Während alle diese Ereignisse die einst unzertrennlichen vier Musketiere auseinanderbrachten, weilte Athos, Rudolfs und Grimauds beraubt, allein in Blois, und die Einsamkeit rieb seine Kräfte auf und machte ihn in kurzer Zeit zum Greise. Schmerzen und Beschwerden, die er früher nie gekannt, stellten sich nun plötzlich ein, Schwermut, Gram und Verzweiflung überkamen ihn immer unwiderstehlicher. Der Graf de la Fère, der Mann des Krieges, war bei allem Ungemach, das er erlitten, bei allen Gefahren, die er bestanden, bis in sein 62. Lebensjahr hinein ein Jüngling geblieben. Als er seinen Sohn verloren, war er in acht Tagen ein alter Mann geworden.

Noch immer schön, obwohl gebeugt, noch immer edel, obwohl tieftraurig, sanftmütig und wankend unter seinen erbleichenden Haaren, schritt er allein, ein Bild der Verlassenheit, im Park seiner Besitzung auf und ab. Er bestieg kein Pferd mehr, er nahm keinen Degen mehr zur Hand, er ritt nicht mehr auf die Jagd – er machte nur noch täglich einen kurzen Spaziergang, sonst saß er still und regungslos in seinem Stuhle oder lag wohl gar im Bett. Seine Diener erschraken, wenn sie ihn so teilnahmlos sahen; sie fürchteten alles Ernstes für seinen Verstand, und als er gar anfing, tagsüber mitten über seinen Träumereien einzuschlafen, da holten sie einen Arzt. Der aber konnte nicht helfen; er erfuhr nicht einmal die Ursache dieser Umwandlung des Grafen.

»Herr,« sprach der wackere Mann schließlich, um einen letzten Versuch zu machen, den Kranken zum Reden zu bringen, »Sie sind ein guter Christ. Würden Sie sich das Leben nehmen?« – »Niemals, Doktor,« antwortete Athos. – »Nun denn, Sie tun es, wenn Sie in diesem Zustande bleiben,« sagte der Doktor, »das ist Selbstmord. Also werden Sie gesund.« – »Ich bin ja gar nicht krank,« entgegnete de la Fère. »Ich habe mich nie so wohl gefühlt, ich liebe den Himmel, die Sonne und meine Blumen wie nie zuvor.«

»Aber Sie nähren einen verborgenen Gram!« – »Verborgen? Nicht doch! Mein Sohn ist in der Ferne, das ist mein Kummer, daraus mache ich gar kein Hehl.«

»Aber Ihr Sohn lebt, ist rüstig und hat eine glänzende Zukunft vor sich,« rief der Arzt. »Leben Sie für ihn!« – »O, seien Sie unbesorgt, solange Rudolf noch nicht tot ist, werde ich am Leben bleiben.« – »Wie meinen Sie das?« – »Ganz einfach. Ich lasse das Leben sozusagen in der Schwebe, Doktor. Verlangen Sie doch von einer Lampe nicht, daß sie brenne, wenn kein Funke an den Docht gelegt wird. Verlangen Sie nicht von mir, daß ich ein Leben voll Licht und Geräusch führe, solange mein Sohn fort ist. Ich vegetiere, ich halte mich bereit, ich warte. Ich bin wie ein Soldat, der auf seine Einschiffung wartet; er gehört noch nicht dem Fahrzeug an, das ihn aufs Meer tragen soll, doch auch nicht mehr ganz der Erde, von der er scheiden soll. Sein Gepäck ist bereit – er schaut nach dem fernen Horizont und wartet. So steht es mit mir. Sobald der Ruf erschallt, breche ich auf. Von wannen wird dieser Ruf ausgehen? Vom Leben oder vom Tode?«

Der Doktor kannte diese feste, eiserne Seele, und da er wußte, daß Arzeneien ein Unding wären, so ging er fort, nachdem er der Dienerschaft empfohlen hatte, ihren Herrn keinen Augenblick allein zu lassen. In der Nacht nach dem Besuch des Doktors träumte Athos von Rudolf: Der junge Mann kleidete sich in seinem Zelt an, um auf eine Expedition zu gehen, mit der Herr von Beaufort ihn betraut hatte. Er war traurig und schnallte sich langsam das Schwert um. – »Was hast du?« fragte ihn sein Vater zärtlich. – »Ich bin betrübt, daß Porthos gestorben ist,« antwortete Rudolf. »Das schmerzt mich hier ebenso tief, wie es Sie dort schmerzt.« – Athos erwachte; der Tag brach an, und man meldete ihm alsbald, ein Brief aus Spanien sei angekommen. – Er erkannte die Schrift d’Herblays. »Aramis schreibt mir,« sagte er, öffnete den Umschlag und las.

