch irgend etwas passieren, das Schiff könnte untergehen, oder der Zug, mit dem Sie fahren, könnte verunglücken – was wird dann aus dem Geld?«

 

»Das ist ganz meine Sache«, entgegnete Twenden sehr steif und förmlich. Er schloß die Augen eine Sekunde und zog die Brauen zusammen. »Ich möchte jetzt nicht weiter darüber sprechen. Ich habe viele liebenswürdige Briefe aus dem Publikum erhalten, aber auch solche, die mich angriffen und beleidigten. Gerade heute morgen erhielt ich ein Schreiben, in dem gesagt wurde, daß bedauerlicherweise die Vier Gerechten nicht mehr tätig wären. Die Vier Gerechten!« sagte er mit verächtlichem Lächeln. »Als ob ich mich im geringsten um diese blöde Gesellschaft kümmern würde!«

 

Leon lächelte auch.

 

»Vielleicht ist es Ihnen angenehmer, wenn ich Sie heute abend noch einmal aufsuche, wenn Sie jetzt keine Zeit haben?« schlug er vor.

 

»Heute abend bin ich, der Ehrengast einiger Freunde«, erwiderte der Doktor wichtig. »Ich werde nicht vor halb ein Uhr zurückkommen.«

 

»Wo wird denn das Essen stattfinden? Vielleicht kann man darüber einen interessanten kleinen Artikel schreiben.«

 

»Im Lion-Hotel. Sie könnten erwähnen, daß Sir John Marden den Vorsitz führt, auch Lord Tussborough hat seine Anwesenheit zugesagt. Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen die Liste aller Teilnehmer geben, die kommen werden.«

 

Die Sache mit dem Festessen trifft sich ja vorzüglich, dachte Leon mit Genugtuung.

 

Er erhielt die Liste, steckte sie in die Tasche und verabschiedete sich mit einigen Verbeugungen.

 

Am Abend beobachtete er von seinem Fenster aus das Haus des Arztes. Er sah, wie er in festlichem Gesellschaftsanzug die Wohnung verließ und in einem Taxi fortfuhr. Eine Viertelstunde später trat die Haushälterin heraus und zog ihre Handschuhe an. Sie wartete etwa zehn Minuten an der Straßenecke und stieg dann in den Autobus nach Torquay, als er vorüberkam.

 

Nach dem Abendessen unterhielt sich Leon ein wenig mit der Wirtin und brachte das Gespräch auch wieder auf das Haus Dr. Twendens.

 

»Vermutlich hat er eine Menge Dienstboten, um die Wohnung in Ordnung zu halten?«

 

»Augenblicklich ist nur Milly Brown bei ihm, die in Torquay wohnt. Aber sie geht nächsten Sonnabend auch weg. Die Köchin ist schon vorige Woche gegangen. Er nimmt alle seine Mahlzeiten im Hotel ein.«

 

Nachdem er das erfahren hatte, überließ er es seinem Freund Manfred, sich weiter mit Mrs. Martin zu unterhalten, was dieser auch ausgezeichnet verstand.

 

Leon schlüpfte durch den Garten und erreichte einen kleinen Gang auf der Rückseite des Hauses. Die Verbindungstür, durch die man in Twendens Garten kommen konnte, war verschlossen, aber die Gartenmauer bot kein unüberwindliches Hindernis. Wie er erwartet hatte, war die Hintertür des Hauses verschlossen, aber ein Fenster in der Nähe stand nur angelehnt. Offensichtlich dachten weder der Doktor noch die Haushälterin an Einbrecher. Ohne große Schwierigkeit kletterte er durch das Fenster und kam durch die Küche in das Haus. Bald fand er auch die Bibliothek, in der er sich am Nachmittag mit dem Doktor unterhalten hatte. Der Schreibtisch besaß keine Geheimfächer, und fast alle Papiere und Briefe lagen verbrannt im Kamin. Große Mengen Asche waren auf dem Rost zu sehen. Auch in dem kleinen Laboratorium und in den anderen Räumen fand Leon nichts Besonderes.

