Der Student.

Donnerstag, 5. Mai.

Zu der Zeit, als Niels Holgersen mit den Wildgänsen durch das Land reiste, war in Upsala ein prächtiger junger Student. Er wohnte in einer kleinen Dachkammer und war so sparsam, daß die Leute sagten, er lebe von fast gar nichts. Seine Studien betrieb er mit Lust und Liebe, so daß er schneller damit fertig wurde, als irgendeiner von den anderen. Aber deswegen war er durchaus kein Bücherwurm oder Duckmäuser; er konnte sehr wohl mit den Kameraden lustig sein. Er war gerade so, wie ein Student sein soll. Er hatte keine Fehler, wenn man es nicht etwa einen Fehler nennen will, daß er infolge all seines Glücks ein wenig verwöhnt war. Aber das kann dem Besten passieren. Das Glück ist nicht so leicht zu ertragen, namentlich nicht in der Jugend.

In einer Morgenstunde, gerade als der Student erwacht war, lag er da und dachte darüber nach, wie gut er es doch habe. »Alle Menschen haben mich gern, Kameraden wie auch Lehrer,« sagte er zu sich selbst. »Und so vorzüglich, wie es mir mit meinem Studium gegangen ist! Heute soll ich zum letztenmal zum Tentamen, und dann bin ich bald fertig. Und wenn ich nur rechtzeitig fertig werde, so bekomme ich eine Stellung mit gutem Gehalt. Es ist merkwürdig, was für ein Glück ich gehabt habe. Aber ich tue ja auch meine Pflicht, da ist es ja ganz natürlich, daß es mir gut geht.«

Die Studenten in Upsala sitzen nicht zusammen in Schulstuben und lernen wie Schulkinder, sie sitzen jeder für sich in seinem Zimmer und studieren. Wenn sie mit einem Fach fertig sind, gehen sie zu ihren Professoren und werden in dem ganzen Fach auf einmal überhört. So eine Überhörung heißt ein Tentamen, und das, zu dem der Student an diesem Tage gehen sollte, war gerade das Letzte und Allerschwerste.

Sobald er sich angekleidet und Kaffee getrunken hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch, um einen letzten Blick in seine Bücher zu werfen. »Ich glaube eigentlich, es ist ganz überflüssig, so gut wie ich vorbereitet bin,« dachte der Student, »aber es wird wohl am besten sein, wenn ich so lange wie möglich büffle, dann brauche ich mir wenigstens keine Vorwürfe zu machen.«

Er hatte kaum einen Augenblick gelesen, als es an seine Tür pochte, und ein Student mit einem dicken Buch unterm Arm bei ihm eintrat. Es war dies ein Student von ganz anderer Art wie der, der dort am Schreibtisch saß. Er war verschämt und schüchtern und sah abgearbeitet und ärmlich aus. Es war einer von denen, die sich auf Bücher verstehen, aber auch auf nichts weiter. Es hieß, daß er sehr gelehrt sei, aber er war so scheu und ängstlich, daß er sich nie zu einem Tentamen hatte entschließen können. Alle glaubten, er werde »ewiger Student« werden, ein Jahr nach dem anderen in Upsala bleiben und studieren und studieren, es aber nie zu etwas bringen.

Er kam nun, um den Kameraden zu bitten, ein Buch zu lesen, das er geschrieben hatte. Es war nicht gedruckt, sondern nur mit der Hand geschrieben. »Du würdest mir einen großen Gefallen tun,« sagte er, »wenn du dir dies hier ein wenig ansehen und mir sagen wolltest, ob es taugt.«

Der Student, dem das Glück stets lächelte, dachte bei sich: »Ist es nicht, wie ich vorhin sagte, daß mich alle gern haben? Hier kommt nun dieser Sonderling, der sich nicht hat überwinden können, seine Arbeit irgend jemand zu zeigen, und bittet mich, sie zu beurteilen.«

Er versprach, die Handschrift so schnell wie möglich zu lesen, und der andere legte das Buch auf den Schreibtisch neben ihn. »Du mußt gut acht darauf geben,« sagte er, »ich habe fünf Jahre daran gearbeitet, und wenn es abhanden käme, kann ich es nicht noch einmal machen.« – »Solange es bei mir ist, wird ihm nichts zustoßen,« sagte der Student. Und dann ging der andere.