»Porthos ist tot!« rief er nach den ersten Zeilen. »O, Rudolf, daran erkenne ich, du hältst dein Versprechen, du gibst mir Nachricht!« – Und von kaltem Schweiß übergossen, sank er ohnmächtig auf sein Bett.

Als er zu sich kam, schämte er sich fast, daß ein solches Traumgesicht ihn so erschüttert habe. Er vollendete die Lesung des Briefes, der ihm von den Vorgängen auf Belle-Ile Kunde gab, und beschloß, nach Pierrefonds zu reisen und dann mit d’Artagnan nach der Insel zu fahren, wo er die Stelle besichtigen wollte, an welcher der treue, gute Porthos den Tod gefunden. Aber kaum hatten seine Diener ihn angekleidet, froh, ihn zu einer Reise entschlossen zu sehen, kaum war das Pferd gesattelt, so fühlte Athos sich plötzlich wieder von Schwäche befallen und vermochte keinen Schritt zu tun. Man brachte ihn auf eine Bank, wo er sich niederließ, den Kopf in beide Hände nahm und eine ganze Stunde in einem halb bewußtlosen Zustande verharrte. Als er aufstehen konnte, nahm er Suppe und Wein zu sich. Er stieg dann wirklich mühsam in den Sattel und ritt fort.

Nach hundert Schritten begann er heftig zu zittern. »Halten wir an, gnädiger Herr,« sagte der Diener, der ihn begleitete, »Sie werden blaß.« – »Das soll mich nicht hindern, den einmal eingeschlagenen Weg fortzusetzen,« antwortete Athos und ließ dem Pferd den Zügel. – Aber nach wenigen Schritten schon blieb das Tier ein zweitesmal stehen, anscheinend von selbst und gegen den Willen seines Herrn. – »Ein Etwas will, daß ich nicht weiterreite,« sprach Athos. »Schnell – alle Kräfte verlassen mich – hilf mir herab, sonst falle ich aus dem Sattel.« Der Bediente fing den Herabsinkenden in den Armen auf. Da sie noch nicht weit vom Hause entfernt waren, konnte er die andern Diener herbeirufen, und man führte nun den Grafen in sein Zimmer zurück, wo er sich sofort wohler fühlte. Dennoch kam er auf seinen Entschluß zurück und ließ sich das Pferd wieder vorführen. Als er die Hand an den Zaum legte, bäumte sich das Tier, riß sich los und lief ein Stück weit weg. Athos schüttelte den Kopf. – »Ich soll daheim bleiben,« sagte er, »das ist klar. Also fügen wir uns.«

Er kehrte ins Haus zurück und legte sich zu Bett. Er schlummerte ein, aber der Schlaf war nicht erquickend. Der Tag verging; Athos hatte bestimmt Nachrichten aus Afrika erwartet, aber es kam kein Brief an. Wenn der Kurier nicht infolge einer geringen Verspätung über Nacht anlangte, dann mußte der Graf, da Depeschen aus Afrika nur alle acht Tage befördert wurden, eine neue Woche qualvoller Ungewißheit erdulden. Während er dies bedachte, schlief er ein, und mitten in die Gefilde von Afrika ward er im Geist geführt. Er sah den trocknen Wüstensand zu seinen Füßen, er fühlte die brennende Sonne des Südens auf seiner Haut, und heißer Wind blies gegen seine glühende Stirn an.

Auf dem dürren Gelände lag eine kleine Ortschaft, aus der dichter Rauch aufwirbelte, Flammen schossen gen Himmel, ein roter Wirbel umhüllte alles. Gräßliches Geschrei zerriß die Luft. Balken stürzten, Steine prasselten hernieder. Aber obwohl ein schreckliches Gewirr von Stimmen erscholl, sah man doch kein menschliches Antlitz. Aus der Ferne klangen Kanonenschüsse herüber, Musketensalven knatterten, das Meer brüllte, Getier flüchtete in langen Sätzen über den Boden – und doch sah man keinen Soldaten mit Lunte oder Flinte, keinen Hirten jener Tiere, keinen Bewohner der Gegend.

Die Nacht brach herein – ein sternenheller Himmel stand über der Szene der Verwüstung, tiefes Schweigen lag über der Landschaft. Der Mond ging auf, und in seinem bleichen Lichte sah Athos nun Leichen ringsum am Boden liegen. Angst und Schrecken ergriffen ihn, als er die Uniformen französischer Soldaten erkannte und die Musketen erblickte, mit dem Zeichen der Lilie am Schaft. Und im Traum schritt Athos von einer Leiche zur andern und neigte sich über alle diese toten Gesichter herab, und diejenigen, die nach unten gekehrt waren, drehte er herum. Den er suchte, fand er nicht.

