709. Das Seil des Schäfers

Zu Ahorn, sonst am Ahorn, daher auch vom Landvolk Mahren genannt, in der Gegend von Koburg, war früher auch eine berühmte Wallfahrt. Dort lebte eine alte Hexe, die hatte einen Grimm auf die Ahorner und brachte ihnen ein Wetter zuwege, daß sich vom Brausen des Sturmwindes, den sie erregte, die Turmspitze bog, und nun spöttelten die Nachbarn und sagten: Zu Ahorn steht es schief; der Ahorner Turm hat schräg geladen – und was dergleichen anzügliche Spottredereien mehr waren. Das tat ihnen mächtig leid, und schauten nach Hülfe umher, und da fand sich auch ein frommer Schäfer, der sah zwar keine Heiligen und Himmelskerzen, aber er sah, wo es fehlte, und versprach Abhülfe. Er nahm ein sehr langes und dickes Seil, das band er an die Spitze des Turmes und das andere Ende an eine Fichte, die noch am Bergesrande steht, und zog nun unter dem Murmeln von Zauberformeln die Turmspitze wieder gerade, so daß die Ahorner nun wieder Ruhe vor ihren spottlustigen Nachbarn hatten. Die Wetterhexe, deren Tücke aus der Ahorner Turmspitze eine schiefe Ebene gemacht hatte, wurde gebührendermaßen verbrannt, der Strick aber aufgehoben, und ist derselbe noch zu sehen, die Mär aber in das Kirchenbuch geschrieben.

Der Ahorn, der diesem Dorfe den Namen gab, und andern nicht minder, denn es gibt noch in derselben Gegend ein Frei-Ahorn, ein Kirch-Ahorn, ein Wüsten-Ahorn, war gewiß den heidnischen Vorfahren ein verehrter Baum, gleich Eiche, Buche und Linde. Sein schneller Wuchs, sein kräftiger hochaufschossender Stamm, sein schattengebendes Laub machten ihn den alten Deutschen nicht minder wert wie den Alt- und Neugriechen, und sicher nicht ohne Beziehung gaben sie ihm den Namen Ehre und sahen in seinen Blättern ein Sinnbild ausdauernder Festigkeit.

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