Der Student nahm das dicke Buch zur Hand. »Ich möchte doch wissen, was der da zusammengeschmiert hat,« sagte er. »Ach so, die Geschichte der Stadt Upsala! Das klingt ja gar nicht übel!«

Nun liebte dieser Student Upsala über alle anderen Städte, und er war neugierig zu lesen, was der alte Student über die Stadt geschrieben hatte. »Wenn ich mir die Sache recht überlege, kann ich seine Geschichte ebensogut jetzt gleich lesen,« murmelte er. »Es hat ja doch keinen Zweck, hier noch im letzten Augenblick zu sitzen und zu büffeln. Deswegen geht es auch nicht besser, wenn man zum Professor kommt.«

Der Student las und erhob die Augen nicht von den Blättern bis er zum letzten gekommen war. Als er geendet hatte, war er sehr vergnügt. »Das muß ich sagen, dies ist ja eine ganz kolossale Gelehrsamkeit!« sagte er. »Wenn dies Buch erscheint, ist sein Glück gemacht. Wie ich mich darauf freue, ihm zu erzählen, wie gut sein Buch ist!«

Er sammelte alle die losen Blätter zusammen, aus denen die Handschrift bestand, und legte sie auf dem Tisch zurecht. Während er damit beschäftigt war, hörte er die Uhr schlagen.

»Nun wird es wohl Zeit, daß ich zum Professor gehe,« sagte er und beeilte sich, seinen schwarzen Anzug zu holen, der in einer Kammer oben auf dem Boden hing. Aber wie es so oft zu gehen pflegt, wenn man es eilig hat, waren Schloß und Schlüssel neckisch, und es währte eine geraume Zeit, bis er zurückkam.

Als er in die Tür kam, stieß er einen Schrei aus. In der Eile hatte er die Tür offen stehen lassen, als er ging, und das Fenster, an dem der Schreibtisch stand, war auch offen. Es war Zug entstanden, und nun sah der Student die losen Blätter der Handschrift zum Fenster hinauswirbeln. Mit einem Satz war er am Schreibtisch und legte die Hand auf die Papiere, aber da waren nicht mehr viele zu retten. Nur zehn oder zwölf Blatter lagen noch da. All das andere tanzte mit dem Wind über Höfe und Dächer hin.

Der Student lehnte sich zum Fenster hinaus und sah den Papieren nach. Auf dem Dach vor dem Mansardenfenster saß ein schwarzer Vogel und sah ihn mit höhnischer Überlegenheit an. »Ist das nicht ein Rabe?« dachte der Student. »Man sagt ja, daß Raben Unglück verkünden.« Er sah, daß noch einige von den Papieren ringsumher auf den Dächern lagen, und er hätte sicher einen Teil des Verlorenen retten können, wenn er nicht an sein Tentamen hätte denken müssen. Aber er fand, daß er vor allen Dingen an seine eigenen Angelegenheiten denken müsse. »Es handelt sich ja um meine ganze Zukunft,« dachte er.

Er kleidete sich schnell an und ging zu dem Professor. Während der ganzen Zeit beschäftigten sich seine Gedanken mit der verlorenen Handschrift. »Das ist eine schlimme Geschichte,« dachte er. »Es war geradezu ein Unglück, daß ich es so eilig hatte.«

Der Professor begann mit dem Überhören, aber der Student konnte seine Gedanken nicht von der Handschrift losreißen. »Was sagte doch der arme Bursche?« dachte er. »Sagte er nicht, daß er fünf Jahre an dem Buch gearbeitet habe und nicht die Kraft besitze, es noch einmal zu schreiben? Ich weiß nicht, woher ich den Mut nehmen soll, um ihm zu erzählen, daß sie weg ist.«

Er war so von dem Geschehenen in Anspruch genommen und so unglücklich darüber, daß er seine Gedanken nicht zu sammeln vermochte. Alle seine Kenntnisse waren wie weggeblasen. Er hörte nicht, wonach ihn der Professor fragte und ahnte nicht, was er selbst antwortete. Der Professor war ganz entsetzt über eine solche Unwissenheit und konnte nicht anders als ihn durchfallen lassen.

Als der Student wieder auf die Straße hinauskam, war er sehr unglücklich. »Jetzt habe ich meine Anstellung verscherzt,« dachte er, »und daran ist der alte Bursche schuld. Warum mußte er auch gerade heute mit seiner Handschrift kommen! Aber so geht es, wenn man gefällig ist.«

Im selben Augenblick sah der Student den, an den er eben dachte, auf sich zukommen. Er wollte ihm nicht erzählen, daß die Handschrift verloren war, ehe er den Versuch gemacht hatte, sie wieder zu erlangen, deswegen machte er Miene, an ihm vorüberzugehen, ohne etwas zu sagen. Aber der andere ging da so bekümmert und unruhig und dachte an nichts weiter, als was der Student über sein Buch sagen werde, und als er ihn mit einem unfreundlichen Nicken vorübereilen sah, wurde er grenzenlos bange. Er packte den Studenten beim Arm und fragte, ob er schon ein wenig in dem Buch gelesen habe. »Ich bin zum Tentamen gewesen,« sagte der Student und wollte schnell weitergehen. Aber der andere glaubte, daß er ihn meiden wolle, um ihm nicht sagen zu müssen, daß ihm das Buch nicht gefalle. Er hatte ein Gefühl, als wenn ihm das Herz brechen solle bei dem Gedanken, daß das Werk, an dem er fünf lange Jahre gearbeitet hatte, nichts taugte, und in seinem großen Schmerz sagte er zu dem Studenten: »Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe! Wenn das Buch nichts taugt, will ich es nicht mehr sehen. Lies es so schnell du kannst, und sage mir, was du darüber denkst. Taugt es aber nicht, so kannst du es gern verbrennen. Dann will ich es nicht mehr sehen.«