 

Er hatte auch nicht erwartet, gleich bei der ersten Untersuchung eine entscheidende Entdeckung zu machen. Wahrscheinlich hatte die Polizei nach der Verhaftung des Arztes das ganze Haus gründlich durchsucht und hatte es auch während seiner Abwesenheit verwaltet.

 

Leon durchsuchte alle Taschen der Anzüge Twendens, die er in einem Kleiderschrank im Schlafzimmer fand, aber es kam nur ein Theaterprogramm zum Vorschein.

 

»Ich fürchte fast, ich brauche den Paßschlüssel von Baxeter gar nicht«, sagte er bedauernd zu sich selbst und ging wieder nach unten. Er knipste seine elektrische Taschenlampe an, um noch die Kleider zu prüfen, die in der Eingangsdiele hingen, aber der Garderobenständer war leer.

 

Als er den Raum ableuchtete, fiel das Licht auch auf einen großen Briefkasten, der an der Tür befestigt war. Leon hob den gelben Deckel auf, konnte aber zuerst nichts sehen. Der Briefkasten sah aus, als ob er von dem Doktor selbst gemacht worden sei. Das bemalte Blech war ziemlich roh um einen hölzernen Rahmen gebogen; die Holzleisten konnte man genau erkennen. Eine Leiste schien gebrochen zu sein, und Leon faßte mit der Hand hinein. Was er aber für ein gebrochenes Stückchen Holz hielt, erwies sich als ein langes, schmales Paket, das aufrecht stand. Es war nur so verstaubt, daß man es von dem Rahmenwerk des Kastens nicht unterscheiden konnte. Als er das Päckchen herauszog, riß das Papier ein, das sich hinter einen Nagel geklemmt hatte. Dadurch erklärte sich auch, daß das Päckchen beim Leeren des Briefkastens nicht herausgefallen war. Leon blies den Staub vorsichtig ab; auf der Adresse fand er den aufgedruckten Stempel des Pasteur-Institutes. Er steckte das Päckchen in die Tasche und verließ das Haus auf demselben Weg, auf dem er gekommen war. Er war über zwei Stunden ausgeblieben, und Manfred war in ernster Sorge um ihn.

 

»Hast du etwas entdeckt?«

 

»Dies hier.« Leon zog das Päckchen aus der Tasche und erzählte, wo er es gefunden hatte.

 

»Vom Pasteur-Institut?« fragte Manfred erstaunt: »Aber natürlich, das Serum, das er für die Injektion brauchte! Das wird nur im Pasteur-Institut hergestellt. Ich entsinne mich, in den Prozeßberichten darüber gelesen zu haben.«

 

»Er machte zweimal in der Woche Einspritzungen – wenn ich mich recht erinnere, am Mittwoch und am Sonnabend. Es wurde auch durch Zeugenaussage im Prozeß festgestellt, daß am Mittwoch vor dem Mord die Injektion unterblieb. Es ist mir damals schon aufgefallen, daß niemand fragte, warum er an dem letzten Mittwoch keine Injektion gab.«

 

Er öffnete den Papierumschlag und zog eine längliche, hölzerne Schachtel daraus hervor, um die ein Brief gewickelt war. Auch dieses Schriftstück, das in Französisch abgefaßt war, trug den Stempel des Pasteur-Instituts.

 

›Sehr geehrter Herr,

 

wir senden Ihnen, umgehend das Serum Nr. 47, das Sie verlangt haben. Bedauerlicherweise wurde Ihnen durch das Versehen eines Angestellten das Serum in der vergangenen Woche nicht geschickt. Wir haben heute Ihr Telegramm erhalten, in dem Sie uns mitteilten, daß Sie kein Serum mehr besitzen, und senden Ihnen dieses als beschleunigte Eilsendung.«

 

»Kein Serum mehr besitzen«, wiederholte Gonsalez. Er nahm den Papierumschlag auf und sah nach der Marke.

