Das Wirtshaus zur Glocke.

 

Jetzt lassen wir Fräulein Danglars und ihre Freundin auf der Straße nach Brüssel dahinfahren und kehren zu dem armen Andrea Cavalcanti zurück, der auf eine so unselige Weise mitten im Aufschwünge seines Glückes ausgehalten wurde. Er war trotz seines noch sehr wenig vorgerückten Alters ein äußerst gewandter und gescheiter Junge. Wir sahen ihn bei dem ersten Geräusche im Salon sich der Tür nähern, zwei Zimmer durchschreiten und endlich verschwinden. In einem von diesen Zimmern war der Brautschatz der Verlobten ausgestellt, Schmuckkästchen mit Diamanten, Kaschmirschale, Brüsseler Spitzen, englische Schleier, kurz alle jene lockenden Dinge, deren Name schon das Herz der jungen Mädchen hüpfen läßt.

 

Beim Durchschreiten dieses Zimmers raffte Andrea die wertvollsten Schmuckstücke an sich und fühlte sich nun, mit diesem Reisegeld versehen, um so leichter im stande, durch das Fenster zu springen und den Händen der Gendarmen zu entschlüpfen. Groß und schlank, dabei muskulös wie ein Spartaner, lief er eine Viertelstunde lang, ohne auf die Richtung zu achten, einzig und allein in der Absicht, sich von dem gefährlichen Orte zu entfernen, wo man ihn hatte festnehmen wollen.

 

Bin ich verloren? fragte er sich. Nein, wenn ich mehr hinter mich zu bringen vermag als meine Feinde. Meine Rettung ist folglich eine einfache Meilenfrage geworden.

 

In diesem Augenblick sah er einen Mietswagen vor sich, dessen schweigsamer Kutscher eine Pfeife rauchte.

 

He! Freund, rief Benedetto, ist Ihr Pferd müde?

 

Müde! Jawohl! es hat den ganzen lieben langen Tag nichts getan. Vier elende Fahrten machen mit Trinkgeld sieben Franken, und ich muß dem Besitzer zehn geben!

 

Wollen Sie zu den sieben Franken noch zwanzig verdienen?

 

Mit Vergnügen. Was muß ich tun?

 

Etwas sehr Leichtes, wenn Ihr Pferd nicht zu müde ist.

 

Ich sage Ihnen, es wird gehen, wie ein Zephir, ich brauche nur zu wissen, in welcher Richtung.

 

In der Richtung von Louvres. Es handelt sich einfach darum, einen von meinen Freunden wieder einzuholen, mit dem ich morgen bei Chapelle-en-Serval jagen soll. Wollen Sie es versuchen?

 

Mit größtem Vergnügen.

 

Wenn wir ihn nicht von hier bis Bourget einholen, so bekommen Sie zwanzig Franken, wenn wir ihn bis Louvres nicht einholen, dreißig.

 

Und wenn wir ihn einholen?

 

Vierzig! sagte Andrea, der einen Augenblick gezögert hatte, dann aber bedachte, daß er dabei nichts wage.

 

Gut! rief der Kutscher. Also vorwärts!

 

Andrea stieg ein, und der Kutscher fuhr schnell darauf los. Bald wurde sein Wagen von einer Kalesche überholt, die zwei Postpferde im Galopp fortzogen.

 

Ah! sagte Cavalcanti seufzend zu sich selbst, wenn ich diese Kalesche, diese guten Pferde und besonders den Paß hätte, dessen man bedurfte, um sie zu bekommen!

 

Diese Kalesche war aber die, welche Fräulein Danglars und Fräulein d’Armilly fortführte.

 

Als sie endlich in Louvres ankamen, sagte Andrea: Ich sehe jetzt offenbar, daß ich meinen Freund nicht einhole. Hier sind dreißig Franken, ich bleibe im Roten Rosse über Nacht und nehme in dem ersten Wagen, den ich finde, einen Platz.

 

Andrea legte dem Kutscher sechs Fünffrankenstücke in die Hand und sprang leicht auf das Straßenpflaster.

