Hans Christian Andersen

Eine Geschichte aus den Sanddünen

Es ist eine Geschichte aus den jütländischen Sanddünen, die aber nicht in Jütland anhebt, sondern weit weg von dieser nördlichen Halbinsel, im Süden, in Spanien beginnt; das Meer ist die Straße zwischen den Ländern; versetze dich in Gedanken dorthin, hin nach dem sonnigen Spanien! Dort ist es warm und wunderherrlich, dort wachsen die feuerroten Granatblüten zwischen dunklen Lorbeerbäumen; von den Bergen weht ein frischer, labender Wind herab über die Orangengärten, über die prächtigen maurischen Hallen mit ihren goldenen Kuppeln und farbigen Wänden; durch die Straßen ziehen Kinder in Prozessionen mit Lichtern und flatternden Fahnen, und über Ihnen, hoch und klar, erhebt sich der Himmel mit funkelnden Sternen; Gesang und Kastagnetten erklingen, Burschen und Mädchen schwingen sich im Tanz unter blühenden Akazien, während der Bettler auf dem behauenen Marmorstein sitzt, sich an der saftigen Wassermelone labt und das Leben halb träumend genießt; es ist wie ein herrlicher Traum das Ganze, und sich dem hinzugeben -ja, das taten so recht zwei junge Neuvermählte, und ihnen waren auch alle Güter der Erde gegeben: Gesundheit, froher Sinn, Reichtum und Ehre.
„Wir sind so glücklich, wie nur irgend jemand es sein kann!“ sprachen sie aus vollster Herzensüberzeugung; doch noch eine Stufe des Glücks konnten sie erklimmen, wenn nämlich Gott ihnen ein Kind, einen Sohn, ihnen ähnlich an Körper und Seele, schenken wollte.
Das glückliche Kind würde mit Jubel begrüßt werden, die größte Sorgfalt und Liebe finden, all des Wohlseins und Reichtums teilhaftig werden, den eine einflußreiche Familie zu spenden vermag. Wie ein Fest verstrichen ihnen die Tage.
„Das Leben ist ein Gnadengeschenk der Liebe, eine fast unbegreiflich große Gabe!“ sprach die junge Frau, „und die Fülle der Glückseligkeit soll im jenseitigen Leben noch wachsen, und zwar ewig und immer -ich fasse diesen Gedanken nicht!“
„Und der Gedanke ist in der Tat auch Übermut des Menschen!“ versetzte der Mann. „Es ist im Grunde ein entsetzlicher Stolz, zu glauben, daß man ewig lebt -werden soll wie Gott! Waren es doch auch die Worte der Schlange, und sie war der Lüge Urheberin.“ „Du zweifelst doch nicht an einem Leben im Jenseits?“ fragte die junge Frau, und es war, als gleite zum ersten Mal ein Schatten durch ihr sonniges Gedankenreich.
„Der Glaube verheißt es, die Priester sagen es!“ sprach der junge Mann, „aber gerade in all meinem Glück fühle und erkenne ich, daß es ein Stolz, ein übermütiger Gedanke wäre, ein anderes Leben nach diesem, eine fortgesetzte Glückseligkeit zu verlangen -ist uns nicht in dem Erdendasein so viel gegeben, daß wir wohl zufrieden sein können und sein müssen?“
„Ja, uns ward es gegeben!“ sagte die junge Frau, „allein wie vielen Tausenden ward nicht dieses Leben zu einer schweren Prüfung; wie viele sind nicht in diese Welt hineingeworfen worden, gleichsam zur Armut nur, zur Schande, zur Krankheit und zum Unglück; nein, wenn es kein Leben nach diesem gäbe, dann wäre alles auf Erden zu ungleich verteilt, dann wäre Gott nicht die Gerechtigkeit!“
„Der Bettler dort unten hat Freuden, die er ebenso sehr schätzt, die ihn ebenso groß dünken, wie der König sie in seinem reichen Schloß hat!“ versetzte der Mann, „und glaubst du nicht, daß das Arbeitstier, das geprügelt wird, hungert und sich zu Tode schleppt, seine schweren Lebenstage empfindet! Das Tier könnte auch ein jenseitiges ewiges Leben fordern, es ein Unrecht heißen, daß es nicht in ein höheres Reich der Schöpfung gestellt wurde!“
„In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen, hat Christus gesagt“; antwortete die junge Frau, „das Himmelreich ist das Unendliche, wie Gottes Liebe unendlich ist -auch das Tier ist ein Geschöpf Gottes, und ich glaube fest daran, daß kein Leben verloren gehen wird, sondern all die Glückseligkeit genießen wird, die es empfangen kann und die ihm genügt.“
„Mir aber genügt nun diese Welt!“ rief der Mann und umschlang sein schönes, liebliches Weib, rauchte eine Zigarre auf dem offenen Altan, wo die kühle Luft erfüllt war mit dem Duft der Orangen und Nelken; Musik und Kastagnetten erklangen von der Straße herauf, die Sterne flimmerten von oben herab, und zwei Augen voller Liebe, die Augen seines Weibes, schauten ihn mit dem ewigen Leben der Liebe an.