Während sein Auge nach allen Seiten umherirrte, sah er plötzlich eine weiße Gestalt erscheinen, die ein zerbrochnes Schwert in der Hand hatte und langsam, mit herabhängenden Armen, mit starrem Blick herankam. Da erkannte er Rudolf. Athos wollte schreien, aber die Kehle war ihm zugeschnürt. Die Erscheinung winkte ihm auch zu schweigen, indem sie einen Finger auf den Mund legte. Dann wich sie zurück, und Athos, wie gebannt, folgte ihr. Rudolf schien den Boden nicht zu berühren; mühelos schwebte er dahin, während die Füße des Grafen von Gestrüpp und dornigem Gesträuch zerrissen wurden. Erschöpft hielt er inne, doch Rudolf winkte noch immer. So folgte er ihm abermals, bis er den Gipfel eines Hügels erstiegen hatte. Von der höchsten Kuppe hob sich die weiße, lichte Gestalt Rudolfs im Schimmer des Mondes duftig ab. Athos streckte die Hände aus – da hob die Erscheinung sich von der Erde auf und begann zum Himmel emporzuschweben.

Athos stieß einen Schrei aus und erwachte. Im selben Augenblick wurde an die Tür geklopft. Der Graf richtete sich auf und rief: »Ein Kurier aus Afrika, nicht wahr?« – »Nein, gnädiger Herr!« antwortete eine Stimme, bei deren Klang Athos zu Tode erschrak.

»Grimaud!« stöhnte er. – Und der Schweiß rann ihm über die abgezehrten Wangen herab. – Grimaud erschien auf der Schwelle, doch nicht mehr der Grimaud von früher, ja nicht einmal der, der mit Rudolf zusammen das Schiff betreten hatte. Ein bleicher, hagerer Greis mit weißem Haar, der sich an den Türpfosten lehnte, um nicht umzufallen. Diese beiden Männer, die so viele Jahre gemeinsam verlebt, so vieles zusammen getragen hatten, diese zwei Freunde, die dem Herzen nach einer so edel waren wie der andere, wenn auch durch Geburt und Vermögen ungleich – diese beiden verstummten jetzt, als sie einander erblickten. An der Veränderung, die mit ihnen vorgegangen, erkannten sie, was geschehen war. In demselben Tone, in dem Athos im Traum zu Rudolf gesprochen, wandte er sich nun an Grimaud: »Rudolf ist tot, nicht wahr?« – Hinter Grimaud standen zitternd die Diener, sie hörten die furchtbare Frage ihres Herrn; man hätte glauben mögen, in dem tiefen Schweigen, das auf einen Augenblick herrschte, alle Herzen schlagen zu hören.

»Ja!« antwortete Grimaud. – Athos hob die Augen zu Rudolfs Bilde empor, das über seinem Bette hing – und die Wirklichkeit verlor sich für ihn. Dieses Bild wurde in seinen Augen eins mit jener weißen Gestalt in der Wüste. Er lächelte, er sah Rudolf vor sich durch die Luft gen Himmel schweben, wie eben noch im Traum. Die Hände über der Brust gefaltet, den Blick auf das Bild geheftet, ging Athos, geführt von der reinen, keuschen Seele seines Sohnes, ins Paradies ein. Leise, so daß man ihn kaum verstand, murmelte er die Worte: »Hier bin ich.« Dann sank er zurück. Liebreich war der Tod diesem Gerechten gegenübergetreten: Er hatte ihm Krämpfe und Zuckungen erspart, er ließ ihn hinübergehen mit dem Lächeln eines Mannes, der eine süße Melodie hört. Die Ruhe seiner Züge, der Friede seines Antlitzes, seiner ganzen Haltung ließen seine Dienerschaft lange daran zweifeln, ob er auch wirklich gestorben sei.

Alle entfernten sich – nur Grimaud blieb, und man ließ ihn auch dort, denn man fürchtete, er würde beim ersten Schritt aus dem Zimmer hinaus tot umfallen. Der Alte kauerte sich vor dem Bette seines toten Herrn nieder und saß dort regungslos – er hätte nicht sagen können, wie lange. Da erklang eine Stimme, vibrierend wie Stahl. »Athos! Athos!« – Grimaud erhob sich und ging dem Manne entgegen, der mit kriegerischem Schritt herangestürmt kam. »Herr d’Artagnan!« rief er.

