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Mr. T.B. Smith saß allein in seinem Büro in Scotland Yard. Das Themseufer, der Fluß und auch das große, palastähnliche Parlamentsgebäude waren von dichtem Nebel völlig eingehüllt. Seit zwei Tagen lag London schon unter einer dunklen Dunstschicht, und wenn man den Wetterpropheten Glauben schenken durfte, konnte man sich noch auf zwei weitere Nebeltage gefaßt machen.

 

Der hübsche Raum mit seiner mattpolierten Eichentäfelung und den vornehmen, eleganten Beleuchtungskörpern bot selbst einem Mann von verwöhntem Geschmack einen angenehmen Aufenthalt. Ein helles Feuer flackerte in dem gekachelten Kamin, und eine silberne Uhr tickte melodisch auf der Marmorplatte darüber. Neben Mr. Smith stand ein mit einer weißen Serviette bedecktes Tablett, auf dem ein zierlicher silberner Teetopf und alle nötigen Gegenstände zur Teebereitung standen.

 

Mr. Smith schaute auf die Uhr, es war fünfundzwanzig Minuten nach eins.

 

Er drückte auf einen Klingelknopf, der seitlich am Schreibtisch angebracht war. Gleich darauf klopfte es leise, und ein Polizeibeamter erschien in der Türöffnung.

 

»Gehen Sie in die Registratur und holen Sie mir« – er machte eine kurze Pause und schaute auf ein Stück Papier, das vor ihm lag – »das Aktenstück Nr. G 7941.«

 

Der Mann zog sich geräuschlos zurück, und T.B. Smith schenkte sich bedächtig eine halbe Tasse Tee ein.

 

Nachdenkliche Falten zeigten sich auf seiner Stirn, und ein Ausdruck ungewöhnlicher Sorge lag auf seinen sonst so gleichmäßigen Zügen, die die Sonne Südfrankreichs gebräunt hatte.

 

Er war von seinem Urlaub plötzlich zurückgekehrt, um sich einer Aufgabe zu widmen, die nur ein Mann von seiner Begabung lösen konnte. Er sollte den größten Schwindler der letzten Zeit, Montague Fallock, aufspüren. Und nun war diese Aufgabe noch dringender geworden, denn Montague Fallock oder seine Anhänger waren für den Tod zweier Männer verantwortlich, die man in der vorigen Nacht am Brakely Square leblos aufgefunden hatte.

 

Niemand hatte Montague gesehen; es existierte keine Fotografie von ihm, die die vielen Detektive auf seine Spur hätte bringen können. Man hatte zwar Agenten von ihm festgenommen und sie strengen Verhören unterworfen, aber es waren immer nur die Agenten anderer Agenten gewesen. Montague selbst hatte sich unsichtbar gehalten; er stand hinter einem Stahlnetz von Banken, Rechtsanwälten und anonymen Personen – für den Arm der Gerechtigkeit unerreichbar.

 

Der Polizeibeamte kehrte mit einer kleinen schwarzen Ledermappe zurück, die er vor Mr. Smith niederlegte. Dann verließ er das Zimmer wieder.

 

Mr. Smith öffnete die Tasche und zog drei kleine Päckchen daraus hervor, die mit einer roten Schnur umwunden waren.

 

Er machte das eine auf und legte drei Karten vor sich hin. Es waren vergrößerte Fotografien von Fingerabdrücken. Selbst wenn man kein Experte auf diesem Gebiet war, konnte man sofort erkennen, daß sie von demselben Finger herrührten, obwohl sie offensichtlich unter den verschiedensten Umständen aufgenommen waren.

 

Der Detektiv verglich sie mit einer kleineren Fotografie, die er aus seiner Westentasche hervorgeholt hatte. Es bestand gar kein Zweifel darüber – auch dieser vierte Abdruck stimmte mit den anderen überein. Man hatte ihn durch ein umständliches Verfahren von einem kaum sichtbaren Abdruck auf dem letzten Brief gewonnen, den dieser Erpresser an Lady Constance Dex gerichtet hatte.

