Annette von Droste-Hülshoff

Bei uns zulande auf dem Lande

Nach der Handschrift eines Edelmannes aus der Lausitz

Einleitung des Herausgebers

Ich bin ein Westfale, und zwar ein Stockwestfale, nämlich ein Münsterländer, – Gott sei Dank!

füge ich hinzu und denke gut genug von jedem Fremden, wer er auch sei, um ihm zuzutrauen, daß

er gleich mir den Boden, wo »seine Lebenden wandeln und seine Toten ruhen«, mit keinem andern

auf Erden vertauschen würde, obwohl seit etwa zwei Jahrzehnten, d.h. seit der Dampf sein

Bestes tut, das Landeskind in einen Weltbürger umzublasen, die Furcht, beschränkt und

eingerostet zu erscheinen, es fast zur Sitte gemacht hat, die Schwächen der Alma mater, welche

man sonst Vaterland nannte und bald nur als den zufälligen Ort der Geburt bezeichnen wird, mit

möglichst schonungsloser Hand aufzudecken und so einen glänzenden Beweis seiner Vielseitigkeit

zu geben. Es ist bekanntlich ja unendlich trostloser, für albern als für schlimm zu gelten.

Möge die zivilisierte Welt also getröstet sein, denn ihre Fortschritte zu der alles

nivellierenden Unbefangenheit der wandernden Schauspieler, Scherenschleifer und vazierenden

Musikanten sind schnell und unwidersprechlich. – Dennoch bleiben Erbübel immer schwer

auszurotten, und ich glaube bemerkt zu haben, daß, sobald man auf die Redeweisen dieser

grandiosen Parteilosen fein kräftig eingeht und etwa hier und dort noch den rechten Drücker

aufsetzt, sie geradeso vergnügt lächeln als ein Bauer, der Zahnweh hat.

Gott besser’s, sage ich und überlasse die beliebige Auslegung jedem. – Was mich anbelangt, so

bin ich, wie gesagt, ein Mensch nullius iudicii, nämlich ein Münsterländer, sonst guter Leute

Kind, habe studiert in Bonn, in Heidelberg, auch auf einer Ferienreise vom Rigi geschaut und

die Welt nicht nur weitläufig, sondern sogar überaus schön gefunden – ein in der Tat wunderbar

köstlicher Moment, und für den armen Studenten, der um jeden zu diesem Zwecke heimgelegten

Taler irgendeine andere Freude hat totschlagen müssen, ein tief, fast heilig bewegender –

dennoch nichts gegen das erste Knistern des Heidekrauts unter den Rädern, nichts gegen das

mutwillige Andringen der ersten Blütenstaubwolke, die die erste Nußhecke uns in den Wagen

wirbelte, nach drei langen auswärts verlebten Jahren. Da habe ich mich mal weit aus dem

Schlage gelehnt und mich gelb einpudern lassen, wie ein Römer aus den Zeiten Augusts, und so

wie berauscht die erstickenden Küsse meiner Heimat eingesogen. Dann kamen meine klaren,

stillen Weiher mit den gelben Wasserlilien, meine Schwärme von Libellen, die wie glänzende

Zäpfchen sich überall anhängen, meine blauen, goldenen, getigerten Schmetterlinge, die wie

flatternde Miniaturen aufstiegen. Wie gern wäre ich ausgestiegen und ein Weilchen

nebenhergetrabt, aber es kam mir vor, als müßte ich mich schämen vor den Leuten im

Schnellwagen und vor allen machte mir ein bleicher, winddürrer Herr not, der ganz aussah wie

ein Genie, was auf Menschenkenntnis reist, denn ich bin ehrlicher Leute Kind und möchte nicht

gern als empfindsame Heidschnucke in einem Journale figurieren. Deshalb will ich denn auch

hier abbrechen und nur noch sagen, daß ich seit zwölf Jahren wieder bei uns zulande bin und

mein friedliches Brot habe, als Rentmeister meines guten gnädigen Herrn, der keine Schwalbe an

seinem Dache belästigen mag, wieviel weniger seine Leute überladet, so daß ich meine Arbeit in

der Tat ganz wohl zwingen kann und um vieles an gutem, ich meine gesundem Aussehen gewonnen

habe, sonderlich in den letzten fünf Jahren, seit ich das obere Turmzimmer bewohne, was das

gesundeste im Hause ist und mir noch allerlei kleine Ergötzlichkeiten, als aus dem Fenster zu

angeln und die Reiher über dem Schloßweiher wegzuschießen, bietet. – Die Zeitungen werden mir

auch gebracht, wenn der Herr sie gelesen, und die Bücher aus der Leihbibliothek; so füllt sich

mein Überschuß an Zeit ganz behaglich aus, und ich bleibe hinlänglich in Rapport mit der

politischen und belletristischen Außenwelt. – Sehr wunderlich war mir zumute, als ich vor etwa

zehn Jahren zum erstenmal mein gutes Ländchen in van der Veldens Roman unverhofft begegnete,

es war mir fast, als sei ich nun ein Lion geworden und könne fortan nicht mehr in meinem

ordinären Rocke ausgehen. In den letzten Jahren habe ich mich indessen dagegen verhärtet, seit

wir Westfalen in der Literatur wie Ameisen umherwimmeln. Ich will nichts gegen diese Schriften

sagen, da ich wohl weiß, wie es mir ergehen würde, wenn ich z.B. einen Russen oder Kalmücken

in die Szene setzen sollte, aber soviel ist gewiß, daß ich in den Figuren, die dort unsere

Straßen durchwandeln, höchstens meine Nebenmenschen erkannt habe. Mir fiel dabei ein, wie ich

in den Gymnasialjahren bei einer stillen honetten Familie wohnte, wo jeden Abend Walter Scotts

Romane, einer nach dem andern, andächtig vorgenommen wurden; mein Wirt war Forstmann, sein

Bruder Militär, und seiner Frauen Bruder, der sich pünktlich um sieben mit der langen Pfeife

und einem starken Salbenduft einstellte, Wundarzt – Gott, wie haben wir uns an dem

Schottländer ergötzt, aber nur ich ganz rein, weil ich von allem, was er verhandelte, eben

kaum oberflächliche Kenntnisse hatte, die andern hingegen fanden alles unübertrefflich, bis

auf die greulichen Schnitzer in jedes eignem Fach, und lagen sich oft in den Haaren, daß sie

im Eifer das Licht ausdampften und mir in Rauch und Angst der Atem ausging, denn mein Held lag

derweil hart verwundet am Boden, und mir war, als müsse er sich verbluten, oder er hing über

einem schaudernden Abgrund, und mir war, als sähe ich ein Steinchen nach dem andern unter

seinen Fußen wegbröckeln; daraus habe ich mir denn den Schluß gezogen, nicht damals, sondern

nachträglich, daß man sowohl aus Billigkeit als um sich nicht unnötig zu verstimmen, zuweilen

eine Krähe für einen Raben muß gelten lassen, und es ist nicht zu genau zu nehmen mit Leuten,

die vielleicht aus Not als gute Familienväter sich mit Gegenständen befaßt haben, zu deren

Durchdringen ihnen nun einmal die Gelegenheit nicht ist gegeben worden. Dennoch war es mir,

sooft ich las, als rufe alles Totgeschlagene um Hülfe und fordere sein Leben von mir. Ich

hatte seitdem keine Ruhe, weniger vor dem, was besteht, als vor dem, was für immer hin ist.

Alte, nebelhafte Erinnerungen aus meinen frühsten Jahren tauchten auf, glitten mir tages über

die Rechnungen und kamen nachts in einer lebendigen Verkörperung wieder; ich war wieder ein

Kind und knieete neugierig und andächtig auf dem grünen Stiftsanger, während die Prozession an

mir vorüberzog, die Kirchenfahnen, die breite Sodalitätsfahne; ich sah genau die seit dreißig

Jahren vergessenen Zieraten des Reliquienkastens, und Fräulein, die ich schon so lange als alt

und verkümmert kannte, daß es mir war, als könnten sie nie jung und selbständig gewesen sein,

traten in ihrer weißen Ordenstracht so stattlich und sittsam hinter dem hochwürdigen Gute her,

wie es christlichen Herrschaften geziemt. Seltsam genug war in diesen Träumen auch alle Scheu

und Beschränktheit eines Kindes wieder über mich gekommen; ich fürchtete mich etwas weniges

vor den Bärten der Kapuziner, nahm nur zögernd und doch begierig das Heiligenbild, was sie mir

mit resolutem Nicken aus ihren Ärmel hervorsuchten, sah verstört hinter mich, wenn meine

Tritte in den Kreuzgängen widerhallten, und horchte mit offenem Munde auf die eintönigen

Responsorien der Domherren, die aus dem geschlossenen Chore mir wie eine Wirkung ohne Ursache

hervorzudröhnen schienen. Wachte ich dann auf, so war mir zumute wie einem Geplünderten,

verarmt und tiefbetrübt, daß alles dieses und auch soviel anderes Landesgetreue, was so reich

und wahrhaftig gelebt, fortan kein anderes Dasein haben sollte als in dem Gedächtnisse weniger

Alternder, die auch nach und nach abfallen wie das Laub vom Baume, bis der kalte Zugwind der

Ereignisse auch kein Blatt mehr zu verwehen findet. Träumen macht närrisch, pflegt man zu

sagen; mich hat es närrisch genug gemacht (soll ich’s gestehen? und warum nicht, irren ist

kein Schade). An einem schönen Tage, wo blöder Sonnenschein mir gute Courage machte, schnitt

ich entschlossen ein Dutzend Federn, nahm mich gewissermaßen selber bei den Ohren und dachte:

Schreib auf, was du weißt, wäre es auch nur für die Kinder des Herrn, Karl und Klärchen –

besser ein halbes Ei als eine leere Schale; angefangen habe ich denn auch, aber wenn ich

sagte, es sei gut geworden, so hätte ich mich selber zum Narren. Solange ich schrieb, kam es

mir schon leidlich vor, und ich hatte mitunter Freude an eignen netten Einfällen und, wie mich

dünkte, ganz poetischen Gedanken, aber wenn ich es mir nun vor anderer Augen oder gar gedruckt

dachte, dann schoß es mit einem Male zum Herzen, als sei ich doch ganz und gar kein Genie und,

obwohl gleichsam mit der Feder hinterm Ohre geboren, doch wohl nur, um Register zu führen und

Rechnungen auszuschreiben. In meinem Leben habe ich mich nicht so geschämt, als wenn ich dann,

wie dies ein paarmal geschah, die Tischglocke überhörte und der Bediente mich überraschte,

der, gottlob, kein Geschriebenes lesen kann. Aller Augen sahen auf mich, ich schluckte meine

Suppe nachträglich hinunter wie ein Reiher, und es war mir, als ob alle mit dem Finger auf

mich wiesen, die doch nichts von meiner Heimlichkeit wußten, sonderlich die beiden Kinder. Bei

Gott! es muß ein angstvolles Metier sein, das Schriftstellern, und ich gönne es keinem Hunde.