„Eine solche Minute“, sprach er, „ist es wohl wert, daß man geboren wird, empfindet und -verschwindet!“ und er lächelte; die junge Frau hob die Hand mit mildem Vorwurf -und der Schatten auf ihrer Welt war wieder verschwunden, sie waren gar zu glücklich.
Und alles schien sich ihnen zu fügen, sie schritten voran in Ehre, in Wohlsein und Freude; ein Wechsel fand zwar statt, aber nur ein Ortswechsel, keiner im Genuß und in des Lebensfreude und Lust. Der
junge Mann wurde von seinem König als Gesandter an den kaiserlichen
Hof in Rußland geschickt, es war ein Ehrenamt, seine Geburt und seine
Kenntnisse gaben ihm ein Recht zu diesem Posten; ein großes Vermögen
besaß er, seine junge Frau hatte ihm ein nicht geringeres eingebracht, sie
war die Tochter eines reichen, angesehenen Kaufmannes. Eines der
größten, besten Schiffe dieses Kaufherrn sollte gerade in diesem Jahr nach
Stockholm gehen, es wurde bestimmt, daß es die lieben Kinder, Tochter
und Schwiegersohn, nach St. Petersburg führen solle, und an Bord ward
alles prächtig eingerichtet, reiche Teppiche für die Füße, Seide und Luxus
überall. Ein altes Heldenlied heißt: „Des Königs von England Sohn“; der segelte
auch an Bord eines prächtigen Schiffes, der Anker ward ausgelegt mit
rotem Gold, jedes Tau mit Seide durchflochten -an dieses Schiff mußte
man unwillkürlich denken, wenn man das aus Spanien sah, denn hier war
dieselbe Pracht, und derselbe Abschiedsgedanke drängte sich einem auf,
der Gedanke: Gott lasse uns alle in Freuden
einst wieder zusammenfinden! Und der Wind blies schön seewärts an der spanischen Küste, der Abschied
war nur ein kurzer; in wenigen Wochen würden sie das Ziel ihrer Reise
erreichen können; aber als sie auf die hohe See kamen, legte sich der
Wind, das Meer ward blank und still, die Sterne des Himmels strahlten, es
waren gleichsam Festabende, die in der reichen Kajüte verstrichen. Endlich wünschte man doch, daß es ein wenig Luft und Fahrtwind geben
möge, aber er blies nicht, und erhob sich ja einmal der Wind, da war es
immer Gegenwind; so vergingen Wochen, ja volle zwei Monde, erst dann
stellte sich der rechte Wind ein, er blies aus Südwest; das Schiff fuhr auf
der hohen See zwischen Schottland und Jütland, und der Wind nahm zu,
ganz wie in der alten Weise von „Des Königs von England Sohn.“ Da gab es ein Wetter und Wolkenguß,
kein Land, keinen Schutz sie fanden,
und sie warfen ihr Ankergold ­doch der Wind blies westeinwärts auf Dänemark. Das ist nun lange her. König Christian der Siebente saß damals auf dem
dänischen Thron und war noch ein junger Mann. Vieles ist seit der Zeit
geschehen, vieles hat gewechselt und sich verändert; See und Moorland
haben sich in grünende Wiesen verwandelt, Heide ist Ackerland geworden,
und im Schutz der Westjüten-Hütten wachsen Apfelbäume und Rosen,