 

»Paris, den vierzehnten September«, las er. »Und hier haben wir auch den Poststempel des Eingangs. Newton Abbott, den sechzehnten September sieben Uhr morgens.« Er runzelte die Stirn. »Dieses Paket wurde also am Morgen des sechzehnten in den Briefkasten gesteckt«, sagte er langsam. »Mrs. Twenden erhielt ihre letzte Einspritzung am Abend des fünfzehnten. Der sechzehnte war ein Sonntag, an dem nur früh morgens einmal Post ausgetragen wird. Begreifst du die Zusammenhänge?«

 

Manfred nickte.

 

»Offensichtlich konnte er keine Injektion machen, weil ihm das Serum ausgegangen war, und diese neue Sendung kam an, als seine Frau im Sterben lag. Wie wir sehen, hat er das Päckchen überhaupt nicht geöffnet.«

 

Er zog eine dünne Glastube aus dem Holzkästchen hervor und kontrollierte den versiegelten Verschluß.

 

»Hm, nun werde ich den Schlüssel für das Baxeter-Gefängnis also doch brauchen. Warum machte er am Mittwoch keine Einspritzung? Weil er kein Serum hatte. Offenbar wartete er darauf, hat es aber schließlich vergessen. Wahrscheinlich hat der Postbote am Sonntag morgen an die Tür geklopft, keine Antwort erhalten und deshalb das kleine Päckchen durch den Einwurf in den Briefkasten gesteckt. Zufällig ist es an einem Nagel hängengeblieben, wo ich es heute entdeckte.«

 

Er legte das Umschlagpapier auf den Tisch und holte tief Atem.

 

»Ich werde mich jetzt daranmachen, den Schlüssel auszufeilen.«

 

Zwei Tage später kam Manfred mit neuen Nachrichten nach Hause.

 

»Wo ist mein Freund?«

 

Mrs. Martin lächelte bedeutungsvoll.

 

»Der Herr arbeitet im Gewächshaus. Ich dachte, daß er neulich einen Scherz machte, als er mich fragte, ob er einen Schraubstock an dem Arbeitstisch anbringen dürfe. Aber er ist tatsächlich an der Arbeit.«

 

»Er arbeitet an einem neuen Radioapparat.« Manfred hoffte, daß die Wirtin von solchen Dingen keine Ahnung hatte.

 

»Er ist sehr eifrig. Eben kam er heraus, um ein wenig Luft zu schöpfen – ich habe noch niemals einen Menschen so schwitzen sehen! Er scheint den ganzen Tag mit der Feile zu hantieren.«

 

»Sie dürfen ihn bei der Arbeit nicht stören.«

 

»Das würde mir im Traum nicht einfallen«, erwiderte Mrs. Martin etwas verletzt.

 

Manfred ging in den Garten hinaus, und Leon sah ihn näherkommen. Das Gewächshaus war ein idealer Arbeitsplatz, denn er konnte von weitem beobachten, wenn sich die Wirtin näherte, und konnte den Schlüssel immer rechtzeitig verbergen. Er arbeitete nun schon den zweiten Tag daran.

 

»Er reist heute ab, genauer gesagt, heute abend«, erklärte Manfred. »Er fährt nach Plymouth und will dort den Dampfer der Holländisch-Amerikanischen Linie nach New York besteigen.«

 

»Heute abend?« fragte Leon erstaunt. »Das könnte ja ganz gut klappen. Mit welchem Zug fährt er denn?«

 

»Das weiß ich nicht.«

 

»Bist du deiner Sache auch ganz sicher?«

 

Manfred nickte.