– Darum bin ich auch so herzlich froh, daß ich dieses Manuskript gefunden, was alles und weit

mehr enthält, als ich zu sagen gewußt hätte, dabei in einem netten Stile, wie er mir

schwerlich würde gelungen sein. Das Heft lag im Archive unter dem Lagerbuche, und ich habe

dies wohl hundertmal daran hinein- und hinausgeschoben, ohne es je zu beachten, aber an jenem

Tage – morgen werden es drei Wochen her sein – polterte es einem Bündel Papiere nach auf den

Boden, und eine glückliche Neugier trieb mich an hineinzusehen. Der Verfasser ist ein Edelmann

aus der Lausitz, Lehnsvetter einer angesehenen, seit zwanzig Jahren erloschenen Familie, deren

Güter meinem Herrn zugekommen sind – das Hauptgut als Allodium durch Erbschaft, da des Herrn

Mutter eine Tochter jenes Hauses war, die geringern Besitzungen durch Kauf vom Bruder dieses

Lausitzers im Zeitpunkt der Aufhebung des Lehnsrechts durch Napoleon. Wie das Manuskript

hierhergekommen, weiß ich nicht, und der Herr, dem ich’s vorgelegt, wußte ebenfalls nichts

darüber; vielleicht hat es mein Vorgänger im Amte, der aufgeweckten, wißbegierigen Geistes

gewesen sein soll, von einer seiner Inspektionsreisen mitgebracht. Es lagen noch zwei

vergilbte Briefe darin, woraus erhellt, daß jener Edelmann unerwartet abreisen mußte, weil

sein Bruder am Nervenfieber schwer erkrankt war, daß er, in der Heimat angekommen, über der

Pflege desselben gleichfalls erkrankte und starb, während der andere aufkam; so mag er wohl

sein Manuskript in der Angst und Eil’ vergessen haben. Er scheint ein munterer und

wohlmeinender Mann gewesen zu sein, billig genug für einen Ausländer, mit der so seltenen

Gabe, eine fremde Nationalität rein aufzufassen, freilich nur halb fremd, denn das

westfälische Blut dringt noch bis ins hundertste Glied, und ich würde bedauern, daß er so früh

sterben mußte, wenn ich nicht bedächte, daß er jetzt doch schwerlich noch im Leben sein könnte

– sechsundfünfzig Jahre sind eine lange Zeit, wenn man schon vorher in den Dreißigen war. –

Die angesehene und fromme Familie, bei der er den einen Sommer zugebracht, hat auch, man

möchte sagen, unzeitig verlöschen müssen: zuerst der alte Herr, der sich beim Botanisieren

erkältete und, so glatt und wohlerhalten für seine Jahre er aussah, sich doch als sehr schwach

erwies, denn er schwand hin an der leichten Erkältung wie ein Hauch; dann der junge Herr

Baron, den man bis zu seiner Majorennität auf Reisen schickte, und der in Wien ein trauriges,

vorzeitiges Ende fand, im Duell, um einer eingebildeten Beleidigung willen, die das

freundliche Gemüt des jungen Mannes nicht beabsichtigte; Fräulein Sophie starb ihnen bald

nach, sie war nie recht gesund gewesen und diese beiden Stöße zu hart für sie; meines Herrn

Mutter mußte die Geburt ihres Kindes mit dem Leben bezahlen; aber wer sie alle überlebte, war

die Frau Großmutter, die nach dem Verluste der Ihrigen hierher zog und sich mit großer

Elastizität an dem Gedeihen ihres Enkels wieder aufrichtete; ich habe sie noch gekannt als

eine steinalte Frau, aber lebendig, heftig und aller ihrer Geisteskräfte mächtig bis zum

letzten Atemzuge; man hätte fast denken sollen, sie werde nimmer sterben, und doch war es am

Ende ein leichtes Magenübel, was sie hinnahm – ihr Andenken ist in Ehren und Segen und der

gnädige Herr noch immer still und nachdenklich an ihrem Todestage. Als ich ihm das Manuskript

gab, war er sehr bewegt, und ich glaubte nicht, daß er dessen Veröffentlichung zugeben werde;

nachdem es aber vierzehn Tage auf seinem Nachttische gelegen und er in dieser Zeit kein Wort

zu mir darüber geredet hatte, gab er es mir am verwichenen Sonnabend, den 29. Mai, zurück mit

dem Zusatze, von einem Westfalen geschrieben, würde es weniger bedeutend sein, aus dem Munde

eines Fremden sei es ein klares und starkes Zeugnis, was im Familienarchive nicht unterdrückt

werden dürfe. So mag es denn sein! und ich gebe es dem Publikum zum Gefallen oder Mißfallen;

es ist kein Roman, es ist unser Land, unser Glaube, und was diesen trifft an Lob oder Tadel,

was die Lebenden tragen müssen, das möge auch über diese toten Blätter kommen.

Erstes Kapitel

Der Edelmann aus der Lausitz und das Land seiner Vorfahren

Soeben hat die Schloßglocke halb zehn geschlagen – es ist eigentlich noch gar nicht Nacht –

ein schmaler Lichtstreifen steht im Westen, und zuweilen fährt noch ein Vogel im Gebüsche

drüben aus seinem Halbschlafe auf und träumt halbe Kadenzen seines Gesanges nach – dennoch

ist’s hier fast schon Nacht – soeben hat man mir eine schöne neue Talgkerze gebracht – Holz

ans Kamin gelegt, um einen Ochsen zu braten, und nun soll ich ohne Gnade in die Daunen. –

Unmöglich, ich emanzipiere mich, heimlich, aber desto sicherer, und niemand sieht es mir

morgens an, daß ich allnächtlich den stillen Wohltäter des Hauses mache und auf Wasser und

Feuer zwar nicht achte, aber doch achten würde, wenn dergleichen Dinge hierzulande nicht

unschädlich wären, wie ich wohl schließen muß, wenn ich jeden Abend Knecht und Magd mit

flackernden Lampen in Heuböden und Ställen umherwirtschaften sehe. Diese alten Mauern, die

doch wenigstens ihre drei Jahrhunderte auf dem Rücken zu tragen scheinen! seltsames,

schlummerndes Land! so sachte Elemente! so leiser, seufzender Strichwind, so träumende

Gewässer! so kleine friedliche Donnerwetterchen ohne Widerhall! und so stille, blonde

Leutchen, die niemals fluchen, selten singen oder pfeifen, aber denen der Mund immer zu einem

behaglichen Lächeln steht, wenn sie unter der Arbeit nach jeder fünften Minute die Wolken

studieren und aus ihrem kurzen Stummelchen gen Himmel schmöken, mit dem sie sich im besten

Einverständnisse fühlen. Vor einer Viertelstunde hörte ich die Zugbrücke aufknarren, ein

Zeichen, daß alles ab und tot ist und das Haus fortan unter dem Schutze Gottes und des breiten

Schloßteiches steht, der, nebenbei gesagt, an einigen Stellen nur knietiefe Furten hat; das

macht aber nichts, es ist doch blankes Wasser, was darüber steht, und man könnte nicht

durchwaten, ohne bedeutend naß zu werden: Schutz genug gegen Diebe und Gespenster! – Die Nacht

wird sehr sternhell werden, ich sehe zahllose milchichte Punkte allmählich hervordämmern; drei

Hühnerhunde und zwei Dachse lagern auf dem Estrich unter meinem Fenster und schnappen nach den

Mücken, die die dekretierte Nacht noch nicht wollen gelten lassen; aus den Ställen dröhnt

zuweilen das leise Murren einer schlaftrunkenen Kuh oder der Hufschlag eines Pferdes, das mit

Fliegen kämpft; im Zimmer meines guten Vetters von Noahs Arche her brennt das einzige

Nachtlicht; was soll ein ehrlicher Lausitzer machen, der um elf seine letzte Pikettpartie

anzufangen gewöhnt ist? Um mich liegen zwar die Schätze der Bibliothek: Hochbergs »Adliges

Landleben«, Kerßenbrocks »Geschichte der Wiedertäufer«, Werner Rolewinks »De moribus

Westphalorum« und meines Wirtes nicht genug zu preisendes »Liber mirabilis« – aber mir geht es

wie den Israeliten, die sich bei dem blanken Manna nach den Fleischtöpfen Egyptis sehnten; o