 

Der Kutscher steckte freudig die Summe in die Tasche und fuhr im Schritt wieder nach Paris zurück. Andrea stellte sich, als ob er nach dem Gasthofe zum Roten Rosse ginge, nachdem er aber einen Augenblick an der Tür stehen geblieben war und das Geräusch des Wagens in der Ferne sich hatte verlieren hören, setzte er seinen Weg fort, und machte mit gymnastischen Schritten einen Lauf von zwei Meilen. Hier – er mußte ganz nahe bei Chapelle-en-Serval sein – ruhte er aus, um einen Entschluß zu fassen und einen Plan zu entwerfen.

 

Ohne Paß die Eilpost oder die gewöhnliche Post zu nehmen, war unmöglich. Daß er in dem Departement der Oise, einem der bestbewachten Frankreichs, nicht bleiben konnte, war einem in Kriminalsachen so erfahrenen Menschen wie Andrea ebenfalls klar. Er setzte sich daher an den Rand eines Grabens, ließ seinen Kopf in die Hände fallen und dachte nach. Zehn Minuten nachher hob er den Kopf wieder empor; sein Entschluß war gefaßt.

 

Er bedeckte eine ganze Seite des Paletots, den er im Vorzimmer vom Haken zu nehmen und über seinen Ballstaat zu knöpfen Zeit gehabt hatte, mit Staub, ging nach Chapelle-en-Serval und klopfte kühn an die Tür des einzigen Wirtshauses der Gegend. Der Wirt öffnete.

 

Mein Freund, sagte Andrea, ich wollte von Mortefontaine nach Senlis reiten, als mein Pferd einen Seitensprung machte und mich abschleuderte. Ich muß notwendig noch heute nacht nach Compiegne, wenn ich nicht meiner Familie die größte Unruhe verursachen soll. Können Sie mir nicht ein Pferd leihen?

 

Wohl oder übel hat ein Wirt immer ein Pferd. Der Wirt rief den Hausknecht, befahl, den Schimmel zu satteln, und weckte seinen siebenjährigen Sohn, der hinter dem Herrn aufsitzen sollte.

 

Andrea gab dem Wirt 20 Franken und ließ, während er sie aus der Tasche zog, absichtlich eine Visitenkarte mit dem Namen eines vornehmen Bekannten auf den Boden fallen, um den Wirt zu dem Glauben zu bringen, er habe sein Pferd an diesen Herrn vermietet.

 

Der Schimmel ging nicht schnell, doch einen gleichmäßigen Schritt; in drei und einer halben Stunde war Andrea in Compiegne, es schlug vier, als er auf den Marktplatz kam. Hier entließ er das Kind und wandte sich zu dem Wirtshaus zur Glocke, wo er schon früher bei Jagdausflügen eingekehrt war; denn er bedachte ganz richtig, daß er drei bis vier Stunden vor sich habe, und daß es das beste sei, sich durch einen guten Schlaf und ein gutes Mahl gegen die künftigen Anstrengungen zu wappnen.

 

Mein Freund, sagte Andrea zu dem Kellner, der öffnete, ich komme von Saint-Jean-au-Bois, wo ich zu Mittag gespeist habe, ich wollte den Wagen nehmen, der um Mitternacht durchfährt, verirrte mich aber und laufe seit vier Stunden im Walde umher. Geben Sie mir eines von den hübschen Zimmern, die nach dem Hofe gehen, und bringen Sie mir ein kaltes Huhn nebst einer Flasche Bordeaux.

 

Andrea sprach mit der vollkommensten Ruhe; er hatte die Zigarre im Mund und die Hände in den Taschen seines Paletots, seine Kleider waren elegant, sein Bart frisch rasiert; er sah in der Tat aus wie ein verspäteter Edelmann aus der Nachbarschaft.

 

Während der ahnungslose Kellner sein Zimmer bereitete, stand die Wirtin auf. Andrea empfing sie mit dem reizendsten Lächeln; er fragte sie, ob er nicht Nr. 3 haben könnte, das er bei seinem letzten Aufenthalte in Compiegne gehabt habe. Leider war Nr. 3 von einem jungen Manne besetzt, der mit seiner Schwester reiste.

 

Andrea schien in Verzweiflung, er tröstete sich nur, als ihm die Wirtin versicherte, Nr. 7 habe ganz dieselbe Lage, wie Nr. 3. In seinem inzwischen vorbereiteten Zimmer fand Andrea ein zartes Huhn, eine Flasche alten Wein und ein helles knisterndes Feuer. Er speiste mit so gutem Appetit, als ob nichts vorgefallen wäre. Dann legte er sich nieder und versank bald in einen vortrefflichen Schlaf.