»Wo ist Athos?« rief der Musketier. – Grimaud nahm ihn bei der Hand und führte ihn stumm ans Bett, von dessen weißem Tuch schon die fahle Farbe des Leichnams abstach.

D’Artagnan schrie nicht auf – er röchelte nur dumpf. Er preßte die Fäuste auf die Brust und senkte tief das Haupt. Dann kniete er nieder und legte das Ohr auf das Gewand des Toten. Kein Laut – kein Atemzug! – Grimaud setzte sich ans Fußende und drückte die Lippen auf das Laken, das über den starren Füßen seines Gebieters lag. Der in Tränen zerfließende, in stummem Schmerz hingesunkene Greis bot das rührendste Schauspiel dar, das d’Artagnan je in seinem vielbewegten Leben gesehen hatte.

Der Musketier küßte Athos auf die Stirn und drückte ihm mit zitternden Fingern die Augen zu. Dann setzte er sich ans Kopfende, ohne Scheu vor diesem Toten, der zu Lebzeiten dreißig Jahre lang liebreich und wohlwollend gegen ihn gewesen war. Er versenkte sich in die Erinnerungen, die das edle Antlitz des Grafen in ihm wachrief, von denen die einen freundlich waren wie das Lächeln des Toten, die andern starr, finster und düster, wie der Tod selbst.

Da stand er auf – mit einem Male übermannte ihn der Schmerz, er brach in herzzerreißendes Schluchzen aus und stürzte hinaus, die Faust gegen die Lippen pressend, um das Weinen zu unterdrücken. Nach einer Weile ging er wieder hinauf und rief Grimaud an, der regungslos an derselben Stelle geblieben war. Der treue Mensch kam heran und folgte d’Artagnan.

»Grimaud«, sprach der Musketier, den Greis bei den Händen nehmend, »ich fand den Vater tot – nun sage mir, wie der Sohn starb.«

Grimaud nahm einen Brief aus der Tasche, der an Athos gerichtet war. D’Artagnan kannte die Schrift des Herzogs von Beaufort, erbrach das Siegel und las im ersten Schein des dämmernden Tages, was der Herzog in seiner steifen, unbeholfenen Schülerschrift an Athos schrieb. – »Lieber Graf! Inmitten eines großen Triumphes trifft uns ein großes Unglück: der König hat einen seiner tapfersten Offiziere verloren, ich einen Freund, Sie einen Sohn. Herr von Bragelonne hat einen glorreichen Tod gefunden. Empfangen Sie meinen traurigen Gruß, lieber Graf! Der Himmel verhängt über uns die Prüfungen je nach der Größe unseres Herzens. Die Prüfung, die jetzt Ihnen zuteil wird, ist sehr schwer, aber nicht über Ihre Kraft. – Ihr Freund Herzog von Beaufort.«

An diesen Brief schloß sich ein vom Sekretär des Prinzen geschriebener Bericht: eine rührende, getreue Schilderung der Episode, die den Faden zwischen zwei Herzen zerschnitt. Gewöhnt an Schlachten und Kriegsgeschichten, gefeit gegen wehmütige Vorfälle, erschauerte d’Artagnan dennoch, als er nun vom Tode Rudolfs las, vom Tode des geliebten Kindes, das auch er wie einen Sohn gehalten hatte:

»Am frühen Morgen erging der Befehl zum Angriff. Die Soldaten der Normandie und der Picardie besetzten die Stellung an den grauen Felsen, an deren Abhängen sich die Bastionen von Gigelli erheben. Die Artillerie eröffnete die Schlacht; die Lanzenknechte gingen mit erhobenen Piken vor, die Musketiere hatten die Gewehre im Arm. Der Prinz folgte mit einer starken Reserve den Vorrückenden.

Neben ihm ritten die ältesten Kapitäne und die Adjutanten.

Herr von Bragelonne erhielt den Befehl, an der Seite Seiner Hoheit zu bleiben.

Die feindlichen Kanonen hatten sich nach einigen mißlungenen Schüssen besser gerichtet, und ein paar Kugeln trafen jetzt Leute aus der Umgebung des Prinzen. Die Regimenter rückten gegen die Wälle vor und erlitten einen übeln Empfang. Der Ansturm geriet ins Stocken, zumal unsere Artillerie die Truppe mangelhaft unterstützte. Sie mußte von unten nach oben schießen, was für die Tragweite wie für die Treffsicherheit ungünstig war. Der Prinz sah dies und befahl den in der kleinen Bucht ankernden Fregatten, von dort aus ein regelmäßiges Feuer gegen die Festung zu eröffnen. Diesen Befehl zu überbringen, erbot sich Herr von Bragelonne; allein Monseigneur weigerte sich, ihm den Auftrag zu erteilen. Der Sergeant, der abgeschickt wurde, war glücklich bis an das Gestade des Meers gelangt, als zwei Schüsse aus langen Büchsen vom Feinde abgegeben wurden und ihn niederstreckten.