 

Er klingelte wieder, und der Beamte erschien aufs neue in dem Zimmer.

 

»Ist Mr. Ela in seinem Büro?«

 

»Jawohl. Er bearbeitet den Fall im Zollamt.«

 

»Ach ja, ich erinnere mich – zwei Männer wurden überrascht, wie sie dort das Gepäck berauben wollten. Sie entflohen, nachdem sie einen Polizisten in dem Gebäude niedergeschossen hatten.«

 

»Sie sind zwar beide entkommen, aber der eine ist von einem Beamten durch einen Schuß verwundet worden. Man hat Blutspuren an der Stelle gefunden, wo das Auto wartete.«

 

Mr. Smith nickte.

 

»Bitten Sie Mr. Ela, zu mir zu kommen, wenn er mit seiner Arbeit fertig ist.«

 

Polizeiinspektor Ela hatte seine Nachforschungen anscheinend schon beendet, denn kurz darauf erschien er in dem Büro. Er hatte etwas melancholische Züge.

 

»Treten Sie näher«, sagte Mr. Smith lächelnd, »und erzählen Sie mir all Ihre Leiden und Ihren Kummer.«

 

Mr. Ela ließ sich in einem rohrgeflochtenen Stuhl nieder.

 

»Meine Hauptsorge besteht darin, Augenzeugen zu finden, die nähere Angaben machen können. Bis jetzt fehlt jeder Anhaltspunkt für die Identität der Räuber, die beinahe einen Mord auf dem Gewissen haben. Die Nummer des Wagens war natürlich gefälscht, man hat das Auto nicht über Limehouse hinaus verfolgen können. Ich stehe vor scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten. Ich weiß nur, daß einer der Vagabunden entweder verwundet oder getötet und von seinem Freund in den Wagen getragen wurde. Es ist möglich, daß seine Leiche irgendwo auftauchen wird – dann könnten wir vielleicht weiterkommen.«

 

»Wenn das nun zufällig mein Freund Montague Fallock wäre«, meinte Mr. Smith gutgelaunt, »dann könnte ich glücklich sein. Was wollten die beiden denn erbeuten? Suchten sie nach Goldbarren?«

 

»Das glaube ich kaum – es schienen ganz einfache Diebsgesellen zu sein. Sie haben ein paar Koffer aufgebrochen, einen Teil des Passagiergepäcks vom Dampfer ›Mandavia‹, der am Tag vorher von der Westküste Afrikas eingetroffen war. Es war Gepäck, wie es Passagiere eben ein oder mehrere Tage in der Zollstation lassen, bis sie weiterreisen. Die aufgebrochenen Koffer gehören dem Sekretär eines Gouverneurs des Kongostaates, der Frau eines höheren Kolonialbeamten, dessen Namen ich vergessen habe – und einem gewissen Dr. Goldworthy, der eben aus dem Kongogebiet zurückgekommen ist, wo er sich der Erforschung der Schlafkrankheit widmete.«

 

»Das klingt ja gerade nicht sehr erschütternd«, sagte Mr. Smith nachdenklich. »Ich verstehe nicht, warum so hochmoderne, elegante Verbrecher im Auto angefahren kommen, um sich mit solchen Kleinigkeiten abzugeben; warum sie in Masken und mit Pistolen auftreten – sie waren doch maskiert, wenn ich mich recht entsinne?« Ela nickte. »Warum kommen diese Leute wegen solcher Bagatellen?«

 

»Nun erzählen Sie mir aber auch von Ihrem Fall«, bat der Inspektor.

 

»Von dem Fall Montague Fallock«, erwiderte Smith mit einem verbissenen Lächeln. »Wieder der edle Montague Fallock! Er war so bescheiden, nur zehntausend Pfund von Lady Constance Dex zu fordern – der Schwester des bekannten und ehrenwerten Pfarrers Jeremiah Bangley in Great Bradley. Wenn sie nicht zahlt, will er sie mit einer alten Liebesaffäre bloßstellen.