 

Andreas Plan war folgender: Mit Tagesanbruch stand er auf, verließ das Wirtshaus, erreichte den Wald, erkaufte, unter dem Vorwand, Malerstudien zu machen, die Gastfreundschaft eines Bauern und verschaffte sich den Anzug eines Holzhauers und eine Axt. Mit künstlich gebräunten Händen und Gesichtszügen wollte er, nur bei Nacht marschierend und tagsüber sich verbergend, von Wald zu Wald zur nächsten Grenze gelangen und sich dabei bewohnten Orten nur nähern, um von Zeit zu Zeit ein Stück Brot zu kaufen.

 

War die Grenze überschritten, so machte Andrea seine Diamanten zu Geld und war mit Einschluß von zehn Banknoten, die er für den Fall der Not immer bei sich trug, abermals im Besitze von 50 000 Franken. Dabei rechnete er darauf, die Familie Danglars werde alles aufbieten, den Lärm über die ihr peinliche Geschichte zu ersticken.

 

Um früher aufzuwachen hatte Andrea die Läden nicht geschlossen; er begnügte sich, den Riegel an der Tür vorzuschieben und auf seinem Nachttische ein gewisses sehr scharfes und spitziges Messer von vortrefflich gehärtetem Stahl bereit zu legen.

 

Als er nach langem, erquickendem Schlafe erwachte, war sein erster Gedanke, er habe zu lange geruht. Er sprang aus dem Bette, lief ans Fenster und sah einen Gendarm durch den Hof gehen.

 

Ein Gendarm ist schon für einen harmlosen Menschen eine bemerkenswerte Erscheinung, für jedes furchtsame Gewissen ist seine Uniform aber ein entsetzliches Schreckbild.

 

Warum ein Gendarm? fragte sich Andrea.

 

Dann sagte er sich plötzlich: Ein Gendarm in einem Gasthof ist nichts Auffälliges; ich will mich also nicht wundern, sondern rasch ankleiden; ich warte, bis er weggegangen ist, und mache mich sodann aus dem Staube. Bald darauf trat er abermals ans Fenster und hob zum zweiten Male den Musselinvorhang auf.

 

Der erste Gendarm war nicht nur nicht weggegangen, sondern der junge Mann erblickte eine zweite Uniform, unten an der Treppe, der einzigen, auf der er hinabgehen konnte, während ein dritter Gendarm, zu Pferde und den Karabiner in der Faust, als Schildwache am Hoftore hielt.

 

Teufel! Man sucht mich, war Andreas erster Gedanke.

 

Blässe überströmte seine Stirn, und er schaute ängstlich umher. Sein Zimmer hatte nur einen Ausgang nach der allen Blicken ausgesetzten äußeren Galerie.

 

Ich bin verloren! war sein zweiter Gedanke.

 

Für einen Menschen in Andreas Lage bedeutete Verhaftung: Schwurgericht, Verurteilung, Tod, ohne Barmherzigkeit.

 

Einen Augenblick preßte er krampfhaft seinen Kopf zwischen seine Hände. Während dieses Augenblicks wäre er vor Angst beinahe verrückt geworden. Doch bald sprang aus der Welt der seinen Kopf durchkreuzenden Gedanken ein Hoffnungsstrahl hervor; ein bleiches Lächeln trat auf seine entfärbten Lippen und auf seine zusammengezogenen Wangen. Er schaute umher: die Gegenstände, die er suchte, fanden sich auf dem Marmor eines Sekretärs, nämlich Feder, Tinte und Papier. Er tauchte die Feder in die Tinte und schrieb mit fester Hand folgende Zeilen aus ein Blatt Papier:

 

Ich habe kein Geld, um zu bezahlen, bin aber kein unehrlicher Mensch; ich lasse als Unterpfand diese Nadel zurück, die zehnmal mehr wert ist, als meine Zeche. Aus Scham habe ich mich schon mit Tagesanbruch davongemacht.

 

Er nahm seine Nadel aus seiner Halsbinde und legte sie auf das Papier. Hernach zog er den Riegel zurück, öffnete die Tür ein wenig, als ob er sie beim Weggehen offen gelassen hätte, schlüpfte in den Kamin wie ein Mensch, der an solche gymnastische Übungen gewöhnt ist, verwischte mit seinen Füßen die Spur seiner Tritte in der Asche und fing an, in der gebogenen Röhre, die ihm noch den einzigen Weg der Rettung bot, hinaufzuklettern.