Der Prinz sprach darauf zu Herrn von Bragelonne: ›Sie sehen, ich erhalte Ihnen das Leben. Sagen Sie das später dem Grafen de la Fère, er wird mir Dank wissen.‹

Der junge Mann lächelte traurig und antwortete: ›Allerdings, Hoheit. Ohne Ihr Wohlwollen läge ich jetzt dort, wo der Sergeant liegt – doch wohl ihm! er hat Ruhe.‹ – ›Bei Gott!‹ rief der Prinz, ›man möchte glauben, der Mund wässere Ihnen; aber bei der Seele Heinrichs IV., ich habe Ihrem Vater versprochen, Sie lebendig zurückzubringen, und so Gott es zuläßt, will ich mein Wort halten.‹ Herr von Bragelonne errötete und erwiderte: ›Verzeihung, Hoheit, ich habe stets gern jede Gelegenheit ergriffen, mich auszuzeichnen, und es ist süß, das Lob seines Generals zu erringen, zumal wenn dieser General der Herzog von Beaufort ist.‹

Inzwischen hatte der Kommandant der Flotte erkannt, worum es sich handle und eröffnete das Feuer von selbst. Die Araber, nun von zwei Seiten beschossen, erhoben ein furchtbares Geschrei, ihre Häuser stürzten ein, Brand und Tod griffen um sich. Da warfen sie sich im Galopp unserer Infanterie entgegen, die mit gefällten Lanzen diesen Angriff abwies. Zurückgeworfen, sprengten sie auf den Generalstab ein, der in diesem Augenblick ganz ohne Deckung war. Die Gefahr war groß; Monseigneur zog den Degen; die Offiziere seines Gefolges begannen den Kampf.

Nun konnte Herr von Bragelonne das Verlangen sättigen, das ihn von Anbeginn dieses Feldzugs erfüllte. Er focht an der Seite des Prinzen und tötete im Handumdrehen drei Araber. Mit furchtbarem Ungestüm stürzte er sich auf die Feinde; es schien, als wollte er sich im Waffengetümmel, im blutigen Gemetzel berauschen. Man schlug die Angreifer zurück, und Monseigneur rief Herrn von Bragelonne zu einzuhalten. Er mußte das hören, denn wir alle hörten es. Er hielt jedoch nicht inne, sondern verfolgte den Feind und sprengte gegen die Verschanzungen. Wir wunderten uns über diesen Ungehorsam, und Monseigneur rief mit erhobener Stimme: ›Zurück, Herr von Bragelonne! Wo wollen Sie hin? Zurück, ich befehle es Ihnen!‹

Aber Herr von Bragelonne ritt weiter auf die Palisaden los. – ›Halt! Halt im Namen Ihres Vaters!‹ rief der Prinz, so laut er konnte. – Bragelonne wandte nur den Kopf nach uns um und zeigte uns ein von Schmerz verzerrtes Gesicht, allein er ritt weiter. Da begriffen wir, er war nicht mehr Herr seines Pferdes – das Tier ging mit ihm durch.

›Musketiere!‹ schrie der Herzog, ›schießt auf sein Pferd! Hundert Pistolen dem, der es trifft!‹ – Aber niemand wagte es; denn es war sehr schwer, das Pferd zu treffen und den Reiter nicht zu verwunden. Da trat ein Soldat vor, ein sehr geschickter Schütze, legte an, schoß und traf das Tier in das Kreuz, denn wir sahen die weiße Decke sich vom Blute röten. Aber es stürzte nicht, es raste nur um so wilder weiter. Man schrie ihm zu, er solle sich vom Sattel werfen. Er war nun schon auf Pistolenschußweite bis an den feindlichen Wall herangekommen; eine Salve krachte auch schon und umhüllte ihn mit einer Wolke von Rauch. Als der Dampf sich zerteilte, sahen wir ihn zu Fuße, sein Pferd lag am Boden. Die Araber forderten ihn auf, sich zu ergeben. Er aber schüttelte den Kopf und schritt ruhig weiter auf die Palisaden zu. Das war sehr unbesonnen, aber die ganze Armee wußte ihm Dank, daß er nicht einen Schritt zurückwich, obwohl er den Tod vor Augen hatte. Als er so weiterschritt, klatschten ihm die Regimenter Beifall.