 

Bangley ist ein großer, freundlicher, vornehmer Herr, der ganz unter dem Einfluß seiner Schwester steht. Sie ist eine stattliche und immer noch schöne Frau. Die Angelegenheit hat ihre Bedeutung eigentlich dadurch schon halb verloren, daß der betreffende Mann vor kurzer Zeit in Afrika starb. Das sind alle wesentlichen Details. Ihr Bruder wußte schon von der ganzen Sache, aber Montague wollte sie eben der ganzen Welt bekanntmachen. Er droht, die Dame umzubringen, wenn sie seine Forderung der Polizei mitteilen sollte. Es ist nicht das erstemal, daß er zu derartigen Drohungen greift. Der letzte, den er zu erpressen suchte, war der Millionär Farrington – merkwürdigerweise ein guter Freund von Lady Dex.«

 

»Es ist wie verhext«, meinte Ela. »Konnten Sie denn keine weiteren Anhaltspunkte finden, als Sie die Leichen der beiden Männer durchsuchten, die gestern nacht ermordet wurden?«

 

Mr. Smith ging in dem Raum auf und ab, er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und schüttelte nachdenklich den Kopf.

 

»Ferreira de Coasta war der eine, und Henri Sans der andere. Zweifellos standen die beiden im Sold Montagues. Coasta war ein gebildeter Mann, der ihm wahrscheinlich als Vermittler gedient hat. Von Haus aus Architekt, war er wegen dunkler Geldangelegenheiten in Paris in Schwierigkeiten gekommen. Sans war ein untergeordneter Agent, dem man mehr oder weniger Vertrauen entgegenbrachte. Ich habe weder bei dem einen noch bei dem anderen etwas Besonderes gefunden, das mich auf die Spur Montague Fallocks hätte bringen können. Sehen Sie, nur dieses Ding habe ich entdeckt.«

 

Er zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und nahm ein kleines, silbernes Medaillon heraus, das eingravierte Ornamente und ein schon halb verwischtes Monogramm trug.

 

Mr. Smith drückte auf eine Feder, und das Medaillon sprang auf. Es enthielt nur ein kleines, weißes, kreisrundes Papier.

 

»Ein gummiertes Etikett«, erklärte Mr. Smith. »Aber die Inschrift ist interessant.«

 

Ela nahm den kleinen Gegenstand in die Hand, hielt ihn ans Licht und las.

 

Mor: Cot.

Gott schütz dem Kenig

 

»Ungeheuer patriotisch, aber eine unglaubliche Orthographie, ich kann nichts damit anfangen.«

 

Smith steckte das Medaillon wieder in seine Tasche und verschloß dann das Aktenstück in einer Schreibtischschublade.

 

Ela gähnte.

 

»Entschuldigen Sie, aber ich bin sehr müde. Übrigens – liegt in diesem Great Bradley, das Sie vorhin erwähnten, nicht irgend so ein romantisches Haus?«

 

Mr. Smith nickte und zwinkerte mit den Augen.

 

»Es ist die Stadt, in der das ›geheimnisvolle Haus‹ liegt«, sagte er und erhob sich. »Aber die Extravaganzen eines liebeskranken Amerikaners, der verrückte Häuser baut, gehen schließlich die Polizei nichts an. Sie können bis Chelsea in meinem Wagen mitfahren.« Bei diesen Worten zog er seinen Mantel an und nahm seine Handschuhe. »Möglicherweise haben wir Glück und überfahren Montague im Nebel.«

 

»Sie scheinen ja heute abend in einer Stimmung zu sein, in der Sie an Wunder glauben«, meinte Ela, als sie zusammen die Treppe hinuntergingen.

 

»Ich bin in der Stimmung, zu Bett zu gehen«, erwiderte Mr. Smith ehrlich.