 

In diesem Augenblick kam der erste Gendarm, der Andrea aufgefallen war, die Treppe herauf; der Polizeikommissar ging ihm voran, und unten an der Treppe blieb der zweite Gendarm stehen.

 

Welchem Umstände hatte Andrea diesen frühen Polizeibesuch zu verdanken? Mit Tagesanbruch spielten die Telegraphen in allen Richtungen und mahnten die Polizei, eifrig nach Caderousses Mörder zu forschen.

 

Compiegne ist eine königliche Residenz, eine Jagdstadt, eine Garnisonstadt und im Überfluß mit Behörden, Gendarmen und Polizeikommissaren versehen; die Nachsuchungen begannen also sogleich nach Ankunft des telegraphischen Befehls, und da das Gasthaus zur Glocke das erste Gasthaus der Stadt ist, so machte man natürlich hier den Anfang. Die Schildwache, die dem Gasthofe gegenüber vor dem Rathause stand, erinnerte sich, einige Minuten nach vier Uhr einen jungen Mann auf einem Schimmel mit einem Bauernknaben gesehen zu haben, der Mann sei auf dem Platze abgestiegen, habe den Bauernknaben und das Pferd entlassen, an den Gasthof geklopft und dort Einlaß gefunden.

 

Auf Grund dieser Angaben gingen der Polizeikommissar, der Gendarm und ein Brigadier auf Andreas Tür zu.

 

Oh! oh! rief der Brigadier, ein in Gaunerstreichen wohl erfahrener alter Fuchs, eine offene Tür ist ein schlechtes Zeichen! Ich wollte lieber, sie wäre dreifach verriegelt. Der Vogel ist ausgeflogen.

 

Der Zettel auf dem Tische und die wertvolle Nadel schienen die Annahme der Flucht zu bestätigen.

 

Der Brigadier schaute umher, senkte seinen Blick unter das Bett, öffnete die Vorhänge, die Schränke und stand endlich vor dem Kamin still.

 

Hier war die Möglichkeit eines Ausgangs gegeben und darum, obwohl Andreas Vorsicht jede Spur verwischt hatte, doch sorgfältige Nachforschung geboten.

 

Der Brigadier ließ sich ein Reisbündel und Stroh bringen und legte Feuer daran.

 

Das Feuer ließ die Backsteine krachen; eine undurchsichtige Rauchsäule drängte sich durch die Röhren und stieg zum Himmel empor, aber einen Erfolg hatte das Manöver nicht.

 

Seit seiner Jugend im Kampfe mit der Gesellschaft, stand Andrea einem Gendarmen an List nicht nach. Er hatte den Brand vorhergesehen, war auf das Dach geklettert und kauerte sich hinter den Schornstein.

 

Einen Augenblick hoffte er, gerettet zu sein, denn er hörte den Brigadier den Gendarmen zurufen: Er ist nicht mehr da! Doch als er behutsam den Hals ausstreckte, sah er, daß die Gendarmen, statt sich zurückzuziehen, wie es bei einer solchen Ankündigung natürlich gewesen wäre, im Gegenteil ihre Aufmerksamkeit verdoppelten.

 

Er schaute sich nun ebenfalls um: das Rathaus, ein kolossales Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert, erhob sich wie ein düsterer Wall zu seiner Rechten, und durch die Öffnungen des Baudenkmals konnte man in alle Winkel und Ecken des Daches schauen, wie man von einem Berge herab ins Tal schaut.

 

Andrea sagte sich, er werde auf der Stelle den Kopf des Brigadiers an einer von den Öffnungen erscheinen sehen. War er einmal entdeckt, so war er auch verloren – eine Jagd auf den Dächern bot ihm keine Hoffnung auf Entkommen. Er beschloß also, nicht durch denselben Kamin, sondern durch einen ähnlichen hinabzusteigen.

 

Er suchte mit den Augen einen Kamin, aus dem er keinen Rauch hervorkommen sah, erreichte ihn, über das Dach hinkriechend, und verschwand durch seine Öffnung, ohne wahrgenommen worden zu sein.