Dresdener Staatszeitung, o Frankfurter Postreiter, die ihr mich so manches Mal in den Schlaf

gewiegt habt, wann werden meine Augen euch wiedersehen? Können die Heringe und Schellfische

des Münsterschen Intelligenzblattes meine politischen Stockfische ersetzen? Aber warum

schreibe ich nicht oder vielmehr, warum habe ich nicht geschrieben diese zwei Monate lang? Bin

ich nicht im Lande meiner Vorfahren? Das Land, was mein Ahn Hans Everwin so betrübten Herzens

verließ und in sauberm Mönchslatein besang wie eine Nachtigall in der Perücke? O angulus

ridens! o prata fontesque susurro etc. etc. – Ich weiß es, wie mich einst freuen wird, diese

Blätter zu lesen, wenn dieses fremdartige Intermezzo meines Lebens weit hinter mir liegt,

vielleicht mehr, als ich jetzt noch glaube, denn es ist mir zuweilen, als wolle das

zwanzigfach verdünnte westfälische Blut sich noch geltend in mir machen. Gott bewahre! ich bin

ein echter Lausitzer – vive la Lusace! und nun! das hat Mühe gekostet, bis ich an diesen Kamin

gelangt bin – schlechte, schlechte Wege habe ich durchackert und Gefahren ausgestanden zu

Wasser und Lande. Dreimal habe ich den Wagen zerbrochen und einmal dabei auf dem Kopfe

gestanden, was weder angenehm noch malerisch war. Mit einem Spitzgespann (so nennt man hier

ein Dreigespann) von langhaarigen Bauernpferden habe ich mich durch den Sand gewühlt und mit

einem Male den vordern Renner in einer sogenannten Welle versinken sehen, einer tückischen,

wandernden Rasse von Quellen, die ich sonst nirgends angetroffen und die hier manchen

Fahrwegen Annex ist, sich das ganze Jahr stille hält, um im Frühlinge irgendeine gute

münsterische Seele zu packen, zur Strafe der Sünde, die sie nicht begangen hat. Ich bin aus

dem Wagen gesprungen wie ein Pfeil, denn – bei Gott – mir war so konfus, daß ich an die

Nordsee und Unterspülen dachte; von meinem Pferdchen war nur noch ein Stück Nase und die Ohren

sichtbar, mit denen es erbärmlich zwinkerte; zum Glück waren Bauern in der Nähe, die Heidrasen

stachen und geschickt genug Hand anlegten: »He! Hans! up! up!« Ja – Hans konnte nicht auf und

spartelte sich immer tiefer hinein; endlich ward er doch herausgegabelt und zog

niedergeschlagen und kläglich triefend weiter voran, wie der bei der Serenade übel begossene

Philister. – Ich fand vorläufig den Boden unter meinen Füßen sicherer und stapfte nebenher

durch das feuchte Heidekraut, immer an unsern Ahn denkend und sein horazisches »o angulus

ridens!« und was denn hier wohl lachen möge? der Sand? oder das kotige Pferd? oder mein

Fuhrmann in seinem bespritzten Kittel, der das Ave-Maria pfiff, daß die Heidschnucken davon

melancholisch werden sollten? oder vollends ich, der wie ein Storch von einem Maulwurfshügel

zum andern stelzte? – Doch – ich war es, der am Ende lachend in den Wagen stieg, dreimal

selig, schon vor Jahrhunderten im kleinsten Keime diesem glückseligen Arabien entflohen zu

sein, was sich mir in diesem Augenblicke von dem klassischen durch nichts zu unterscheiden

schien, als nur durch den Mangel an Sträußen und Überfluß an Pfützen. O Gott! dachte ich, wie

mag die Halle deiner Väter beschaffen sein, du guter Everwin! – Eine halbe Tagereise weiter,

und die Gegend klärte sich allmählich auf; die Heiden wurden kleiner, blumicht und beinahe

frisch und fingen an, sich mit ihren auffallend bunten Viehherden und unter Baumgruppen

zerstreuten Wohnungen fast idyllisch auszunehmen; rechts und links Gehölz und, soweit ich es

unterscheiden konnte, frischer, kräftiger Baumschlag, aber überall traten dem Blick mannshohe

Erdwälle entgegen, die, vom Gebüsch überschattet, jeden Fahrweg unerläßlich einengten – wozu?

wahrscheinlich um den Kot desto länger zu konservieren; ich befragte meinen Fuhrmann, einen

gereisten Mann, der sogar einmal Düsseldorf gesehen hatte und mich mindestens immer um mein

drittes Wort verstand: »O Herr«, sagte er, »wenn wir keine Wallhecken hätten, was würden wir

dann für schelmhaftige Wege haben?« Vivat Westphalia, dachte ich! – Wir ackerten voran – aus

allen Häusern belferten uns Kläffer an, die ich allemal, die langhaarigen »Rüden«, die glatten

ohne Ausnahme »Teckel« locken hörte; vor den Eingängen einzelner größerer Höfe zerwüteten sich

greuliche Zerberusse an ihrer Kette und es schien mir unmöglich, unzerrissen hinein- oder

hinauszukommen. – Was man nicht alles bemerkt auf einer Tagfahrt zwischen Wallhecken, den

Himmel über, die Pfütze unter sich! Der Wagen hielt einen Augenblick an, vier kleine Buben,

sämtlich in Troddelmützen und drei Kamisöler übereinander, rot wie Äpfelchen, stolperten eilig

herzu und langten mit der Hand nach dem Schlage; ich suchte nach ein paar Stübern und

Matieren, die man mir auf der letzten Station zugewechselt, und rief, indem ich sie aus dem

Schlage warf: »Habt acht, ihr Buben!« Da aber nahmen sie Reißaus, und wie verscheuchte Hasen

krabbelten sie den Erdwall hinan. Gotts Wunder, was mochte das für ein Krabat oder Slowak

sein, der kein Deutsch konnte und sein Geld in den Dreck warf? Ich sah sie noch lange aus

ihrem Hafen meinem Wagen nachstarren, wie, sans comparaison, einem abziehenden Kamele. Einem

war beim Ansatz zur Flucht sein Holzschuh abhanden gekommen, und ich hörte ihn unter dem Rade

ein unzeitiges Ende nehmen; mein Trost waren die herrenlosen Stüber und Matiere, mit denen

sich das dicke Henrichjännchen oder Jannberndchen (so heißt hier nämlich immer der dritte

Mann) bezahlt machen konnte, wenn dieses nicht außer seinem Gedankenkreise lag. Jetzt weiß

ich, daß die armen Dinger mir nur eine Kußhand geben, und schon damals begriff ich, daß sie

mindestens nicht betteln wollten. Überhaupt sah ich keine Straßenbettler am Wege, und das Land

meiner Vorfahren fing an, mir mindestens ganz nährend und behaglich vorzukommen, obwohl meine

Augen noch immer vergeblich nach dem »Fette der Erde« ausschauten, bei dem die Leute so

vollständige runde Köpfe und stämmige Schultern ansetzen konnten, bis ich durch die Lücken der

Wallhecken über die schweren Schlagbäume weg in das Geheimnis der Kämpe und Wiesengründe

drang, wo ich die eigentliche Elite der Ställe erblickte: schönes schweres Vieh ostfriesischer

Rasse, was übersatt und schnaubend in dem wie von einem Goldregen überzitterten Grasewalde

lag. – Schau mir einer die pfiffigen Münsterländer, die ihr eure dicken Taler auf vier Beinen

hinter Erdhaufen und Dornen versteckt, damit kein reisender Diplomat in der Seele seines

gnädigsten Herrn etwa Appetit dazu bekomme! Ich bin zu sehr Landwirt, als daß dieser Anblick

mich unbewegt gelassen hätte; ich dachte an mein liebes Dobbritz und meine krauslockigen

Lämmerchen und fühlte das Blut meines Ahns den Urenkeln seiner Ställe entgegenrollen –

seltsam! ich kann dies niederschreiben, als dächte ich noch heute so, und doch ist mir so gar

anders zumute. Nun weiter – zum Ziele! wenn die Lehmchausseen meiner so müde sind als ich

ihrer, so werden sie sich freuen, daß wir auseinander kommen, und ich fühle mich noch

innerlich zerschlagen von der Erinnerung und schmachte dem Ziele entgegen.

Doch zuvor noch ein Reiseabenteuer – kein kleines für meinen Fuhrmann – und was mir den ersten

dämmernden Begriff von dem Charakter dieses Volkes gab. Wir hatten einen derben Schock

überstanden – unsere Pferde verschnauften in der Heide und dampften aus Nüstern und Flanken.

Mein Bauer schlug Feuer an einer Art Lunte in messingener Scheide, die er seinen »perfekt

guten Tüntelpott« nannte, – in der Ferne bewegte sich etwas grell Rotes zwischen den Kühen –

es kam näher – es war ein Mensch in Scharlachlivree von grauschwarzer Gesichtsfarbe. Ich sagte

nichts und beobachtete meinen Bauern; der nahm langsam die Pfeife aus dem Munde, zog langsam

einen Rosenkranz aus seiner Tasche, griff nach seinem Hute zweimal, ohne ihn zu lüften, und

sah noch nicht auf, als das Unding ihm fast parallel war – es stand – es redete ihn an in

fremdartigem Dialekt: »Wo führt der Weg nach Lasbeck?« Mein Bauer winkte mit der Hand einen

breidünnen Fahrweg entlang, der Schwarze schüttelte den Kopf und sah auf seine Stiefeln, die

schon Schlimmeres überstanden hatten. – »Kann ich denn nicht dort herunter?« auf einen Fußweg

deutend, der dieselbe Richtung direkter nahm. »Das möchte nicht gut sein«, sagte der Fuhrmann

bedächtig. »Warum nicht?« mein Schwarzer kurz angebundenen, cholerischen Temperaments. Nie

werde ich den Ausdruck von, ich möchte sagen, ruhigem Schauder und tiefem Mitleid vergessen,

mit dem mein Bauer erwiderte: »Da steht ein Kruzifix.« Der Mohr stieß ein paar Sacredieus und

Coquins hervor, und fort trabte er mit seinem Briefbündel unterm Arm. Ist das nun lächerlich

oder rührend? Es kommt darauf an, wie man es auffaßt – ich gestehe, daß ich meinem Weißkittel

gern irgendeine Güte angetan hätte in diesem Augenblick, und seine religiöse Scheu ohne Furcht

und Haß, seine tiefe, überschwengliche Gutmütigkeit, die selbst den Teufel nicht ins Labyrinth

führen mochte, lag so rührend vor mir, daß ich seinem breiten Rücken, wie er so langsam, den

Rosenkranz abzählend, neben den Pferden herschritt, die ersten Liebesblicke in diesem Lande

zugewendet habe. Möge Gott dich behüten, du gutes, patriarchalisches Ländchen, Land meiner

Vorfahren, wie ich dich gern nenne, wenn man mir mein Anteil Lausitzer Blut ungekränkt läßt.