Er ging schnell seiner Wege. Der Student sah ihm nach, als wolle er ihn zurückrufen, besann sich aber und ging nach Hause.

Dort beeilte er sich, seine Werktagskleider anzuziehen und lief dann hinaus, um nach der Handschrift zu suchen. Er suchte in den Straßen, auf den Plätzen und in den Anlagen. Er ging in die Höfe, ja, er wanderte sogar ganz aufs Land hinaus, aber er fand nicht ein einziges Blatt.

Als er ein paar Stunden herumgelaufen war, wurde er so hungrig, daß er Verlangen nach Mittagessen empfand. Aber da, wo er zu Mittag zu essen pflegte, traf er den alten Studenten wieder, der ihm gleich entgegenkam, um etwas über das Buch zu hören. »Ich komme heute abend zu dir, um mit dir zu reden,« sagte der Student ziemlich abweisend. Er wollte nicht eingestehen, daß die Arbeit weg war, ehe er ganz sicher war, daß sie nicht wieder zu finden sei. Der andere wurde ganz blaß. »Vergiß nur ja nicht, daß du es vernichten sollst, wenn es nicht taugt,« sagte er und ging seiner Wege und war nun ganz sicher, daß das Buch dem Studenten nicht gefallen habe.

Der Student eilte wieder in die Stadt hinaus und suchte unermüdlich, bis es dunkel wurde, ohne aber das geringste zu finden. Auf dem Heimwege begegnete er ein paar Kameraden: »Wo hast du dich herumgetrieben, da du nicht zum Frühlingsfest gekommen bist?« – »Ach, ist heute Frühlingsfest gewesen?« sagte der Student. »Das hatte ich ganz vergessen.«

Während er dastand und mit den Kameraden sprach, kam ein junges Mädchen, das er gern hatte, vorüber. Sie sah ihn nicht an, sondern sprach mit einem anderen Studenten, dem sie unendlich freundlich zulächelte. Da entsann sich der Student, daß er sie gebeten hatte, zum Frühlingsfest zu kommen, damit er sie dort treffen könne, und nun war er selber nicht gekommen. Was mußte sie doch von ihm denken!

Er fühlte einen Stich in seinem Herzen und wollte ihr nacheilen, aber da sagte der eine von seinen Freunden: »Mit Steenberg, dem ewigen Studenten, steht es offenbar sehr schlecht. Er ist heute abend krank geworden.« – »Es ist doch wohl nichts Gefährliches?« fragte der Student schnell. – »Es ist etwas mit dem Herzen. Es war ein schlimmer Anfall, den er hatte, und der kann sich jeden Augenblick wiederholen. Der Doktor meint, daß er irgendeinen Kummer hat, der ihn bedrückt. Es kann nur besser werden, wenn dieser Kummer von ihm genommen wird.«

Kurz darauf trat der Student in das Zimmer des ewigen Studenten. Er lag bleich und matt in seinem Bett und war noch kaum wieder bei Besinnung nach dem schlimmen Anfall.

»Ich komme, um mit dir über dein Buch zu reden,« sagte der Student. »Es ist eine vorzügliche Arbeit, kann ich dir sagen. Ich habe selten etwas so Gutes gelesen,«

Der ewige Student richtete sich im Bett auf und starrte den Studenten an. »Warum warst du denn heute nachmittag so sonderbar?«

»Ich war schlechter Laune, weil ich durchs Tentamen gefallen bin. Ich ahnte nicht, daß du dir soviel aus meiner Meinung machst. Ich habe soviel Freude von deinem Buch gehabt.«

Der Kranke sah ihn forschend an, und es wurde ihm mehr und mehr klar, daß ihm der Student etwas verbergen wollte. »Das sagst du nur, weil du gehört hast, daß ich krank bin, nun willst du mich trösten.« – »Keineswegs. Es ist eine ausgezeichnete Arbeit, das versichere ich dich.« – »Hast du sie wirklich nicht vernichtet, wie ich dich bat?« – »Ich bin doch nicht verrückt!« – »So hole sie! Zeige mir, daß du sie nicht vernichtet hast, dann will ich dir glauben!« sagte der Kranke und sank in die Kissen zurück. Er war so schwach und matt, daß der Student glaubte, der Anfall werde sich wiederholen.