 

In derselben Sekunde öffnete sich ein kleines Fenster des Rathauses und ließ den Kopf des Gendarmerie-Brigadiers erscheinen. Einen Augenblick blieb dieser Kopf unbeweglich, wie eines von den steinernen Reliefs, welche das Gebäude zieren; dann verschwand er wieder.

 

Kalt und ruhig wie das Gesetz, dessen Vertreter er war, ging der Brigadier, ohne auf die tausend Fragen der versammelten Menge zu antworten, über den Platz und kehrte in den Gasthof zurück.

 

Nun, wie steht es? fragten die Gendarmen.

 

Meine Söhne, antwortete der Brigadier, der Räuber muß sich wirklich sehr frühzeitig heute morgen aus dem Staube gemacht haben; doch wir schicken Leute auf die Straße von Villers-Cotterets und Noyon und durchstreifen den Wald, wo wir ihn zweifellos finden werden.

 

Der ehrenwerte Mann hatte kaum dieses Wort gesprochen, als ein langer Schreckensruf, begleitet von einem heftigen Klingeln einer Glocke, durch das Haus erscholl.

 

Oh! oh! was ist das? rief der Brigadier. Das ist ein Reisender, der große Eile zu haben scheint, sprach der Wirt. Wo läutet man? – In Nummer 3.

 

Laufe dahin, Kellner!

 

In diesem Augenblick verdoppelten sich das Geschrei und der Lärm der Glocke. Der Kellner wollte hinlaufen.

 

Nein, nein! sagte der Brigadier, den dienstbaren Geist zurückhaltend; es kommt mir vor, als wollte der, welcher läutet, etwas anderes, als einen Kellner; wir wollen ihm einen Gendarmen schicken. Wer wohnt in Nummer 3?

 

Der kleine junge Mann, der gestern abend mit seiner Schwester angekommen ist und ein Zimmer mit zwei Betten verlangt hat.

 

Die Glocke erscholl zum dritten Male mit angstvollen Tönen.

 

Herbei! Herr Kommissar! rief der Brigadier, folgen Sie mir und beschleunigen Sie Ihre Schritte.

 

Warten Sie einen Augenblick, sagte der Wirt; zu Nr. 3 führen zwei Treppen, eine äußere und eine innere.

 

Gut! sagte der Brigadier, ich wähle die innere, das ist mein Departement. Sind die Karabiner geladen?

 

Ja, Brigadier.

 

Gut! so wachen Sie an der äußern Treppe, und, wenn er fliehen will, geben Sie Feuer auf ihn! Es ist ein großer Verbrecher, wie der Telegraph sagt.

 

Mit dem Polizeikommissar verschwand der Brigadier auf der innern Treppe.

 

Andrea war sehr geschickt bis auf zwei Drittel des Kamines hinabgestiegen; doch hier war sein Fuß ausgeglitten, und er war mit größerer Schnelligkeit und besonders mit mehr Geräusch, als ihm lieb war, hinabgerutscht. Wäre das Zimmer verlassen gewesen, so hätte dies nichts zu bedeuten gehabt, doch zum Unglück war es bewohnt.

 

 

Zwei Frauen, die in einem Bett schliefen, wurden bei dem Geräusch wach. Ihre Blicke richteten sich nach dem Punkte, von wo der Lärm kam, und sie sahen durch die Öffnung des Kamins einen Menschen erscheinen.

 

Eine von den beiden Frauen, eine Blonde, war es gewesen, die den furchtbaren Schrei ausstieß, von dem das ganze Haus widerhallte, während die andere nach der Klingelschnur stürzte und mit aller Gewalt daran zog.

 

Andrea hatte, wie man sieht, Unglück.

 

Barmherzigkeit! rief er, bleich, verwirrt, ohne die Personen anzuschauen, an die er sich wandte, rufen Sie nicht, retten Sie mich! Ich will Ihnen nichts Böses tun.

 

Andrea, der Mörder! rief eine von den jungen Frauen.

 

Eugenie, Fräulein Danglars! murmelte Cavalcanti, vom Schrecken zum höchsten Erstaunen übergehend.

 

Zu Hilfe! zu Hilfe! schrie Fräulein d’Armilly, die Glocke aus Eugenies Händen nehmend und noch kräftiger läutend, als ihre Gefährtin.