Mit der Ironie ist’s ab und tot; ich fahre durch die lange, weite Eichenhalle, wo die

schlanken Stämme ihre noch schwachbelaubten Wipfel über mich breiten; ich sah zwischen den

Lücken der Bäume einen weiten Wasserspiegel, graue Türme vortreten, – bei Gott! es war mir

doch seltsam zumut, als ich über die Zugbrücke rollte und über dem Tore den steinernen

Kreuzritter mit seinem Hunde sah, dessen der alte Everwin so wohlredend gedenkt: »Eques

vexillum crucis sublevans, cum molosso ad aquam hiante« – alter Hans Heinrich! schwenkst du

deine Fahne auch schützend über deinen verarteten Zweig, dem dein Glaube und Land fremd

geworden sind? Im Schlosse war ich so halbwege erwartet, d.h. so in Bausch und Bogen, wo es

auf eine Handvoll Wochen nicht ankommt; ein schlau aussehender, schwärzlicher Bursche in

himmelblau und gelber Livree, streng nach dem Wappenbuch, öffnete den Schlag und erkannte mich

sofort für den fremden Vetter, als ich vom »Schlosse« redete und nach dem »Baron« fragte. »Der

Herr sind auf dem Vogelfang, aber die gnädige Frau sind zu Hause« – zugleich hörte ich

drinnen: »Ihro Gnaden, he ist do, he ist do, de Herr ut de Lauswick!« und sah beim Eintritt

noch zwei dicke, passablement schiefe, himmelblaue Beine. – Das war also der Eintritt in die

Halle meiner Väter; ja, hört, wie es erging, ihr Wände, meine ich, und du, jammernder Scheit

im Kamin – denn auf die drei Spione und zwei Dachse kann ich nicht rechnen, da das Fenster

geschlossen ist. Die gnädige Frau empfing mich stattlich, aber verlegen, das Bäschen stumm

verlegen, der junge Vetter neugierig verlegen, der eigentliche Herr, der fast mit mir zugleich

eintrat und bei unserer ersten Bewillkommnung einen piependen und flatternden Vogel in der

Hand hielt, war auch verlegen, aber auf eine überaus teilnehmende Weise. Verlegen waren alle,

und so blieb mir nichts übrig, als es am Ende mit zu werden; man sah, wie in allen eine

unterdrückte Herzlichkeit kämpfte mit einem Etwas, das ich nicht ergründen konnte, und mich

verstohlen vom Kopfe bis zu den Füßen musterte. Meine Augen hatten den rechten Weg

eingeschlagen – der galonierte Rock – die Ringe an den Fingern, so tragen sich hierzulande die

Windbeutel, und womit ich, unter uns gesagt, diesen Leuten an der Welt Ende zu imponieren

glaubte und auf der letzten Station wenigstens eine gute Stunde verwendet hatte, das gab mir

hier das Ansehen eines, der nächstens zum Bankerott umkippen will und Kredit auf seine Tressen

sucht; hier ist alles so feststehend, man weiß so genau, was jeder gilt, daß dergleichen

Nachhülfe und Augenverblendung immer nur wie Notschüsse herauskommen, und ich bin jetzt

überzeugt, daß mein guter Vetter, unter seinen Grüßen und Verbeugungen, alle seine Gefälle und

Zehnten überzählte, und wieviel davon wohl zur Aushülfe eines verlorenen Sohnes im 20sten

Gliede möchte ritterlich, christlich und doch ohne Unverstand zu verwenden sein. Jetzt weiß

ich dieses, und es demütigt mich nicht; hätte ich es damals gewußt, so würde es mich

allerdings in einen kläglichen, innern Zustand von Scham und Zorn versetzt haben, – dennoch

ging der erste Tag mühsam hin, obwohl der Vetter mich in alle seine Freuden und Schätze

einweihte: seine nie gesehenen Blumenarten eigener Fabrik, seine Rüstkammer, seine

landwirtschaftlichen Reichtümer, sogar den Augapfel seines Geistes, sein unschätzbares Liber

mirabilis – ich dachte zu meiner Unterhaltung, jetzt weiß ich aber, daß es ein schlauer

Streich vom alten Herrn war, der mir so heimlich auf den Zahn fühlte, wie es mit adligen

Künsten bei mir beschaffen sei – nämlich Latein, Öconomia und Ritterschaftsverhältnissen. Mir

ging’s wie dem Nachtwandler, und ich trat um so blinder, desto sicherer auf. Acht Tage kann

ich auf mein Noviziat rechnen, wo täglich eine neue Schleuse des Wohlwollens sich zögernd

öffnete, das ganz eigentümliche milde Lächeln des Herrn täglich milder, die scharfen Augen

seiner Frau täglich strahlender und offener wurden, und als mich am achten Tage der junge Herr

Everwin auf seine Stube geführt und Fräulein Sophie abends aus freien Stücken ein schönes,

etwas altmodiges Lied zum Klaviere gesungen hatte, da war ich absolviert und fortan ein Kind

und Bruder des Hauses. Ich fühlte dieses, als ich am nächsten Morgen von Abreise sprach, um

meinem Bleiben einen festen Boden zu geben, der auch sogleich unter mir aufstieg. »Mich

dünkt«, sagte der alte Herr (»der Herr« sagt man hier kurzweg, »Baron« ist ausländisch und

windbeutelig) mit einem triumphierenden Lächeln, »mich dünkt, Sie blieben nett hier in Numero

Sicher, bis Sie Ihr Recht in der Tasche haben. Der Hund des alten Hans Heinrich hat uns so

manchen Prozeß weggebellt, der wird Ihnen auch keinen durchs Tor lassen.« – Ich dachte an

meine Gedanken, als ich unter dem Steinbilde einfuhr, und der alte Herr mußte mir etwas

dergleichen ansehen, denn er schüttelte meine Hand und sagte: »Lieber Herr Vetter!« So bin ich

denn nun seit zwei Monaten hier – Boten gehen und kommen, und meine Geschäfte ziehen sich in

die Länge; ich helfe dem Herrn botanisieren, Vögel fangen und sein Liber mirabilis auslegen,

wobei ich schlecht genug bestehe und manche Eselsbrücke schlage, die der Vetter gütig

unbemerkt läßt; besser komme ich fort in den gelegentlichen Gesprächen über ernste Gegenstände

und Klassische Wissenschaften, in denen der alte Herr vortrefflich beschlagen ist und ich eben

auch kein Hund bin – was mich aber zumeist ergötzt, ist die lebendige, frische Teilnahme, die

kräftige Phantasie, mit der alles meinen Erzählungen von Städten, Ländern und vor allem den

Wundern des grünen Gewölbes horcht. Diese stillen Leute sitzen unbewußt auf dem Pegasus, ich

will sagen, sie leben in einer innern Poesie, die ihnen im Traume mehr von dem gibt, was ihre

leiblichen Augen nie sehen werden, als wir andern übersättigten Menschen mit unsern Händen

davon ergreifen können. Ich bin gern hier, es wäre Fadheit, es zu leugnen, und Undank

zugleich; auch langweile ich mich keineswegs, man treibt hier allerlei Gutes, etwas

altfränkisch und beengt, aber gründlich. Auch gibt es hier von den seltsamsten Originalen, und

zwar rein naturwüchsigen, sich völlig unbewußten; wenn ich bedenke, was ich noch alles

nachzuholen und zu erläutern habe, ehe ich wieder bis zu diesem Abende, diesem Kamin und

diesen Mücken gelange, die mich unbarmherzig molestieren, so scheinen mir alle Gänseflügel auf

dem Hofe in Gefahr, – aber jetzt ist’s spät – meine Kerze hat sich mehr schön als dauerhaft

bewiesen; sie ist mehr verlaufen als verbrannt, und auf dem Tische schwimmt’s von Talge, den

ich noch vor Schlafengehen mit eigenen Händen reinigen muß, um nicht morgen von meinem Freunde

Dirk als der schmierige Herr aus der Lauswick bezeichnet zu werden. – Das Licht im Zimmer des

Vetters brennt dämmerig wie ein Traum – die Sterne sind desto klarer, welch schöne Nacht! –

Zweites Kapitel

Der Herr und seine Familie

Honneur aux dames! Ich fange an mit der gnädigen Frau, einem fremden Gewächs auf diesem Boden,

wo sie sich mit ihrer südlichen Färbung, dunkeln Haaren, dunkeln Augen ausnimmt wie eine

Burgundertraube, die in einen Pfirsichkorb geraten ist, – sie stammt aus einer der reichen

rheinländischen Familien, die man hier für ebenbürtig gelten läßt, und der Vetter, der vor

zwanzig Jahren nach Düsseldorf landtagen ging und von einer plötzlichen Lust, die Welt zu

sehen, befallen wurde, lernte sie in Köln vor dem Schreine der Heiligen Drei Könige kennen und

fühlte dort zuerst den vorläufig noch äußerst embryonischen Wunsch, sie zur Königin seines