Es war ein fürchterlicher Augenblick für den Studenten. Er nahm die Hände des Kranken zwischen die seinen, erzählte ihm, daß seine Handschrift zum Fenster hinausgeweht sei und sagte, wie unglücklich er den ganzen Tag gewesen war, weil er ihm einen so großen Schaden zugefügt hatte.

Als er schwieg, nahm der Kranke seine Hand und streichelte sie. »Du bist gut gegen mich, wirklich gut. Gib dir aber keine Mühe, Geschichten zu erfinden, um mich zu schonen. Ich verstehe ja, daß du getan hast, wie ich dir sagte: du hast die Handschrift verbrannt, weil sie nichts taugte, und du willst es nun nicht eingestehen. Du glaubst, ich könne das nicht ertragen!«

Der Student versicherte ihm hoch und heilig, daß er die Wahrheit rede, der andere aber beharrte bei seiner Ansicht und wollte ihm nicht glauben.

»Könntest du mir die Handschrift zurückgeben, so würde ich dir glauben,« sagte er.

Er wurde immer elender, und der Student sah sich schließlich gezwungen, fortzugehen, um seinen Zustand nicht noch zu verschlimmern.

Als er zu Hause anlangte, befiel ihn eine solche Schwermut und Müdigkeit, daß er sich kaum aufrecht halten konnte. Er machte Tee und ging dann zu Bett. Während er die Decke über sich zog, dachte er daran, wie glücklich er am Morgen gewesen war. Jetzt war für ihn selber viel in die Brüche gegangen, aber das konnte er ja ertragen. »Das Schlimmste ist, daß ich nie im Leben werde vergessen können, daß ich einen Menschen ins Unglück gebracht habe,« sagte er.

Er glaubte, daß er in dieser Nacht kein Auge werde schließen können. Aber wunderbarerweise schlief er ein, sobald er den Kopf auf das Kissen gelegt hatte. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt, die Lampe auszulöschen, die auf dem Nachttisch neben seinem Bett brannte.

Das Frühlingsfest

Nun aber wollte es der Zufall, daß, als der Student sich schlafen legte, ein kleiner Bursche mit gelber Lederhose, grüner Weste und weißer Zipfelmütze auf dem Dach vor seinem Mansardenfenster stand und dachte, wenn er an Stelle dessen wäre, der jetzt da drinnen in seinem Bett lag, so würde er sehr glücklich sein.

Daß Niels Holgersen, der noch vor ein paar Stunden in einem Büschel gelber Sumpfdotterblumen am Ekelsundsvik gelegen und gefaulenzt hatte, sich jetzt in Upsala befand, daran war der Rabe Bataki schuld; er hatte Niels zu dem Abenteuer verlockt.

Der Junge selber hatte es sich am allerwenigsten träumen lassen. Er lag in dem Blumenbüschel und starrte zum Himmel empor, als er Bataki oben zwischen den davonziehenden Wolken fliegen sah. Der Junge wollte sich am liebsten vor ihm verstecken, aber Bataki hatte ihn schon gesehen, und einen Augenblick später stand er mitten zwischen den Dotterblumen und sprach so, als seien er und der Junge die besten Freunde von der Welt.

So finster und feierlich Bataki auch aussah, Niels konnte doch merken, daß er einen Schelm im Auge hatte. Er hatte ein Gefühl, als wenn der Rabe gekommen sei, um sich lustig über ihn zu machen, und er hatte beschlossen, sich an nichts zu kehren, was er auch zu ihm sagen werde.

Der Rabe begann nun damit, zu sagen, er fände, er schulde Däumling einen Ersatz dafür, daß er ihm nicht erzählen könne, wo das Bruderteil war, und deswegen sei er nun gekommen, um ihm ein anderes Geheimnis anzuvertrauen. Bataki wisse nämlich, wie jemand, der so verwandelt worden war, wie er, wieder zum Menschen werden könne.

Der Rabe hatte ganz fest geglaubt, daß der Junge sofort anbeißen würde, wenn er ihm einen solchen Köder auswarf. Statt dessen aber antwortete Niels sehr abweisend, daß er wisse, er könne wieder Mensch werden, wenn er den weißen Gänserich erst glücklich nach Lappland hinauf und dann nach Schoonen zurückbringen könne.

»Du weißt, es ist keine Kleinigkeit, einen Gänserich glücklich durch das Land zu bringen,« sagte Bataki. »Es könnte nicht schaden, wenn du noch einen anderen Ausweg wüßtest, für den Fall, daß dir dies mißlingen sollte. Machst du dir aber nichts daraus, es zu wissen, so werde ich schon meinen Mund halten.« Und dann antwortete der Junge, er habe nichts dagegen, daß ihm Bataki das Geheimnis erzähle.

