712. Die versunkene Kirche

Nahe bei Koburg fließt die Lauter in einem friedlichen Talgrunde, in welchem vorzeiten eine Stadt lag, darinnen wohnten lauter glückliche Menschen, die kein Leid kannten. Da nun der Tag Allerseelen kam, an dem man Leid trägt um die Verstorbenen, so sprachen die Leute in jener Stadt: Wozu sollen wir ein Fest der Wehklage feiern, da wir nichts zu wehklagen haben? Wir wollen diesen Tag nicht feiern. Da hat Gott der Herr ein Kindersterben gesandt, daß jene Leute einen großen und tiefen Schmerz haben sollten und sollten den Allerseelentag in Demut begehen und für die Gestorbenen beten – und es starben die Kinder alle und alle, und wurde der ganze Kirchhof voll neue Gräber an einem Tag, und war fast Mangel an Särgen. Da ging ein großer Trauerzug zur Kirche hin am Allerseelentag, und war in ihr nichts als Seufzen und Weinen und Wehklagen und ein unnennbares Gefühl des Schmerzes. Und wie der Herr den Schmerz dieser Väter und Mütter ansah, denen in den Kindern all ihr Glück genommen war, so jammerten sie sein, und erbarmte sich ihrer und ließ die Kirche und den Friedhof mit seinen Kindergräbern in die Tiefe versinken. Darauf ist die Stätte im Lautertale, wo die Stadt der Glücklichen stand, verödet. An manchen Feiertagen, und zumeist am Allerseelentag, hört man aus der Tiefe die Glocken der versunkenen Kirche läuten, und die Kinder der Dörfer im Lautergrunde wissen die Stelle, und erzählen einander die Sage, und lauschen still hinunter, und schauern und beten.

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