 

»Er hatte verschiedenen Bekannten erzählt, daß er erst morgen früh fährt, aber er macht sich heute abend aus dem Staube. Die Leute sollen nichts von seiner Abreise erfahren. Ich habe es nur zufällig durch eine Unvorsichtigkeit des Doktors selbst entdeckt, denn ich war heute auf der Post, als er ein Telegramm abschickte. Seine Brieftasche lag offen auf dem Schalterbrett, und ich sah, daß einige Gepäckzettel daraus hervorschauten. Es waren Gepäckzettel für Dampfer, und ich las das Wort ›Rotterdam‹. Sofort schaute ich in den Zeitungen nach und erfuhr, daß der Dampfer ›Rotterdam‹ morgen früh abfährt. Als ich dann später hörte, daß er den Leuten gesagt hatte, er würde morgen früh Newton Abbott verlassen, war ich meiner Sache ganz sicher.«

 

»Das trifft sich vorzüglich, George. Diese Tat wird die Krone unseres Lebenswerkes sein. Ich sage ›unsere‹, aber ich fürchte, ich muß die Sache ganz allein ausführen, obgleich du dabei eine bedeutende Rolle zu spielen hast.« Er lachte leise und rieb sich die Hände. »Wie fast alle anderen Verbrecher hat auch Twenden einen ganz dummen Fehler begangen. Er hat nach einem alten Testament das Vermögen seiner Frau geerbt. Es blieb ihm ihr ganzer Besitz mit Ausnahme von zweitausend Pfund, die sie auf einer Bank deponiert hatte. Diese sollten an ihren Neffen, einen Ingenieur in Plymouth, fallen. In seiner Habgier hat Twenden sicherlich diese Testamentsbestimmung vergessen und hat das ganze Geld auf seine Bank in Torquay eingezahlt. Vor einigen Tagen wurde es von Newton Abbott aus überwiesen, die ganze Stadt sprach darüber. Fahre also sofort nach Plymouth und suche den jungen Mr. Jackley auf, besuche auch seinen Rechtsanwalt oder irgendeinen anderen. Sollte Dr. Twenden die zweitausend Pfund nicht an seinen Neffen gezahlt haben, so soll er einen Haftbefehl gegen Twenden ausstellen lassen. Der Doktor ist unter diesen Umständen ein Treuhänder, der sich heimlich durch Flucht seinen Verpflichtungen entziehen will, und die Justizbehörden werden den Verhaftungsbefehl ausstellen, wenn sie erfahren, daß der Mann morgen mit der ›Rotterdam‹ das Land verlassen will.«

 

»Wenn du ein gewöhnlicher Mann wärest, Leon, würde ich denken, daß deine Rache ein wenig ungenügend ist.«

 

»Das wird sie nicht sein«, entgegnete sein Freund ruhig und gelassen.

 

Abends um neun Uhr dreißig bestieg Dr. Twenden mit hochgeschlagenem Mantelkragen und herabgezogenem Hut ein Wagenabteil erster Klasse auf dem Bahnhof in Newton Abbott. Der Detektivsergeant, den er kannte, trat an ihn heran und klopfte ihm auf die Schulter.

 

»Folgen Sie mir, Doktor.«

 

»Warum denn, Sergeant?« Twenden wurde plötzlich bleich.

 

»Ich habe einen Haftbefehl für Sie in der Tasche.«

 

Als dem Doktor die Anklage auf dem Polizeirevier vorgelesen wurde, wütete er wie ein Wahnsinniger.

 

»Ich werde Ihnen das Geld geben, jetzt sofort! Aber ich muß heute abend noch abfahren. Morgen früh fährt mein Dampfer nach Amerika.«

 

»Das kann ich mir denken«, erwiderte der Polizeiinspektor trocken. »Deshalb haben wir Sie ja gerade festgenommen.«

 

So wurde er denn für die Nacht in eine Zelle eingeschlossen.

 

Am nächsten Morgen fand das erste Verhör statt. Die Zeugen wurden vernommen, und nachdem der junge Mr. Jackley aus Plymouth seine Aussage gemacht hatte, beriet der Gerichtshof.