»Das will ich auch tun,« sagte Bataki, »aber erst im rechten Augenblick. Setz‘ dich auf meinen Rücken und gehe mit mir auf eine Reise, dann wollen wir sehen, ob sich nicht eine passende Gelegenheit bietet!« Da wurde der Junge wieder bedenklich, denn er wußte nie, wie er mit Bataki dran war. »Du wagst wohl nicht, dich mir anzuvertrauen,« sagte der Rabe. Niels konnte es aber nicht ertragen zu hören, daß es irgend etwas geben sollte, wovor er bange war, und im nächsten Augenblick saß er auf dem Rücken des Raben.

Dann flog der Rabe mit ihm nach Upsala. Auf einem Dach setzte er ihn ab, bat ihn, sich umzusehen und fragte ihn dann, was er wohl glaube, wer in dieser Stadt regiere.

Der Junge sah über die Stadt hinaus. Sie war ziemlich groß und lag entzückend mitten in einer großen, gut bebauten Ebene. Da waren viele Häuser, die ansehnlich und vornehm aussahen, und oben auf einem Hügel lag ein stattlich gebautes Schloß mit zwei schweren Türmen.

»Da wohnen vielleicht der König und seine Mannen?« fragte er.

»Das ist gar nicht übel erraten,« antwortete der Rabe. »In alten Zeiten hat der König hier seinen Sitz gehabt. Aber nun ist es vorbei mit der Herrlichkeit.«

Der Junge sah sich noch einmal um, und da bemerkte er vor allen Dingen den großen Dom, der in der Abendsonne dalag mit seinen drei hohen, glitzernden Türmen, seinen stattlichen Portalen und den reich geschmückten Mauern. »Vielleicht wohnt hier ein Bischof mit seinen Geistlichen?« fragte er.

»Das ist gar nicht übel erraten,« sagte Bataki. »Hier haben einstmals Erzbischöfe gewohnt, die so mächtig waren wie Könige, und noch heutigen Tages wohnt hier ein Erzbischof, aber der regiert hier jetzt nicht.«

»Dann weiß ich nicht, was ich raten soll,« sagte der Junge.

»Die Gelehrsamkeit wohnt und regiert hier in der Stadt,« sagte der Rabe, »und die großen Gebäude, die du überall siehst, sind ihr und ihren Leuten zu Ehren errichtet.«

Das wollte Niels kaum glauben. »Komm du nur mit, dann wirst du schon sehen!« sagte der Rabe und sie flogen hin und besahen die großen Häuser. An verschiedenen Stellen standen die Fenster offen. Der Junge konnte hier und da hineingucken, und er sah, daß der Rabe recht hatte.

Bataki zeigte ihm die große Bibliothek, die vom Keller bis zum Boden voller Bücher war. Er führte ihn nach dem stolzen Universitätsgebäude und zeigte ihm die prächtigen Vorlesungssäle. Er flog an dem alten Gebäude vorüber, das Gustavianum heißt, und durch die Fenster sah der Junge ausgestopfte Tiere. Sie flogen über die großen Treibhäuser mit den vielen fremdländischen Pflanzen, und sie guckten auf das Observatorium hinab, wo das große Fernrohr zum Himmel hinauf gerichtet stand.

Sie schwebten auch an vielen Fenstern vorüber und sahen alte Herren mit einer Brille auf der Nase. Die saßen und schrieben oder lasen in Zimmern, deren Wände ganz mit Büchern bedeckt waren, und sie flogen an Mansardenstübchen vorüber, wo die Studenten, so lang sie waren, auf ihren Sofas lagen und über dicken Büchern schwitzten.

Schließlich ließ sich der Rabe auf einem Dach nieder. »Kannst du nun sehen, daß das, was ich sagte, wahr ist? Die Gelehrsamkeit herrscht hier in der Stadt!« Und der Junge mußte einräumen, daß er recht hatte. »Wäre ich nicht ein Rabe,« fuhr Bataki fort, »sondern ein Mensch, so wie du, so würde ich mich hier niederlassen. Ich würde tagaus, tagein in einer solchen Stube voller Bücher sitzen und alles lernen, was darin steht. Hättest du nicht auch Lust dazu?« – »Nein, ich glaube, ich möchte lieber mit den Wildgänsen reisen,« antwortete der Junge. – »Möchtest du nicht einer von denen werden, die Krankheiten heilen können?« fragte der Rabe. – »Ach ja, vielleicht.« – »Möchtest du nicht einer von denen werden, die alles wissen, was sich in der Welt zugetragen hat, die alle Sprachen sprechen und sagen können, was für Bahnen Sonne und Mond und Sterne am Himmel beschreiben?« sagte der Rabe. – »Freilich, das könnte ja ganz erbaulich sein.« – »Hättest du nicht Lust, den Unterschied von Gut und Böse, Recht und Unrecht kennen zu lernen?« – »Das könnte ja ganz nützlich sein,« sagte der Junge, »das habe ich oft bemerkt.« – »Und hättest du nicht Lust, zu studieren und Geistlicher zu werden und daheim in der Kirche zu predigen?« – »Vater und Mutter würden sich schrecklich freuen, wenn ich es soweit brächte,« antwortete der Junge.