 

Retten Sie mich, man verfolgt mich! sagte Andrea, die Hände faltend; Barmherzigkeit, Gnade, liefern Sie mich nicht aus!

 

Es ist zu spät, man kommt herauf, erwiderte Eugenie.

 

So verbergen Sie mich irgendwo! Sie sagen, Sie haben ohne Grund Furcht gehabt; Sie wenden den Verdacht ab und retten mir das Leben.

 

Gut! es sei, sagte Eugenie; kehren Sie in den Kamin zurück, durch den Sie gekommen sind, Unglücklicher; gehen Sie und wir werden nichts sagen.

 

Da ist er! Da ist er! rief eine Stimme auf dem Vorplatz, ich sehe ihn!

 

Der Brigadier hatte wirklich sein Auge an das Schlüsselloch gedrückt und gesehen, wie Andrea flehend vor den Frauen stand.

 

Ein heftiger Kolbenschlag sprengte das Schloß, zwei weitere Schläge sprengten die Riegel; die Tür fiel zerschmettert nach innen.

 

Andrea lief an die andere Tür, die nach der Galerie des Hofes ging, und öffnete sie, um hinauszustürzen.

 

Die beiden Gendarmen standen mit ihren Karabinern da und schlugen auf ihn an.

 

Andrea blieb stehen; bleich, mit etwas zurückgeneigtem Körper hielt er sein unnützes Messer in der krampfhaft zusammengepreßten Hand.

 

Fliehen Sie doch! rief Fräulein d’Armilly, in deren Herzen das Mitleid in demselben Maße zunahm, in dem der Schreck daraus verschwand, fliehen Sie doch!

 

Oder töten Sie sich! sagte Eugenie mit dem Tone und der Gebärde einer jener Vestalinnen, die im Zirkus dem siegreichen Gladiator mit dem Daumen befahlen, seinem niedergeworfenen Gegner das Lebenslicht vollends auszublasen.

 

Andrea bebte und schaute das Mädchen mit einem verächtlichen Lächeln an, welches bewies, daß sein verdorbenes Wesen diesen Appell an die Ehre nicht verstand.

 

Der Brigadier trat mit dem Säbel in der Faust auf ihn zu.

 

Vorwärts, sagte Cavalcanti, stecken Sie wieder ein, mein braver Mann! Es ist nicht der Mühe wert, so viel Lärm zu machen, da ich mich selbst ergebe.

 

Dabei streckte er seine Hände aus, um Schellen daran legen zu lassen.

 

Die jungen Mädchen schauten voll Schrecken die häßliche Metamorphose an, die vor ihren Augen vorging: der Mann aus der vornehmen Welt legte seine Hülle ab und wurde wieder der Bagnoflüchtling.

 

Andrea wandte sich gegen sie um und fragte mit unverschämtem Lächeln: Haben Sie keinen Auftrag an Ihren Herrn Vater, Fräulein Eugenie, denn aller Wahrscheinlichkeit kehre ich nach Paris zurück.

 

Eugenie verbarg ihren Kopf in ihren beiden Händen.

 

Oh! oh! sagte Andrea, Sic brauchen sich nicht zu schämen; ich bin Ihnen nicht böse, daß Sie mir mit der Post nachgeeilt sind; war ich nicht so gut wie Ihr Gatte?

 

Hierauf ging Andrea hinaus und ließ die Flüchtlinge der Scham und dem Spott der Menge preisgegeben zurück.

 

Eine Stunde nachher stiegen beide in ihren Frauenkleidern in die Reisekalesche. Man hatte das Tor des Gasthofes geschlossen, um sie den Blicken der Leute möglichst zu entziehen; doch sie mußten nichtsdestoweniger durch eine doppelte Hecke von Neugierigen mit flammenden Augen und murmelnden Lippen fahren. Eugenie ließ die Vorhänge herab, aber wenn sie nichts sah, so hörte sie doch, und das laute Hohngelächter drang bis zu ihr.

 

Oh! warum ist die Welt nicht eine Wüste? rief sie, sich an die Brust des Fräuleins d’Armilly werfend, während ihre Augen von Wut funkelten.

 

Am andern Tage stiegen sie im Hotel de Flandres in Brüssel ab. – Andrea war am Abend vorher in die Liste der Gefangenen der Conciergerie eingetragen worden.