Hauses zu machen. Das ist sie denn auch im vollen Sinn des Wortes: eine kluge, rasche,

tüchtige Hausregentin, die dem Kühnsten wohl zu imponieren versteht und, was ihr zur Ehre

gereicht, eine so warme, bis zur Begeistrung anerkennende Freundin des Mannes, der eigentlich

keinen Willen hat als den ihrigen, daß alle Frauen, die Hosen tragen, sich wohl daran spiegeln

möchten. Es ist höchst angenehm, dieses Verhältnis zu beobachten; ohne Frage steht diese Frau

geistig höher als ihr Mann, aber selten ist das Gemüt so vom Verstande hochgeachtet worden;

sie verbirgt ihre Obergewalt nicht, wie schlaue Frauen wohl tun, sondern sie ehrt den Herrn

wirklich aus Herzensgrunde, weiß jede klarere Seite seines Verstandes, jede festere seines

Charakters mit dem Scharfsinn der Liebe aufzufassen und hält die Zügel nur, weil der Herr eben

zu gut sei, um mit der schlimmen Welt auszukommen. Nie habe ich bemerkt, daß ein Mangel an

Welterfahrung seinerseits sie verlegen gemacht hätte, dagegen strahlten ihre schwarzen Augen

wie Sterne, wenn er seine guten Kenntnisse entwickelt, Latein spricht wie Deutsch, und sich in

alten Tröstern bewandert zeigt wie ein Cicerone. Die gnädige Frau hat südliches Blut, sie ist

heftig, ich habe sie sogar schon sehr heftig gesehen, wenn sie bösen Willen voraussetzt, aber

sie faßt sich schnell und trägt nie nach. Sehr stattlich und vornehm sieht sie aus, muß sehr

schön gewesen sein und wäre dies vielleicht noch, wenn ihre bewegten Gefühle sie etwas mehr

Embonpoint ansetzen ließen; so sieht sie aus wie ein edles, arabisches Pferd. Ihr neues

Vaterland hat sie liebgewonnen und macht gern dessen Vorzüge geltend, nur mit der Art

Überschätzung, die oft gescheiten Leuten von starker Phantasie eigen ist: so hat sie alle

alten, mitunter verwunderlichen Gewohnheiten und Rechte des Hauses bestehen lassen und wacht

nur über Ordnung und ein billiges Gleichgewicht; ich werde noch auf die respektablen

Müßiggänger kommen, über die man hier bei jedem Schritte fällt, und die ich bei mir zu Hause

würde mit dem Ochsenziemer bedienen lassen; hier möchte ich sie selbst nicht gekränkt sehen.

Bettler in dem Sinne wie anderwärts gibt es hier keine, aber arme Leute, alte oder schwache

Personen, denen wöchentlich und öfter eine Kost so gut wie den Dienstboten gereicht wird; ich

sehe sie täglich zu dreien oder mehren auf der Stufe der steinernen Flurtreppe gelagert,

ärmlich, aber ehrbar, und keinen vorübergehen, ohne sie zu grüßen. Die gnädige Frau tut mehr,

sie geht hinunter und macht die schönste Konversation mit ihnen über Welthändel, Witterung,

die ehrbare Verwandtschaft und wovon man sich sonst nachbarlich unterhält; darum gilt sie denn

auch für eine brave, gemeine Frau, was soviel gilt als populär, und sie ist immer mit gutem

Rat zur Hand, wo sie denn auch, wie billig, der Ausführung nachhilft. Sehr habe ich ihre

Geduld bewundern müssen mit einem Verrückten, dem Sohn des Müllerhauses, dessen Licht ich eben

durch die Mauerluke herüberscheinen sehe. Der arme Mensch ist irre geworden über eine

Heiratsgeschichte, obwohl nicht eben aus Liebe. Er war einziger Sohn, sie einzige Tochter, und

beide Eltern am Leben; so zog die Aussicht sich ins Blaue, da jedes die Seinigen mitbringen

mußte und für vier alte Leute in keinem der Häuser Raum war; dennoch hatten die Eltern sie

unterderhand verlobt mit dem ruhigen Zusatze, daß, wenn zweie von ihnen gestorben seien, was

bei ihrem Alter wohl nicht lange ausbleiben werde, die Heirat vor sich gehen könne. So lebten

alle friedlich und ohne Ungeduld voran, bis der Brautvater, ein Tischler, sehr kränklich,

zugleich etwas schwach im Kopfe, anfing, sich lebhaft nach einem Gehülfen zu sehnen. Sein

Geselle, ein schlauer Sauerländer, machte sich dieses zunutze, so viel vom Verfall der

Kundschaft und dem übermäßigen Wohlbefinden des Müllerpaares zu reden, denen er wenigstens

Methusalems Alter prophezeite, wobei er schlau die Verpflichtung gegen Kind und Gutsherrn auf

das geängstigte Gemüt des alten Mannes wirken ließ, bis er diesen ganz konfus über Recht und

Unrecht gemacht hatte. Die Folge war eine zweite und dieses Mal rechtskräftige Verlobung mit

Stempelpapier und Siegel zwischen dem betrübten, eingeschüchterten Mädchen und dem

Sauerländer. Zwei Tage später, und der alte Mann lag tot am Schlagflusse, und fast mit ihm

zugleich starb der Vater des Bräutigams an einer leichten Erkältung, was wahrlich kein zähes

Leben bewies. In der ersten Trauerzeit hielt jedes sich still zu Hause, dann aber trieb die

Müllerin ihren Sohn an, mit der Braut jetzt das Nähere zu bereden; als er hinkam, stand sie im

Garten, und er sah sie schon von weitem die Schürze vors Gesicht schlagen und ins Haus gehen;

darauf kam die Mutter heraus und erzählte ihm mit vielem Stottern die ganze Bescherung, worauf

er stille wieder nach Hause ging. Seitdem konnte er aber den Schimpf nicht verwinden; zugleich

drängte ihn die Mutter, deren Kräfte schnell abnahmen, zum Heiraten. Zwei neue Pläne, die

übereilt angelegt waren, schlugen fehl. Franz hatte einen tiefen, heimlichen Hochmut auf seine

ehrenwerte Familie, die seit vielen Generationen des Herrn Mühle mit Lob versehen hatte, und

noch mehr, weil er als älterer Spielkamerad und halber Aufseher der Herrschaft aufgewachsen

war und noch jetzt zu den Auserwählten gehörte, die auf Hochzeiten mit den Fräuleins einen

Tanz machten. Die Scham quälte ihn, das Drängen seiner Mutter und die Furcht, eine schlimme

Wahl zu treffen oder gar mit einem neuen Korbe aufzuziehen, ließen ihm Tag und Nacht keine

Ruhe; seine Augen bekamen nach und nach etwas Stieres im Blick, und mit einem Male fing er an,

allerlei wirres Zeug zu reden – jetzt ist er ganz irre, obwohl voll Höflichkeit und, wenn man

ihn auf ganz fremde Gegenstände lenkt, von recht verständigem Urteile; aber dazu kommt es

selten, seine fixen Ideen halten ihn wie mit eisernen Klammern und fahren in jedes beruhigende

Gespräch wie Sporenstiche hinein. Jetzt ist seine größte Not eine Prinzessin von England, die

man ihm zufreien will, was ihn als guten Katholiken ängstigt, er hält sich ihr ganz

ebenbürtig, doch hat er ein halbes Bewußtsein von ihrer hohen Stellung, und daß sie ihn, wenn

er sich sperrt, könnte wohl einstecken oder auf die Tortur bringen lassen, und er bereitet

sich durch Lesen in der Bibel auf sein einstiges Martyrtum vor, dem er doch womöglich noch

entschlüpfen möchte, und täglich mit der gnädigen Frau lange Beratungen darüber hält, die mit

himmlischer Geduld ihm schlaue Ausflüchte erfinden hilft und wirklich, wie ich glaube, allein

bis dahin ihn vor völliger Raserei gerettet hat. Mich durchrieselt jedesmal ein Schauder, wenn

ich dieses Angstbild sehe; hier erregt es nur tiefe, ruhige Teilnahme. – Aber ich bin von

meinem Thema abgekommen, also der junge Herr: Everwin heißt er, in getreuer Reihenfolge wie

die Heinriche von Reuß, steckt noch ein wenig in der Schale. Neunzehn Jahr ist er alt und lang

aufgeschossen wie eine Erle, blond, mit hellblauen Augen, durch die man glaubt, bis ins Gehirn

sehen zu können. Ich höre ihn oft im Nebenzimmer gefährlich stöhnen und räuspern über den

Klassikern und alten Geschichtswerken, an denen er eine Mühe hat, daß ihm mittags zuweilen die

Haare davon zu Berge stehen. Ich profitiere auch zur vollen Genüge von seinem Geigenspiel,

zuweilen, wenn ich gerade gutgelaunt und recht im Dolcefarniente bin, nicht ohne Vergnügen: er

streicht seinen Viotti so sanft und reinlich ab und an manchen Stellen mit so kindlich mildem

Ausdruck, daß ich oft denke: er ist doch der Papa en herbe, der nur noch nicht zum Durchbruch

kommen kann – dieses geringe, leider täglich an Wert verlierende Vergnügen wird mir aber

reichlich versalzen durch die Übungsstunden, wo absichtlich zu Schwieriges vorgenommen wird;

von all dem Wasser, was mir diese Doppelpassagen, bei denen immer ein falscher Ton nebenher

läuft, schon um die Zähne getrieben haben, könnten wenigstens zwei Mühlen gehen; zuweilen gibt

Karo, des Vetter sehr geliebter Spion, noch die dritte Stimme dazu, und dann ist der Moment

da, wo ein spleeniger Engländer sich ohne Gnade erhängen würde. Mein Zimmer ist indessen der

Ehrenplatz im Hause, und Hoffart will Not leiden; zudem kann mir nicht entgehen, daß Everwin,

wo es ohrengefährlich wird, den Bogen so leise ansetzt wie ein menschlicher Wundarzt die