Eine zweite Salve zerriß die Luft; der Vicomte von Bragelonne verschwand abermals im Pulverrauch. Doch als diesmal der Qualm verflogen war, sahen wir ihn nicht mehr auf den Füßen; er lag im Grase, und die Araber stürzten aus den Verschanzungen hervor, um zu ihm zu eilen und ihm den Kopf abzuschneiden, wie es die Ungläubigen mit den Leichen machen.

Da rief der Herzog: ›Grenadiere, Lanzenknechte, laßt euch diesen edeln Toten nicht rauben!‹ Und er lief selbst mit geschwungenem Degen auf die Feinde los. Die Soldaten eilten ihm nach, und ein furchtbarer Kampf entspann sich um den Leichnam des Herrn von Bragelonne. Die Araber verloren 160 Mann, wir 50, aber wir trugen den Toten mit uns fort. Und der Erfolg, den wir in diesem Kampf errungen, war entscheidend, denn die Regimenter gingen nicht wieder zurück, sondern drangen noch weiter vor und stürmten die Palisaden. Um drei Uhr hörte der Feuerwechsel auf, das Handgemenge begann und währte zwei Stunden. Um fünf Uhr aber waren wir Herren an allen Punkten, der Feind ergriff auf der ganzen Linie den Rückzug, und auf der höchsten Stelle des Berges wehte das Banner der Lilie.

Nun konnten wir erst Herrn von Bragelonne betrachten; er hatte acht Schußwunden, allein er atmete noch. Der Herzog ließ sofort seine Aerzte kommen und versprach jedem tausend Louisd’ors, wenn sie ihn retteten. Sie sondierten die Wunden. Dabei schlug Herr von Bragelonne noch einmal die Augen auf und sah die Aerzte mit starren Blicken an. Und nun schien er ganz bei Bewußtsein und zu hören, wie die Aerzte zu Monseigneur sagten: Drei Wunden seien allerdings tödlich, da aber der Kranke eine kräftige Natur habe und die Barmherzigkeit Gottes unendlich sei, so bestehe noch Hoffnung, daß der Totgeglaubte am Leben erhalten würde. Aber man dürfe ihn nicht einmal mit den Fingern anrühren; schon daran könne er sterben.

Der Herzog rief erfreut: ›O, Bragelonne, wir werden dich retten!‹ – Ein düsteres Lächeln huschte über die Lippen des Verwundeten. – Eines Abends nun, als man glaubte, der Kranke sei aus dem Schlummer erwacht, trat einer der Lazarettgehilfen in das Zelt und kam mit lautem Geschrei herausgestürzt. Wir eilten herzu, der Prinz mit uns, und wir sahen Herrn von Bragelonne auf der Erde liegen, in einer Blutlache schwimmend. Er bewegte sich nicht mehr. Man hob ihn auf und fand in seiner rechten Hand eine blonde Haarlocke.«

An diesen Bericht schlossen sich mehrere Mitteilungen über den Verlauf der Expedition und die Unterwerfung der Araber. D’Artagnan las das nicht mehr. Für ihn hatte der Brief nach der Schilderung von Rudolfs Tode kein Interesse mehr. »Unglückliches Kind!« stöhnte er. »Ein Selbstmord!« Und indem er zu den Fenstern hinaufsah, hinter denen Athos den ewigen Schlaf hielt, sagte er: »Sie haben einander Wort gehalten. Sie sind im Tode vereint.«

Am folgenden Tage kamen die Landleute und die Edelherren der Umgebung an, um an der Leichenfeier teilzunehmen. D’Artagnan schloß sich ein – er wollte mit niemand sprechen. Der sonst so unbeugsame Geist war durch diese zwei Todesfälle niedergeschmettert. Er schrieb an den König und bat um Verlängerung des Urlaubs. Nur von Grimaud ließ er sich bedienen, sonst durfte niemand zu ihm.

Der treue Alte trat ein und winkte dem Chevalier, ihm zu folgen. Er führte ihn in das Zimmer des Grafen und deutete auf das leere Bett, dann schritt er mit ihm zum Salon, wo der Landessitte gemäß der Tote aufgebahrt worden war. Doch d’Artagnan blieb betroffen stehen, denn er erblickte zwei Särge, und in dem einen sah er Athos, in dem andern Rudolf von Bragelonne liegen.