 

»Wir haben den unumstößlichen Beweis, daß beabsichtigter Betrug vorliegt, Dr. Twenden«, sagte der Richter schließlich. »Sie wurden im Besitz einer großen Geldsumme verhaftet, und man hat Kreditbriefe bei Ihnen gefunden. Daraus geht klar hervor, daß Sie dieses Land für immer verlassen wollten. Unter diesen Umständen bleibt uns nichts anderes übrig, als Ihre Verhaftung aufrechtzuerhalten. Sie werden bei den nächsten Sitzungen vor Gericht gestellt werden.«

 

»Aber ich kann Bürgschaft stellen, ich bestehe darauf«, rief der Doktor wütend.

 

»Bürgschaft wird in diesem Falle nicht angenommen«, erwiderte der Richter scharf.

 

Am Nachmittag wurde Dr. Twenden in einem Taxi ins Baxeter-Gefängnis überführt.

 

Die Gerichtssitzungen fanden in der nächsten Woche statt, und der Doktor mußte nun zu seiner größten Erbitterung in demselben Gefängnis bleiben, aus dem er vor einigen Wochen entlassen worden war.

 

Am zweiten Tag nach seiner Einlieferung erhielt der Direktor des Baxeter-Gefängnisses ein Telegramm.

 

›Sechs Schwerverbrecher Ihrem Gefängnis überwiesen. Ankunft auf Station Baxeter abends 10.15. Senden Sie Gefangenenwagen.‹

 

Das Telegramm war mit »IMPRISON« unterzeichnet, dem Codewort für die Generaldirektion sämtlicher Gefängnisse in England.

 

Zufällig war gerade zur selben Zeit eine Meuterei in einem Londoner Gefängnis vorgekommen, und der Direktor war infolgedessen über die Nachricht nicht erstaunt, auch nicht über die späte Stunde der Ankunft des Gefangenentransportes.

 

Der Zug fuhr in die Station ein. Die Gefangenenwärter warteten auf dem Bahnsteig, gingen dann langsam an den Wagen entlang und schauten nach einem Abteil mit herabgelassenen Vorhängen aus. Aber es waren keine Gefangenen mitgekommen. Der nächste Zug von London kam erst morgens um vier Uhr.

 

»Sie werden den Zug nicht mehr erreicht haben, es gibt gar keine andere Erklärung«, sagte einer der Männer. »Dann müssen wir eben wieder abfahren, Jerry«, wandte er sich an den Chauffeur und warf die Tür der »Grünen Minna« zu, die offengestanden hatte. Der Gefangenenwagen fuhr knatternd aus dem Bahnhof.

 

Langsam ging es die Anhöhe empor und dann durch das große, schwarze Tor; gleich darauf bog der Wagen in ein anderes Portal zur Linken ein, das im rechten Winkel zu dem ersten lag, und hielt vor den offenen Türen eines kleinen, abseits liegenden Ziegelgebäudes, das als Garage diente.

 

Der Chauffeur brummte, als er ausstieg.

 

»Ich lasse den Wagen im Hof stehen – muß ihn morgen sowieso waschen.«

 

Er nickte den Wärtern eine gute Nacht zu und ging nach Hause.

 

Soweit war alles gut verlaufen. Ein starker Südwestwind kam von Dartmoor her, rüttelte an den Fenstern des Gefängnisses und heulte in dem großen, verlassenen, dunklen Hof.