Auf die Weise machte der Rabe Niels begreiflich, daß die Menschen, die in Upsala wohnen und studieren konnten, glücklich seien, aber bisher hatte Däumling noch nicht gewünscht, einer von ihnen zu sein.

Dann traf es sich aber, daß das große Fest zu Ehren des Frühlings, das alljährlich in Upsala gefeiert wurde, gerade an diesem Abend stattfand. Es hatte eigentlich am ersten Mai stattfinden sollen, aber da goß es in Strömen vom Himmel herab, und das Fest ward auf einen anderen Tag verschoben.

Und so ging es zu, daß Niels Holgersen die Studenten zu sehen bekam, als sie nach dem Botanischen Garten hinauszogen, wo das Fest gefeiert werden sollte. Sie kamen in einem großen, breiten Zug daher mit weißen Mützen auf dem Kopf und die ganze Straße war wie ein dunkler Fluß voll weißer Wasserrosen. Vor dem Zuge her wurden weiße, goldgestickte Fahnen getragen, und während des ganzen Marsches sangen sie Frühlingslieder. Niels hatte die Empfindung, als sängen sie nicht selbst, als begleite der Gesang sie, über ihren Köpfen hinschwebend. Ihm war es, als sängen nicht die Studenten zu Ehren des Frühlings, sondern als sitze der Frühling irgendwo verborgen und singe den Studenten etwas vor. Er hatte nie eine Ahnung davon gehabt, daß Menschengesang so klingen könne. Es war wie ein Sausen in Tannenwipfeln, wie Klang von Stahl, wie der Gesang wilder Schwäne am Strande.

Als die Studenten in den Garten kamen, wo die Rasenplätze mit dem ersten, feinen, hellgrünen Gras bedeckt waren, und die Blätter der Bäume im Begriff standen, die Knospen zu sprengen, stellten sie sich vor einer Rednertribüne auf, die ein alter Mann bestieg, um eine Ansprache an sie zu halten.

Die Rednertribüne war auf der Treppe vor den großen Treibhäusern errichtet, und der Rabe setzte den Jungen auf das Dach des Treibhauses. Da saß er in guter Ruhe und sah und hörte. Der alte Mann auf der Rednertribüne sagte, das beste im Leben sei, jung zu sein und seine Jugendjahre in Upsala zu verbringen. Er sprach von der guten, friedlichen Arbeit bei den Büchern und der reichen, lichten Jugendfreude, die nirgends so genossen werden könne wie in dem großen Kameradenkreis. Das mache die Arbeit so vergnüglich, ließe die Sorgen so leicht vergessen, mache die Hoffnung so licht.

Der Junge saß da und sah auf die Studenten herab, die in einem Halbkreis um die Rednertribüne standen, und ihm ging das Verständnis dafür auf, daß es nichts Schöneres gebe, als zu diesem Kreis zu gehören. Das war ein Glück und eine große Ehre. Jeder einzelne wurde zu etwas mehr, als er sonst gewesen sein würde, wenn er zu einer solchen Schar gehörte.

Nach der Rede wurde wieder gesungen, und auf den Gesang folgten von neuem Reden.

Der Junge hatte nie eine Ahnung oder einen Begriff davon gehabt, daß man Worte so zusammensetzen konnte, daß sie Macht erhielten, zu rühren und erfreuen und begeistern, so wie diese.

Niels hatte hauptsächlich die Studenten angesehen, aber er bemerkte doch, daß sie nicht die einzigen im Garten waren. Da waren auch junge Mädchen in hellen Kleidern und feinen Frühlingshüten, sowie viele andere Leute. Aber es erging ihnen wie dem Jungen, es schien, als seien sie nur gekommen, um die Studenten zu sehen.

Hin und wieder entstand eine Pause zwischen den Reden und dem Gesang, und da zerstreute sich die Schar über den ganzen Garten. Bald aber stand ein neuer Redner auf der Tribüne, und sogleich scharten sich die Zuhörer wieder um ihn. Und so ging es weiter, bis die Nacht hereinbrach.