Sonde, und sogar zuweilen mir zuliebe seinem Karo einen Fußtritt gibt, der ihm gewiß selber

wie ein Pfahl durchs Herz geht; er ist überhaupt ein bescheidener, jüngferlicher Nachbar, der

morgens auf den Zehen umherschleicht und sich abends gleichsam ins Bette stiehlt, daß ich kaum

die Decken rispeln höre. Sein Freund und Gefährte in allem ist der Neffe des Rentmeisters,

Wilhelm Friese, ein wunderlich begabter junger Mann, an dem Everwin sich festgesogen hat wie

die Auster an der Koralle; ich sehe sie beide oft morgens um sechs nach dem Dohnenstrich

ziehen in knappen Jagdröckchen und Lederkäppchen, fröhlich und mädchenhaft wie ein paar

Klosternovizen in den Freistunden. – Vor Frauen hat er noch eine wahre Josephsscheu und würde

einen unchristlichen Haß auf die Unglückliche werfen, mit der man ihn neckte; zwei Münstersche

Schilling gebe ich drum, ihn dereinst auf Freiersfüßen zu sehen; ohne Zweifel muß da sein

Wilhelm voran, und der wird sich ebenfalls alle zehn Nägel abkauen vor Angst, obgleich er

gegen ihn gerechnet für einen Schalk gelten kann. Neulich frühe saß ich am Ausgange der neuen

Anlagen, die diesen Landsitz umgeben wie Nester mit jungen Vögeln eine graue Warte. Everwin

kam über Feld, Wilhelm hinterdrein, ich hörte, daß sie sprachen, aber Everwin sah nicht

zurück. »Ich sage es dir nochmals«, rief Wilhelm, »wenn du dir keinen bessern Rock anschaffst,

so bekömmst du dein Lebtag keine Frau!« – »Ach, bah!« brummte Everwin und rannte wie ein

Kurier und war bereits dicht neben mir, ohne mich zu sehen. »Lauf doch nicht so, laß uns das

Ding überlegen, du kömmst doch nicht vorbei, was scheint dir blau mit Tressen, das steht gut

zu blonden Haaren.« – »Wilhelm!« drohte Everwin zurück und trat bis über die Knöchel in eine

Lache. – »Guten Morgen, Vetter!« sagte ich. – »Sieh, sind Sie da? ich habe ins Wasser

getreten!« – »Das sehe ich« – und fort trabten beide wie begossene Hunde, Wilhelm am

betroffensten; er hatte aber auch gottlose Reden geführt! Fräulein Sophie gleicht ihrem Bruder

aufs Haar, ist aber mit ihren achtzehn Jahren bedeutend ausgebildeter und könnte interessant

sein, wenn sie den Entschluß dazu faßte. Ob ich sie hübsch nenne? Sie ist es zwanzigmal im

Tage und ebensooft wieder fast das Gegenteil; ihre schlanke, immer etwas gebückte Gestalt

gleicht einer überschossenen Pflanze, die im Winde schwankt, ihre nicht regelmäßigen, aber

scharf geschnittenen Züge haben allerdings etwas höchst Adliges und können sich, wenn sie

meinen Erzählungen von blauen Wundern lauscht, bis zum Ausdruck einer Seherin steigern, aber

das geht vorüber, und dann bleibt nur etwas Gutmütiges und fast peinlich Sittsames zurück;

einen eignen Reiz und gelegentlichen Nichtreiz gibt ihr die Art ihres Teints, was, für

gewöhnlich bleich bis zur Entfärbung der Lippen, ganz vergessen macht, daß man ein junges

Mädchen vor sich hat – aber bei der kleinsten Erregung, geistiger sowie körperlicher, fliegt

eine leichte Röte über ihr ganzes Gesicht, die unglaublich schnell kömmt, geht und wiederkehrt

wie das Aufzucken eines Nordlichts über den Winterhimmel; dies ist vorzüglich der Fall, wenn

sie singt, was jeden Nachmittag zur Ergötzung des Papas geschieht. Ich bin kein natürlicher

Verehrer der Musik, sondern ein künstlicher – mein Geschmack ist, ich gestehe es, ein im

Opernhause mühsam eingelernter, dennoch meine ich, das Fräulein singt schön – über ihre Stimme

bin ich sicher, daß sie voll, biegsam, aber von geringem Umfange ist, da läßt sich ein Maßstab

anlegen, – aber dieses seltsame Modulieren, diese kleinen, nach der Schule verbotenen

Vorschläge, dieser tieftraurige Ton, der, eher heiser als klar, eher matt als kräftig,

schwerlich Gnade auswärts fände, können vielleicht nur einem geborenen Laien wie mir den

Eindruck von gewaltsam Bewegenden machen; die Stimme ist schwach, aber schwach wie ein fernes

Gewitter, dessen verhaltene Kraft man fühlt – tief, zitternd wie eine sterbende Löwin: es

liegt etwas Außernatürliches in diesem Ton, sonderlich im Verhältnis zu dem zarten Körper. Ich

bin kein Arzt, aber wäre ich der Vetter, ich ließe das Fräulein nicht singen; unter jeder

Pause stößt ein leiser Husten sie an, und ihre Farbe wechselt, bis sie sich in roten, kleinen

Fleckchen festsetzt, die bis in die Halskrause laufen – mir wird todangst dabei, und ich suche

dem Gesange oft vorzubeugen.

Fräulein Anna, in die man mich etwas verliebt glaubt, darf sich wohl sehen lassen; sie ist ein

schönes, braunes Rheinkind mit brennenden Augen, blitzenden Zähnen, Elfenfüßchen, zitternd von

verhaltenem Mutwillen wie eine Granate, über der die Lunte brennt; sie möchte gern immer reden

und schweigt doch zumeist, weil sie den rechten Ton auf der hiesigen Skala nicht finden kann;

wenn wir abends unsere stillen, ehrbaren Gespräche führen, sitzt sie gewöhnlich am Fenster und

seufzt ungeduldig Wolken und Winde an, die nach den Rebhügeln ziehen, wo ihre jungen Gefährten

sich’s wohl und lustig sein lassen, während sie hier bei der Tante die Klosterjungfer spielen

muß. Wozu? Sie begreift es nicht und klagt den Himmel und das Geschick an; ich denke, man hat

einen Dämpfer für diese üppige Wasserorgel nötig gefunden. Den Onkel ehrt sie, weiß ihn aber

nicht zu schätzen, der Tante wendet sie eine zornige Liebe zu, da sie das verwandte Element

fühlt und vor Ungeduld überschäumt, es so beengt zu sehen; dabei hat sie eine Regung von

Empfindsamkeit, liebt den Wald und schält alle Bäume, um ihre Klagen darauf auszuhauchen. Mir

ist eine dergleichen formlose Ergießung neulich zu Händen gekommen, wo in sechszehn Zeilen

dreimal »Sehnsucht«, zweimal »unverstanden« und viermal »der Friede« vorkam. Sophie ist ihr

fast fatal, und Everwin, den sie »unsre Mamsell« oder Langewin (lang, schmal) oder Gradewein

nennt, der ewige unfreiwillige Tröster ihrer Langenweile; sie gibt ihm Salz mit auf die Jagd,

macht, daß seine Leintücher eingeschlagen werden, so daß er nachts wie in einem kurzen Sacke

steckt, oder nimmt seine Dohnen aus und hängt Maulwürfe oder schwarze Hadern hinein, was ihm

allemal wirklich nahgeht und empfindlicher ist als die schlaflose Nacht. Da ihm zur Revanche

Geschick und Kühnheit fehlen, ist’s ein einseitiger Spaß, der in Everwins Herzen allmählich

einen Sauerteig von verkniffener Schadenfreude ansetzt: ich sehe allemal etwas wie einen

falschen Sonnenstrahl über sein Gesicht zucken, wenn sie mit ihrer halbbewußten Koketterie bei

einem Kameraden abfährt oder Karo, nach einem Wasserbade, sich zunächst bei ihr abschüttelt,

und ich habe ihn in Verdacht, ihn vorzugsweise auf ihrer Seite apportieren zu lassen. Dem

Wilhelm scheint sie gewogener, nennt ihn einen gebildeten, jungen Mann, und es kommt mir vor,

als ob sie seinetwegen zuweilen ein Schleifchen mehr ansteckte, was er leider nicht zu

bemerken scheint. Ich glaube überhaupt, daß zwei Drittel ihrer Seufzer dem Verkanntsein

gelten; ist’s z.B. nicht hart, daß sie, die Französisch spricht wie Deutsch und den Gellert

zitieren kann, hier noch Rechnenstunde nehmen muß bei einem invaliden Unteroffizier, der am

Ausgange des Parks wohnt? – Wäre seine fuchsige Perücke nicht und sein schönes Französisch, in

dem er sich nach ihrem »ton pêre« erkundigt, sie führe aus ihrer Sammethaut – nun aber hat sie

an ihm wenigstens einen Souffre-douleur, ein schlechtes Äpfelchen gegen den Durst, und mag ihm

Zeug sagen und tun, daß der Onkel den Kopf schüttelt und doch lachen muß. – Es ist

unerquicklich, hier jemanden zu sehen, der die Landesweise nicht aufzufassen versteht, der

Spott ärgert einen, und doch wird man sich dadurch des Entbehrten bewußt und fühlt die

Einförmigkeit wie einen schläfernden Hauch an sich streifen.