 

Als sie draußen angelangt waren, war der Nebel so dicht, daß sie zögernd stehenblieben. Der Chauffeur, der Mr. Smiths Wagen lenkte, war ein kluger und zäher Polizeibeamter, aber seine lange Erfahrung sagte ihm, daß es ein nutzloses Beginnen war, an diesem Abend nach Chelsea zu fahren.

 

»Die ganze Straße ist nebelig und unsichtig«, sagte er. »Ich habe eben mit der Westminster-Wache telefoniert und dort die Auskunft bekommen, daß es unmöglich sei, durch den Nebel zu fahren.«

 

Mr. Smith nickte.

 

»Dann werde ich hier in der Polizeidirektion schlafen. Sie suchen sich besser hier auch ein Quartier in einer der Wachstuben«, wandte er sich an seinen Chauffeur. »Was wollen Sie tun, Ela?«

 

»Ich werde ein wenig im Park spazierengehen«, entgegnete Ela ironisch.

 

Mr. Smith ging zu seinem Büro zurück, und Ela folgte ihm.

 

Oben drehte er das elektrische Licht an, aber er blieb in der Tür stehen. Während ihrer Abwesenheit von höchstens zehn Minuten mußte jemand hiergewesen sein. Zwei Schubladen des Schreibtisches waren gewaltsam geöffnet worden, und der Fußboden war mit Schriftstücken bedeckt, die bei einer hastigen Durchsuchung hinuntergeworfen worden waren.

 

Mr. Smith war mit einigen großen Schritten am Schreibtisch das Aktenstück war fort.

 

Ein Fenster stand offen, und dichte Nebelschwaden drangen in das Zimmer.

 

»Sehen Sie – hier sind Blutspuren«, rief Ela und zeigte auf das mit Blutflecken bedeckte Löschpapier der Schreibunterlage.

 

»Er hat sich mit der Hand am Glas geschnitten.« Mr. Smith wies auf die zerbrochene Fensterscheibe. Dann schaute er hinaus.

 

Eine leichte Hakenleiter, wie sie bei amerikanischen Feuerwehren benützt wird, hing draußen an der Brüstung. Der Nebel war so dicht, daß man unmöglich erkennen konnte, wie lang sie war. Die beiden zogen sie mühelos nach oben. Sie bestand aus leichten Bambusstangen, an denen in gewissen Abständen kurze Eisenklammern angebracht waren.

 

»Auch hier sind Blutspuren«, bemerkte Ela. Dann wandte er sich schnell an den Beamten, der auf sein Klingelzeichen erschienen war, und gab seine Anordnungen in größter Eile. »Der Inspektor vom Dienst soll sofort mit allen verfügbaren Mannschaften das Polizeipräsidium umstellen – rufen Sie die Wache Cannon Row an, daß alle Leute an der Absperrung teilnehmen sollen. Ein Mann mit einer verletzten Hand soll verhaftet werden – geben Sie den Befehl an alle Reviere durch.«

 

»Wir haben nur wenig Aussicht, unseren Freund auf diese Weise zu fassen«, sagte Mr. Smith. Er nahm ein Vergrößerungsglas und betrachtete einen der Blutflecken.

 

»Wer mag das gewesen sein?« fragte Ela.

 

Mr. Smith zeigte auf den blutigen Fingerabdruck.

 

»Montague Fallock – und er weiß jetzt gerade das, was er unter keinen Umständen erfahren sollte.«

 

»Und was ist das?«

 

Mr. Smith antwortete nicht gleich. Er stand mitten im Zimmer und schaute sich um, ob er nicht irgendwelche Spuren oder Anhaltspunkte finden könnte, die der Einbrecher hinterlassen hatte.

 

»Er weiß genausoviel wie ich«, sagte er grimmig. »Aber vielleicht bildet er sich ein, daß ich noch mehr weiß – die Dinge werden sich ja entwickeln.«