Als das Ganze vorbei war, atmete der Junge tief auf und rieb seine Augen, als erwache er aus dem Schlaf. Er war in einem Lande gewesen, das er noch nie besucht hatte. Alle diese Menschen, die sich des Lebens freuten und der Zukunft siegesstolz entgegensahen, verbreiteten Heiterkeit und Freude um sich wie einen Ansteckungsstoff, und der Junge war ebenso wie sie im Reiche der Freude gewesen. Aber als die Töne des letzten Liedes hinstarben, fühlte der Junge, wie trübselig sein eigenes Leben war, und er konnte sich nach dem eben Erlebten kaum überwinden, zu seinen Reisekameraden zurückzukehren.

Der Rabe hatte neben dem Jungen gesessen, und nun flüsterte er ihm ins Ohr: »Jetzt will ich dir erzählen, Däumling, wie du wieder Mensch werden kannst. Du mußt warten, bis du jemand triffst, der dir sagt, daß er gern an deiner Stelle sein und mit den Wildgänsen reisen wolle. Dann mußt du den Augenblick ergreifen und zu ihm sagen: …« Und nun lehrte Bataki den Jungen einige Wörter, die so kräftig und gefährlich waren, daß man sie nicht laut sagen, sondern nur flüstern konnte, bis die Zeit kam, wo man sie allen Ernstes gebrauchen sollte. »Ja, mehr gehört nicht dazu, daß du wieder Mensch werden kannst,« sagte Bataki schließlich.

»Nein, das will ich schon glauben,« entgegnete der Junge, »denn ich treffe natürlich niemals jemand, der sich an meine Stelle wünschen würde.«

»Ach, das ist doch nicht so unmöglich,« meinte der Rabe, und dann flog er mit dem Jungen in die Stadt und setzte ihn vor einem Mansardenfenster auf das Dach. In der Stube brannte eine Lampe, das Fenster war nur angelehnt, und Niels stand lange da und dachte, wie glücklich der Student sein müsse, der da drinnen lag und schlief.

Die Probe.

Der Student fuhr aus dem Schlaf auf und sah, daß die Lampe auf dem Nachttisch stand und brannte. »Ach, da habe ich vergessen, die Lampe auszulöschen,« dachte er und richtete sich auf dem Ellbogen auf, um sie herunterzuschrauben. Ehe er sie aber noch ausgelöscht hatte, gewahrte er, daß sich auf dem Schreibtisch etwas bewegte.

Die Stube war ganz klein. Es war nicht weit von dem Bett bis zum Tisch, und er konnte deutlich alle die Bücher, Papiere, Schreibsachen und Photographien sehen, die den Tisch bedeckten. Den Spirituskocher und das Teebrett hatte er ebenfalls stehen lassen, und die sah er auch. Das Merkwürdigste aber war, daß er ebenso deutlich wie all das andere einen kleinen Knirps sah, der über die Butterdose gebeugt stand und im Begriff war, sich ein Butterbrot zu streichen.

Der Student hatte an diesem Tage soviel erlebt, daß er fast gleichgültig dagegen war, was ihm begegnete. Er war weder verwundert noch bange, fand es aber ganz natürlich, daß der kleine Mann hereingekommen war und sich einen Bissen Brot holte.

Er legte sich hin, ohne die Lampe auszulöschen und lag mit halbgeschlossenen Augen da und sah dem Kleinen zu. Der hatte sich jetzt auf einen Briefbeschwerer gesetzt und saß da so seelenvergnügt und tat sich an den Überresten von dem Abendbrot des Studenten zugute. Man konnte sehr wohl merken, daß er die Mahlzeit so sehr wie möglich in die Länge zog. Er saß mit gen Himmel erhobenen Augen da und schmatzte zwischen jedem Mundvoll mit der Zunge. Die trockenen Brotscheiben und die alte Käserinde waren offenbar ein seltener Leckerbissen für ihn.

Der Student wollte ihn nicht stören, solange er aß, als es aber schien, als könne er nicht mehr, redete er ihn an.

»Hallo, du!« sagte er. »Was für einer bist denn du?«

Der Junge zuckte zusammen und lief nach dem Fenster, als er aber sah, daß der Student ruhig in seinem Bett liegen blieb und ihm nicht nachlief, hielt er inne. »Ich bin Niels Holgersen aus Wester-Vemmenhög,« sagte er, »und ich bin ein Mensch so wie du, aber ich bin in einen Kobold verwandelt, und seit der Zeit reise ich mit den Wildgänsen herum.«

»Das ist doch eine merkwürdige Geschichte,« sagte der Student und begann, Niels zu fragen und auszuforschen, bis er Bescheid über fast alles erhalten, was der Junge, seit er von Hause wegreiste, erlebt hatte.