Ich bemerke eben, daß ich den Fehler habe, mich in Stimmungen hinein- und hinauszuschreiben,

so hat mich der Paragraph Anna fast rebellisch gemacht gegen das Haus meines guten Vetters,

den ich mir, als einen Bissen pour la bonne bouche, in diesem Abschnitt zuletzt aufgehoben

habe. – Gott segne ihn alle Stunden seines Lebens; ein Unglück kann ihn nur zur Läuterung

treffen, verdient hat er es nie und nimmer. Ich halte es für unmöglich, diesen Mann nicht

liebzuhaben; seine Schwächen selbst sind liebenswürdig. – Denkt euch einen großen stattlichen

Mann, gegen dessen breite Schultern und Brust fast weibliche Hände und der kleinste Fuß

seltsam abstechen, ferner eine sehr hohe, freie Stirn, überaus lichte Augen, eine starke

Adlernase und darunter Mund und Kinn eines Kindes, die weißeste Haut, die je ein Männergesicht

entstellte, und der ganze Kopf voll Kinderlöckchen, aber grauen, und das Ganze von einem

Strome von Milde und gutem Glauben überwallt, daß es schon einen Viertelschelm reizen müßte,

ihn zu betrügen, und doch einem doppelten es fast unmöglich macht; gar adlig sieht der Herr

dabei aus, gnädig und lehnsherrlich, trotz seines grauen Landrocks, von dem er sich selten

trennt, und hat Mut für drei: ich habe ihn bei einem Spaziergange, wo man auf verbotene Wege

geraten war, fast fünf Minuten lang einen wütenden Stier mit seinem Bambusrohr parieren sehen,

bis alle sich hinter Wall und Graben gesichert hatten, und da sah, wie Wilhelm sagt, der mit

seinem Spazierstöckchen zur Hülfe herbeirannte, was er vermochte, der Herr aus wie ein

Leonidas bei Thermopilae; er ist ein leidenschaftlicher Zeitungsleser und Geschichtsfreund und

liebt das gedruckte Blutvergießen – Eugen und Marlborough sind Namen, die seine Augen wie

Laternen leuchten lassen; dennoch bin ich zweifelhaft, ob im vorkommenden Falle der Herr den

Feind tapferlich erschlagen oder sich lieber selbst gefangengeben würde, um keinen Mord auf

seine Seele zu laden. Von Räubern und Mordbrennern träumt er gern, und wenn die Hofhunde

nachts ungewöhnlich anschlagen und gegen irgendeinen dunkeln Winkel vor- und rückwärts fahren,

hat man ihn wohl schon unbegleitet im Schlafrock mit blankem Degen in das verdächtige Verlies

dringen sehen, mit wahrhaft acharnierter Wut, den Schelm zu packen und einzuspunden, den er

dann freilich am andern Morgen hätte laufen lassen. Den Verstand des Herrn habe ich anfangs zu

gering angeschlagen, er hat sein reichliches Anteil an der stillnährenden Poesie dieses

Landes, der den Mangel an eigentlichem Geiste fast ersetzt, dabei ein klares Judizium und

jenes haarfeine Ahnen des Verdächtigen, was aus eigner Reinheit entspringt: sein erstes Urteil

ist immer überraschend richtig, sein zweites schon bedeutend vom Mantel der christlichen Liebe

verdunkelt, und wer ihn heute als erklärter Filou anschauert, ist morgen vielleicht ein

gewandter Mann, den man etwas weniger schlau wünschen möchte. Der Herr liest viel, täglich

mehre Stunden, und immer Belehrendes, Sprachliches, Geschichtliches, zur Abwechselung

Reisebeschreibungen, wo seine naive Phantasie immer den Autor überflügelt und er heimlich auf

jedem Blatte ein neues Eldorado oder die Entdeckung des Paradiesgartens erwartet – überhaupt

kommt mir diese Familie vor wie die Scholastiker des Mittelalters mit ihrem rastlosen,

gründlichen Fleiße und bodenlosen Dämmerungen. Alles bildet an sich und lernt zu bis in die

grauen Haare hinein, und alles glaubt an Hexen, Gespenster und den Ewigen Juden. – Ich habe

schon gesagt, wie stark die Musik hier getrieben wird; die Anregung geht zumeist von der

gnädigen Frau aus, die gern aus den Leuten alles holen möchte, was irgend darin steckt, das

Talent aber vom Herrn, und es ist nichts lieblicher, als ihn abends in der Dämmerung auf dem

Klaviere phantasieren zu hören: ein wahres adliges Idyll, denn eine gewisse Grandezza fährt

immer in diese unschuldige, reizende Musik hinein und Stöße ritterlicher Courage in

Marschtempo – es wird mir nie zu lang zuzuhören, und allerlei Bilder steigen in mir auf aus

Thomsons »Jahreszeiten«, aus den Kreuzzügen. Sonst hat der Herr noch viele Liebhabereien, alle

von der kindlichsten Originalität, zuerst eine lebende Ornithologie (denn der Herr greift

alles wissenschaftlich an); neben seiner Studierstube ist ein Zimmer mit fußhohem Sand und

grünen Tannenbäumchen, die von Zeit zu Zeit erneuert werden. Die immer offenen Fenster sind

mit Draht verwahrt, und darin piept und schwirrt das ganze Sängervolk des Landes, von jeder

Art ein Exemplar, von der Nachtigall bis zur Meise; es ist dem Herrn eine Sache von

Wichtigkeit, die Reihe vollständig zu erhalten: der Tod eines Hänflings ist ihm wie der

Verlust eines Blattes aus einem naturhistorischen Werke. Er hat ein wahres Spionieren nach

jedem seltenen Durchzügler: früh um fünf sehe ich ihn schon über die Brücken schreiten nach

seinen Weidenklippen und Leimstangen, und wieder in der brennenden Mittagshitze, sieben- bis

achtmal in einem Tage; möchte ich ihm zuweilen die Mühe abnehmen und verspreche, die Klippe

wohlgeschlossen zu lassen oder den Vogel mitsamt der Leimstange in mein Schnupftuch gewickelt

fein sauber herzutragen, so gibt er mir wohl nach, um mir keine Schmach anzutun, aber er trabt

nebenher, und es ist, als ob er meinte, meine profane Gegenwart allein könne schon den

erwischten Vogel echappieren machen. Dann ist der Herr ein gründlicher Botanikus und hat

manche schöne Tulpe und Schwertlilie in seinem Garten; das ist ihm aber nicht genug, seine

reiche, innere Poesie verlangt nach dem Wunderbaren, Unerhörten – er möchte gern eine Art

unschuldigen Hexenmeister spielen und ist auf die seltsamsten Einfälle geraten, die sich

mitunter glücklich genug bewähren und für die Wissenschaft nicht ohne Wert sein möchten: so

trägt er mit einem feinen Sammetbürstchen den Blumenstaub sauber von der blauen Lilie zu der

gelben, von der braunen zur rötlichen, und die hieraus entspringenden Spielarten sind sein

höchster Stolz, die er mit einem wahren Prometheus-Ansehen zeigt; die wilden Blumen, seine

geliebten Landsleute, deren Verkanntsein er bejammert, pflegt er nach allen Verschiedenheiten

in netten Beetchen, wie Reihen kleiner Grenadiere. Manchen Schweißtropfen hat der gute Herr

vergossen, wenn er mit seinem kleinen Spaten halbe Tage lang nach einer seltenen Orchis

suchte, und manches in seiner Domäne ist ihm dabei sichtbar geworden, was er sonst nie weder

gesucht noch gefunden hätte; darum lieben die Bauern auch nichts weniger als des Herrn

botanische Exkursionen, bei denen er immer heimlich auf Unerhörtes hofft, z.B. ein

scharlachrotes Vergißmeinnicht oder blaues Maßliebchen, obwohl er als ein verständiger Mann

dies nicht eigentlich glaubt, aber man kann nicht wissen! Die Natur ist wunderbar! Nichts

zeigt die reiche, kindlich frische Phantasie des Herrn deutlicher als sein schon oft genanntes

Liber mirabilis, eine mühsam zusammengetragene Sammlung alter prophetischer Träume und

Gesichte, von denen dieses Land wie mit einem Flor überzogen ist: fast der zehnte Mann ist

hier ein Prophet – ein Vorkieker (Vorschauer, wie man es nennt); wie ich fürchte, einer oder

der andre dem Herrn zulieb. – Seltsam ist’s, daß diese Menschen alle eine körperliche

Ähnlichkeit haben: ein lichtblaues, geisterhaftes Auge, was fast ängstlich zu ertragen ist;

ich meine, so müsse Swedenborg ausgesehen haben; sonst sind sie einfach, häufig beschränkt,

des Betrugs unfähig, in keiner Weise von andern Bauern unterschieden; ich habe mit manchen von

ihnen geredet, und sie gaben mir verständigen Bescheid über Wirtschaft und Witterung, aber

sobald meine Fragen übers Alltägliche hinausgingen, waren sie ihnen unverständlich, und doch

verraten manche dieser sogenannten Prophezeiungen und Gesichte eine großartige

Einbildungskraft, streifen an die Allegorie und gehen überall weit über das Gewöhnliche, so

daß ich gezwungen bin, eine momentane geistige Steigerung anzunehmen – wie Mesmer sie jetzt in

seiner neuen Theorie aufstellt. Der Vetter nun hat alle diese in der Tat merkwürdigen

Träumereien gesammelt und teils aus scholastischem Triebe, teils um sie für alle Zeiten

verständlich zu erhalten, in sehr fließendes Latein übersetzt und sauber in einer buchförmigen

Kapsel verwahrt, und »Liber mirabilis« steht breit auf dem Rücken mit goldenen Lettern; dies

ist sein Schatz und Orakel, bei dem er anfrägt, wenn es in den Welthändeln konfus aussieht,

und was nicht damit übereinstimmt, wird vorläufig mit Kopfschütteln abgefertigt. Guter Vetter,

du hast mir deinen Schatz anvertraut, obwohl ich weiß, daß du lieber ein Mal auf deinem