 

Plötzlich hörte man ein leises Knacken, und die Tür der »Grünen Minna« öffnete sich langsam. Leon hatte entdeckt, daß sein Paßschlüssel die Wagentür nicht öffnete. Er war in den Gefangenenwagen hineingeschlüpft:, während die Wärter den Zug absuchten, und es war jetzt schwer geworden, wieder herauszukommen. Er wußte ja nur zu genau, daß überhaupt keine Gefangenen von London kamen, aber er brauchte diesen Wagen zur Ausführung seines Planes. Mit seiner Hilfe war er nun glücklich in das Gefängnis gekommen, wie er es beabsichtigt hatte. Er horchte, aber er konnte nur das Wüten des Sturmes hören. Vorsichtig ging er zu einem kleinen, glasgedeckten Gebäude und benutzte seinen Paßschlüssel. Die Tür öffnete sich, und er stand in einem engen Zimmer, wo die Gefangenen fotografiert wurden. Die nächste Tür führte ihn in einen Abstellraum, und dahinter lagen die Flügel des Gefängnisses. Er hatte bei seinem kurzen Besuch nach allem gefragt und wußte, wo sich die Zellen der Untersuchungsgefangenen befanden.

 

Bald mußte eine Patrouille kommen. Leon schaute auf seine Uhr und wartete, bis der Mann an der Tür vorübergegangen war. Der Wächter würde nun in einen Flügel gehen, von dem aus er keinen Überblick auf diesen Teil des Gefängnisses hatte. Leon öffnete die Tür und trat in die verlassene Halle. Die Fußtritte der Patrouille klangen immer entfernter. Leise stieg er eine eiserne Treppe in die Höhe und kam zu dem oberen Stockwerk, wo er langsam die Zellen entlangging. Plötzlich sah er den Namen, den er suchte.

 

Geräuschlos schloß er die Tür auf. Dr. Twenden sah ihn blinzelnd an, als er sich auf seiner hölzernen Bettstelle aufrichtete.

 

»Stehen Sie auf«, flüsterte Gonsalez, »und drehen Sie sich um.«

 

Schlaftrunken gehorchte der Doktor.

 

Leon band ihm die Hände auf dem Rücken zusammen und faßte ihn am Arm. Er hielt an, als er die Zellentür wieder verschloß. Dann führte er ihn die Treppe hinunter und durch den Abstellraum in das kleine, glasgedeckte Zimmer. Bevor der Doktor wußte, was geschah, hatte Leon ihm ein großes, seidenes Taschentuch über den Mund gebunden.

 

»Können Sie mich hören?«

 

Der Mann nickte.

 

»Können Sie das fühlen?«

 

Leon stieß ihm eine Nadel in den linken Arm.

 

Twenden versuchte, seinen Arm fortzuziehen.

 

»Sie werden den Wert einer solchen Spritze noch schätzen lernen – mehr als irgendein anderer«, sagte ihm Gonsalez ins Ohr. »Sie haben eine unschuldige Frau ermordet und sind trotzdem der Bestrafung durch das Gesetz entgangen. Vor einigen Tagen sprachen Sie so verächtlich von den Vier Gerechten – ich bin einer von ihnen!«

 

Dr. Twenden starrte in der Dunkelheit auf das Gesicht des anderen, das er nicht sehen konnte.

 

»Das Gesetz hat Sie nicht erreichen können, aber wir haben Sie gefaßt. Können Sie mich verstehen?«

 

Der Arzt nickte ängstlich und taumelte.

 

Leon ließ den Arm des Mannes los und fühlte, wie er auf den Boden glitt. Er ließ Twenden dort liegen, ging in den anstoßenden Schuppen, der als Hinrichtungsraum diente, und brachte die beiden herunterhängenden Trittbretter in Stellung, bis sie zusammenstießen. Dann nahm er das Ende eines langen Taues, das er sich um den Leib gewickelt hatte, und warf es über den Galgenarm.

 

Nachdem er alle Vorbereitungen getroffen hatte, kehrte er zu dem bewußtlosen Mann zurück …

 

Als die Gefängniswärter am nächsten Morgen den Raum betraten, sahen sie ein straff angezogenes Tau. Die beiden Trittbretter waren nach unten gefallen, und an dem Strick war ein Mann aufgehängt. Er war kalt und steif. Der Gesetzesstrafe war er entgangen, aber die Strafe der Gerechtigkeit hatte ihn ereilt.