»Rudolf war hier!« rief der Gaskogner. »Und das hast du mir nicht gesagt, Grimaud!« – Der Alte schüttelte den Kopf, hob sacht das Laken und zeigte d’Artagnan die Wunden, aus denen das Leben des Jünglings entflohen war.

Der Kapitän wandte sich schluchzend ab. Und da Grimaud nichts weiter sagte, so fragte er auch nicht. Später dachte er daran, daß der Sekretär Beauforts noch vieles geschrieben, was er nicht mehr gelesen hatte. Er nahm den Bericht noch einmal zur Hand und las nun alles bis zu Ende. Da stand im letzten Abschnitt folgendes:

»Der Herzog hat Bragelonnes Leiche nach arabischer Weise einbalsamieren lassen und ein Schiff beordert, das den Sarg unter Obhut des treuen Dieners, der dem jungen Manne gefolgt war, auf der Stelle nach Frankreich bringt.«

»Nun, so werde ich auch dir die letzte Ehre erweisen können, armer Junge,« sprach d’Artagnan zu sich. »Ich alter nichtsnutziger Mann werde den Staub auf deine Stirn streuen, die ich vor zwei Monaten noch geküßt habe. Gott hat es so gewollt. Du selbst hast es gewollt. Ich habe kein Recht zu weinen. Du hast dir den Tod gewählt, weil du ihn dem Leben vorzogst.«

Eine große Menge Volkes, Landleute, Edelherren und Bürger nahmen an dem Begräbnis teil. Die kleine Kapelle, die Athos zu seiner letzten Ruhestätte bestimmt hatte, lag im äußersten Teil des Parks, von Pappeln und Maulbeerbäumen, Flieder und Weißdorn umstanden. Bienen umschwärmten das blühende, und duftende Gesträuch, Finken und Rotkehlchen sangen in den Zweigen ihre lieblichen Melodien.

Schweigsam bewegte sich der Leichenzug nach dieser Stätte, und als man die Särge hinabgesenkt in die ehrwürdige alte Gruft, als man den Toten das letzte Lebewohl zugerufen, zerstreute sich die Menge, tiefergriffen, und leise sprachen die Leute untereinander von den Tugenden des Vaters, von den Hoffnungen des Sohnes und von seinem traurigen Ende. Der Klang des Glöckleins, das der Ministrant läutete, verlor sich in der Ferne.

D’Artagnan blieb allein zurück. Er lehnte an einem Baum und starrte nach der kleinen Kapelle hin, die so viel Teures in sich schloß. Da sah er eine Frauengestalt am Boden knien. Sie preßte weiße Hände mit schlanken Fingern vor das Gesicht. D’Artagnan trat geräuschlos näher, um diese Betende nicht zu stören und gleichwohl zu erkennen, wer sie sei. Da er jenseits des Parkzauns jetzt eine Kalesche mit Kutscher und Dienern halten sah, deren Anfahrt er in seiner Träumerei nicht gehört hatte, erriet er, daß es eine Dame von Stand sei. Sie betete inbrünstig, und d’Artagnan hörte ein paarmal von ihren Lippen leise, doch eindringlich das Wort: »Verzeih! verzeih!«

Er wollte hinzutreten, um sie anzusprechen und ihrer Trauer zu entreißen, da sah sie auf, und er erkannte Luise von Lavallière. Sie hob ihr von Tränen überflutetes Gesicht zu ihm empor und nannte ihn beim Namen. – »Sie hier?« sprach der Kapitän dumpf. »Ich hätte lieber ihn und Sie mit Blumen geschmückt im Hause des Grafen de la Fère gesehen. Die beiden da hätten weniger Tränen vergossen – auch Sie und ich.«

»Mein Herr!« schluchzte sie. – »Denn Sie, nur Sie,« fuhr der Unerbittliche fort, »haben diese beiden Männer unter die Erde gebracht.«

»O, schonen Sie meiner!« rief sie. – »Fern sei es von mir, eine Frau zu beleidigen oder sie für nichts zum Weinen zu bringen, aber es muß gesagt werden,« setzte er hinzu, »für den Mörder ist kein Platz am Grabe seiner Opfer.« – Sie wollte antworten. – »Was ich Ihnen da sage,« sprach er hart, »das würde ich dem König selbst sagen.« – Sie faltete die Hände und antwortete: »Ich weiß, ich habe Herrn von Bragelonne in den Tod getrieben. Gestern erfuhr man es bei Hofe. Ich bin die vierzig Meilen hergeeilt, um den Grafen um Verzeihung anzuflehen, da ich ihn noch am Leben glaubte, um auf Rudolfs Grabe Gott zu bitten, daß er mir alles Ungemach schicken möge, das ich verdiene. Und nun muß ich sehen, daß der Tod des Sohnes auch den Tod des Vaters nach sich gezogen hat, daß ich mir somit zwei Verbrechen vorzuwerfen habe und doppelter Strafe verfallen bin!«