Gesicht als einen Flecken auf den Blättern erträgst; da liegt er, rot, golden und stattlich

wie ein englischer Stabsoffizier, und ich sitze hier wie ein schlechter Spion und nehme eine

geheime Karte von deiner Person. Gute Nacht! würde ich sagen, aber du hast immer gute Nächte,

denn du bist gesund und reinen Herzens; ich muß früh auf – wir haben sieben Meisenkästen

abzusuchen. –

Drittes Kapitel

Der Morgen war so schön! Nachtigallen rechts und links antworteten sich so schmetternd aus dem

blühenden Gesträuch und Hagen, daß ich um fünf Uhr im engsten Sinne des Wortes davon geweckt

worden bin und es mir unmöglich war, wieder einzuschlafen; so habe ich denn bis zum Frühstück

mich in den Anlagen umhergetrieben und die erste Blüte an des Herrn neuster Iris mit meinem

profanen Auge eher erblickt als der gute Prometheus selbst. Es war in diesen Tagen viel Rede

und Erwartung wegen dieser Blume aus des Herrn Fabrik, die mir nur etwas tiefer blau scheint

als die gewöhnliche Schwertlilie – ich denke aber, er wird sie »atropurpurea« oder

»mirabilissima« taufen; jedenfalls sah die Blume in ihrem Tauperlenschleier reizend genug aus,

und überall hatten die Anlagen in ihrem jungen, von der Sonne vergoldeten Grün, ihrem Tau und

Blütenstaat eine solche beauté du diable, daß ich glaubte, nie etwas Lieblicheres gesehen zu

haben. Der feuchte Boden ist dem Blumenwuchs und den Singvögeln so zuträglich, daß man in der

schönen Jahreszeit von Düften, Farbe und Gesang berauscht vergißt, daß alles fehlt, was man

sonst von schöner Gegend zu fordern pflegt – Gebirg, Strom, Felsen. Ich muß der Seltsamkeit

wegen anmerken, daß mir ganz poetisch zumute ward und ich mich beinah auf den nassen Rasen

gesetzt hätte, wirklich mich auf eine Bank hingoß und, sehr dazu gestimmt, ein paar Gedichte

von Wilhelm hervorzog, die Fräulein Anna mir gestern abend mit verschmitztem Lächeln und ein

wenig Erröten zugesteckt hatte. Irre ich nicht, so ruhen ihre dunkeln Augen zuweilen mit einer

Teilnahme auf dem jungen Dichter, wie Langeweile und etwas Empfindsamkeit sie leicht auf dem

Lande erzeugen. Der schüchterne Junge scheint indessen nichts hiervon zu ahnen, und ich bin

ungewiß, ob eine etwaige Entdeckung dem Fräulein zum Schaden oder Vorteil gereichen würde, da

seine blauen, jungfräulichen Augen ganz anderes zu suchen scheinen als so rheinisches Blut.

Also ein Dichter ist der Wilhelm! Ich hätte es mir denken können nach seinen verklärten

Blicken, wenn wir am Weiher stehen, und die Schwäne durch den glitzernden Sonnenspiegel

segeln, wo er dann wirklich schön aussieht, die übrige Zeit aber unbehülflich und

verschüchtert, wie es einem jungen Schreiber zukömmt, den die Güte des Herrn höchst

überflüssig seinem Onkel zugesellt hat, nur um das arme Blut in freie Kost und Wohnung zu

bringen. Die Verse sind auf schlechtes Konzeptpapier geschrieben, häufig durchstrichen und

gewiß nicht für das Auge des Fräuleins bestimmt; das eine schien sie mir mit einiger Ziererei

vorenthalten zu wollen – dieses wird zuerst gelesen:

(Hier folgt »Das Mädchen am Bache«.)

Ei, ei, Wilhelmus, was sind das für gefährliche Gedanken, paßt sich dergleichen für einen

armen Studenten, der erst in zehn Jahren vielleicht lieben darf? Nun zum zweiten:

(»Der Knabe im Rohr«.)

Der junge Mensch hat wirklich Talent, und in einer günstigern Umgebung… doch nein – bleib in

deiner Heide, laß deine Phantasie ihre Fasern tief in deine Weiher senken und wie eine

geheimnisvolle Wasserlilie darüber schaukeln, – sei ein Ganzes, ob nur ein Traum, ein

halbverstandenes Märchen – es ist immer mehr wert als die nüchterne Frucht vom Baum der

Erkenntnis. – Beim Heimzuge fand ich seinen Onkel, den Rentmeister Friese, in Hemdärmeln am

Brunnen vor dem Nebengebäude, eifrig bemüht, seine Stubenfenster mit Hülfe eines Strohwisches

und endloser Wassergüsse zu säubern; seine Glatze glänzte wie frischer Speck, und ich hörte

ihn schon auf dreißig Schritt stöhnen wie ein dämpfiges Pferd. Er sah mich nicht, und so

konnte ich den wunderlichen Mann mit Muße in seinem Negligé betrachten, das an allen Stellen,

die der Rock sonst in Verborgenheit bringt, mit den vielfarbigsten Lappen verziert war und ihm

das Ansehen einer Musterkarte gab; es ist mir selten ein harpagonähnlicheres Gesicht

vorgekommen! Spitz wie ein Schermesser, mit Lippen wie Zwirnfäden, die fast immer geschlossen

sind, als fürchteten sie, etwas Brauchbares entwischen zu lassen, und nur, wenn er gereizt

wird, Witzfunken sprühen wie ein Kater, den man gegen den Strich streichelt. Dennoch ist

Friese ein redlicher Mann, dem jeder Groschen aus seines Herrn Tasche wie ein Blutstropfen vom

Herzen fällt, aber ein Spekulant sondergleichen, der mit allem, was als unbrauchbar verdammt

ist: Lumpen, Knochen, verlöschten Kohlen, rostigen Nägeln, den weißen Blättern an verworfenen

Briefen, Handel treibt und sich im Verlauf von dreißig Jahren ein hübsches, rundes Sümmchen

aus dem Kehricht gewühlt haben soll. Seine Kammer ist niemanden zugänglich als seinen

Handelsfreunden und dem Wilhelm; er fegt sie selber, macht sein Bett selber, die reine Wäsche

muß ihm ans Türschloß gehängt werden. – Nitimur in vetitum, ich wagte einen Sturm, nahte mich

höflich und bat um ein paar geschnittene Federn, – er wurde doch blutrot und zog sich wie ein

Krebs der Tür zu, um seine Hinterseite zu verbergen, – ich ihm nach und ließ ihm nur so weit

den Vortritt, daß ihm gelingen konnte, in seinen grauen Flaus zu fahren, dann stand ich vor

ihm, er sah mich an mit einem Blick des Entsetzens, wie weiland der Hohepriester ihn auf den

Tempelschänder, der ins Allerheiligste drang, mag geschleudert haben, deckte hastig eine

baumwollene Schlafmütze über ein Etwas in der babylonischen Verwirrung seines Tisches, suchte

nach einem Federbunde, dann, in verdrießlicher Eile, nach einem Federmesser – es war nicht da

– er mußte sich entschließen, in einen Alkoven zu treten, ich warf schnell meine Augen umher –

das ganze, weite Zimmer war wie mit Maulwurfshügeln bedeckt, durch die ein Labyrinth von

Pfaden führte, – saubere Knöchelchen für die Drechsler, Lumpen für die Papiermühle, altes

Eisen, auf dem Tische leere Nadelbriefe, schon zur Hälfte wieder gefüllt mit Stecknadeln,

denen man es ansah, daß sie gradegebogen und neu angeschliffen wurden; ich hörte ihn einen

Schrank öffnen und hob leise den Zipfel der blauen Mütze, – beschriebene Hefte in den

verschiedensten Formaten, offenbar Memoiren: »Heute hat der lutherische Herr wieder eine ganze

Flasche Franzwein getrunken, das Faß à 48 Taler ist fast leer.« Ich stand steif wie eine

Schildwacht, denn Herr Friese trat herein, und machte mich dann bald davon, so triumphierend

wie ein begossener Hund, – guter Vetter, wird dir deine Freundlichkeit so schändlich

kontrolliert! Ich habe den Friese nie leiden können, obendrein, ist er ein alter Narr, der

sich von der Zofe Katharina, einem schlauen, lustigen Mädchen und der gnädigen Frau Liebling,

aufs albernste hänseln läßt. Diese junge Rheinländerin stiftet überhaupt einen greulichen

Brand im Schlosse: drei westfälische Herzen seufzen ihretwegen wie Öfen; zuerst des Herrn

geliebter Johann (von ihm nur Jan Fiedel genannt), der mit ihm eigens zu seinem Kammerdiener

erzogen worden ist, recht artig die Geige mit dem Herrn Everwin streicht und in seinen

graumelierten, mit Talg glattgestrichenen Haarresten, die in einem ausgemergelten Zöpfchen

enden, einem geschundenen Hasen gleicht, dann ein paderbornischer Schlingel, derselbe, der

mich zuerst am Wagen begrüßte, ein nichtsnutziger Bursch, der sich durch tausend Foppereien an

seinen Gesellen für die Langeweile, die sie ihm machen, schadlos hält. Den Herrn beschwätzt er

zu allem, wie er will, und ist ihm erst vor kurzem etwas fatal geworden, seit er der Köchin,

einer armen, gichtischen Person, drei bunte Seidenfäden als sympathetisches Mittel gab mit dem

Zusatze, es wirke nur, wenn sie täglich einen Korb voll Holz vor des Herrn Zimmer trage (bis

dahin sein Amt). Der Spaß kam aus, und der Herr war sehr ungehalten über diese Grausamkeit

seines Johanns; doch meine ich, daß er ihn seitdem auch sonst mit mißtrauischen Blicken

betrachtet, »denn«, wie der Herr sagt, »dergleichen Dinge sind nicht ganz zu leugnen, man

trifft im Paderbörnischen seltsame Beispiele an […«]