»Du hast es, weiß Gott, gut,« sagte der Student. »Wer an deiner Stelle wäre und alle Sorgen hinter sich lassen könnte!«

Der Rabe stand draußen vor dem Fenster, und als der Student diese Worte sagte, klopfte er mit dem Schnabel an die Fensterscheibe. Der Junge verstand wohl, daß er ihn daran erinnern wollte, die Gelegenheit zu benutzen, falls der Student das rechte Wort sagen sollte. »Du brauchst mir nicht einzubilden, daß du mit mir tauschen würdest,« sagte der Junge. »Wer Student ist, kann sich doch nichts Besseres wünschen!«

»Dasselbe dachte ich noch heute morgen, als ich erwachte,« sagte der Student. »Aber du sollst nur wissen, was mir heute zugestoßen ist. Für mich ist alles aus. Es wäre wirklich das beste für mich, wenn ich mit den Wildgänsen auf und davon gehen könnte.«

Wieder hörte Niels Bataki gegen die Fensterscheibe klopfen; ihm selber wurde ganz schwindlig, und er bekam Herzklopfen, denn es sah ja fast so aus, als wolle der Student die richtigen Worte sagen.

»Ich habe dir erzählt, wie es mit mir steht,« sagte er zu dem Studenten. »Erzähle du mir nun, wie es mit dir steht!« Und der Student schien froh zu sein, daß er jemand hatte, dem er sich anvertrauen konnte, und er erzählte ganz ehrlich, was ihm heute begegnet war. »Das andere ist schließlich einerlei,« sagte der Student, als er geendet hatte. »Was ich aber nicht ertragen kann, ist der Gedanke, daß ich einen Kameraden ins Unglück gestürzt habe. Es wäre viel besser für mich, wenn ich in deinen Kleidern steckte und mit den Wildgänsen herumreiste.«

Bataki klopfte eifrig an die Fensterscheibe, aber der Junge saß lange still und stumm da und starrte vor sich nieder.

»Warte ein wenig! Du sollst gleich von mir hören,« sagte er mit leiser Stimme zu dem Studenten, und dann ging er zögernden Schrittes über den Schreibtisch und zum Fenster hinaus. Gerade als er auf das Dach hinauskam, ging die Sonne auf, und Upsala lag da, gebadet im Licht der Morgenröte. Es blinkte und blitzte von allen Zinnen und Türmen, und wieder mußte der Junge sich sagen, daß dies eine wahre Stadt der Freude sei.

»Was hattest du nur einmal?« sagte der Rabe. »Jetzt hast du die Gelegenheit, ein Mensch zu werden, verpaßt.«

»Ich habe keine Lust, mit dem Studenten zu tauschen,« sagte der Junge. »Ich würde ja nur Unannehmlichkeiten wegen der weggewehten Papiere bekommen.«

»Um die Papiere brauchst du dich nicht zu beunruhigen,« sagte der Rabe. »Die kann ich zur Stelle schaffen.«

»Ich zweifle nicht daran, daß du das kannst,« sagte der Junge, »aber ich bin nicht sicher, daß du es tun wirst. Die Sache muß ich erst im reinen haben.«

Bataki entgegnete kein Wort. Er breitete nur seine Flügel aus, flog davon und kam mit einigen Papierblättern zurück. So flog er nun eine ganze Weile hin und her, so fleißig wie eine Schwalbe, wenn sie Lehm für ihr Nest zusammenträgt, und brachte dem Jungen ein Stück Papier nachdem anderen. »So, nun glaube ich fest, daß du es alles beisammen hast,« sagte er schließlich und setzte sich ganz atemlos auf das Fensterbrett.

»Hab‘ vielen Dank!« sagte der Junge. »Nun gehe ich zu dem Studenten hinein und rede mit ihm.« Im selben Augenblick warf Bataki einen Blick in das Zimmer und sah den Studenten dastehen und die Papiere glätten und ordnen. »Du bist doch das größte Rindvieh, das mir jemals vorgekommen ist,« fuhr Bataki auf den Jungen ein. »Hast du dem Studenten die Handschrift gegeben? Dann kannst du dir den Weg zu ihm hinein sparen. Jetzt wird er nie im Leben wieder sagen, daß er gern an deiner Stelle sein möchte.«

Der Junge stand auch da und starrte den Studenten an; der war so froh, daß er im bloßen Hemd in seinem kleinen Zimmer herumtanzte. Dann wandte er sich an den Raben. »Ich verstehe sehr wohl, Bataki, daß du mich auf die Probe stellen wolltest,« sagte er. »Du glaubtest wohl, daß, wenn ich selbst es nur gut haben könnte, ich den Gänserich Martin auf dieser beschwerlichen Reise sich selbst überlassen würde. Aber als der Student seine Geschichte erzählte, mußte ich daran denken, wie häßlich es sei, einen Kameraden im Stich zu lassen, und das wollte ich denn doch nicht tun.«

Bataki kraute sich mit dem Fuß im Nacken und sah fast verlegen aus. Er wußte nichts hierauf zu erwidern, sondern flog mit dem Jungen zurück geradeswegs zu den Gänsen.