»Soll ich Ihnen wiedersagen, Fräulein, was Herr von Bragelonne mir in Antibes sagte, als er schon ans Sterben dachte?« sagte der Musketier. »Stolz und Koketterie haben sie schlecht gemacht, ich verzeihe ihr, während ich sie verachte. Wenn sie aus Liebe fiel, so vergebe ich ihr mit der Beteuerung, keiner hat sie je so geliebt wie ich!«

»Sie wissen, ich wollte mich einmal schon aus Liebe ins Kloster zurückziehen,« erwiderte sie. »Sie wissen, was ich damals gelitten habe; heute aber leide ich noch viel mehr, denn damals hoffte und wünschte ich immer noch. Heute aber habe ich nichts mehr zu hoffen und zu wünschen. Mit diesem Toten sinken alle meine Freuden ins Grab. Vor Gewissensbissen getraue ich mich nicht mehr zu lieben, und ich fühle es, der, den ich liebe, wird mich – o, es ist gerechte Vergeltung – alle Martern empfinden zu lassen, die ich dem andern bereitet habe. O, klagen Sie mich nicht an, Herr d’Artagnan, ich beschwöre Sie! Ich bin ein vom Stamme gerissener Zweig – ich habe keinen Halt mehr auf dieser Welt. Ich liebe noch immer bis zur Raserei, und so gottlos bin ich in dieser Liebe, daß ich sie noch jetzt auf dem Grabe dieses Toten bekenne. Diese Liebe ist für mich wie eine Religion. Nur noch kurze Zeit wird mein Glück währen, vielleicht besteht es schon heute nicht mehr. Sie werden mich bald verlassen, bestraft sehen, wie Sie es nicht schlimmer wünschen können. Vielleicht ist dieser Doppelmord schon jetzt gesühnt.«

Ein königlicher Offizier, in welchem d’Artagnan von Saint-Aignan erkannte, kam zu Pferde, hielt jenseits des Zaunes an und erklärte, er sei beauftragt. Fräulein von Lavallière zum König zurückzuholen, der vor Ungeduld und Eifersucht außer sich sei. Luise entließ ihn mit einer Handbewegung, und er ritt zu dem Kutscher.

»Sie sehen, Fräulein,« sprach d’Artagnan, den Saint-Aignan nicht bemerkt hatte, da er von dem dichten Laub eines Strauchs verdeckt war, »Sie sehen, noch währt Ihr Glück.«

»Sie werden es eines Tages bereuen,« antwortete die Lavalliere, »daß Sie so schlecht über mich dachten. Sie werden mich so viel leiden sehen, daß Sie der erste sein werden, mich zu bemitleiden.« Darauf kniete sie abermals nieder, faltete die Hände und sprach: »Zum letzten Male, verzeihe mir, Rudolf, mein Bräutigam! Ich habe unsere Bande zerrissen. Wir beide müssen daran vor Schmerz sterben. Du bist vorangegangen, ich fürchte mich nicht, dir zu folgen. Sieh, ich bin nicht feige gewesen, ich habe schon Mut genug gezeigt, indem ich hierher kam, dir dieses letzte Lebewohl zuzurufen. Gott ist mein Zeuge, Rudolf, ich hätte mein Leben hingegeben, das deine zu erkaufen. Meine Liebe aber konnte ich dir nicht geben. Nochmals: vergib mir!«

Sie pflückte einen Zweig, steckte ihn in die Erde, wischte die Tränen aus den Augen und ging zu ihrem Wagen. D’Artagnan sah Kutsche, Diener und Reiter verschwinden, kreuzte die Arme über der Brust und sprach vor sich hin: »Wann wird die Reihe an mich kommen? Was bleibt dem Menschen, wenn Jugend, Liebe, Ruhm, Freundschaft, Kraft und Reichtum dahin sind? Der Felsen, unter dem Porthos schläft, der alles das besaß, was ich eben nannte – das Moos, unter dem Athos und Rudolf schlafen, die noch viel mehr besaßen! Na! immer weiter Schritt vor Schritt! Wenn die Stunde kommt, wird Gott es mir sagen, wie er es den andern gesagt hat.« – Er berührte mit der Fingerspitze die vom Tau des Abends nasse Erde, bekreuzte sich wie mit Weihwasser und schlug allein – allein für immer – den Weg nach Paris ein.