In demselben Augenblick war der Wächter wieder Wächter, denn durch die Galoschen des Glückes war er der Leutnant geworden; aber, wie man sieht, fühlte er sich noch viel weniger zufrieden und wollte doch lieber das sein, was er eigentlich war. Also der Wächter war wieder Wächter.
„Das war ein häßlicher Traum!“ sagte er, „aber merkwürdig genug. Mir war, als sei ich der Leutnant da oben, und das war durchaus kein Vergnügen. Ich entbehrte Mutter und die Kleinen, die immer bereit sind, mir die Augen herauszuküssen!“
Da saß er nun wieder und nickte. Der Traum wollte ihm nicht recht aus dem Sinn, und die Galoschen saßen immer noch an seinen Füßen. Eine Sternschnuppe fiel leuchtend vom Himmel.
„Weg ist sie nun!“ sagte er, „aber es sind immer noch genug da! Mich gelüstete es wohl, mir die Dinger ein bißchen näher anzusehen, besonders den Mond, denn der verschwindet einem doch nicht unter den Händen. Wenn wir sterben, sagte der Student, für den meine Frau wäscht, fliegen wir von dem einen zum anderen. Das ist zwar eine Lüge, könnte aber ganz hübsch sein. Wenn ich den kleinen Sprung da hinauf machen könnte, so könnte meinetwegen der Körper gern hier auf der Treppe liegen bleiben!“
Seht, es gibt nun gewisse Dinge auf Erden, die mit Vorsicht zu genießen sind, ganz besonders aber soll man acht geben, wenn man die Galoschen des Glückes an den Füßen hat. . . Hört nur, wie es dem Wächter erging.
Was uns Menschen angeht, so kennen wir ja fast alle die Geschwindigkeit, die durch den Dampf erzeugt werden kann. Wir haben es entweder auf den Eisenbahnen oder mit den Schiffen über das Meer erprobt, doch ist dieser Flug wie die Wanderung des Faultieres oder der Gang der Schnecke, gemessen „an der Schnelligkeit des Lichts. Es fliegt neunzehnmillionenmal schneller als der beste Wettläufer. Und doch ist die Elektrizität noch schneller. Der Tod ist ein elektrischer Stoß in unser Herz; auf den Schwingen der Elektrizität fliegt die befreite Seele. Acht Minuten und wenige Sekunden braucht das Sonnenlicht zu einer Reise von über zwanzig Millionen Meilen. Mit der Eilpost der Elektrizität braucht die Seele noch weniger Minuten, um denselben Flug zu machen. Der Raum zwischen den Weltkörpern ist für sie nicht größer, als für uns der Raum zwischen den Häusern unserer Freunde in ein und derselben Stadt, selbst wenn diese ziemlich nahe beieinander liegen sollten. Indessen kostet uns dieser elektrische Herzstoß den Gebrauch unserer Glieder hier auf der Erde, falls wir nicht, wie der Wächter hier, die Galoschen des Glücks anhaben. In wenigen Sekunden war der Wächter die 52 000 Meilen zum Mond hinauf gefahren, der, wie man weiß, aus einem viel leichteren Stoff geschaffen ist als unsere Erde und weich wie frischgefallener Schnee. Er befand sich auf einem der unzählbar vielen Ringberge, die wir aus Dr. Mädlers großer Mondkarte kennen. Denn die kennst du doch? Innerhalb fiel der Ringberg steil ab in einen Kessel, der sich eine ganze dänische Meile weit hinzog. Dort unten lag eine Stadt, die aussah, wie wenn man Eiweiß in ein Glas Wasser schlägt, ebenso weich und mit ähnlich gekuppelten Türmen und segelförmigen Altanen, durchsichtig und fließend in der dünnen Luft. Unsere Erde schwebte gleich einer großen feuerroten Kugel über seinem Haupt.
Da gab es viele Geschöpfe, die wir sicher mit „Menschen“ bezeichnen würden, aber sie sahen ganz anders aus, als wir, sie hatten auch eine Sprache; aber niemand kann ja verlangen, daß des Wächters Seele sie verstehen konnte. Trotzdem konnte sie es.
Des Wächters Seele verstand die Sprache der Mondbewohner sehr gut. Sie disputierten über unsere Erde und bezweifelten, daß sie bewohnt wäre, die Luft müsse dort viel zu dick sein, als daß irgendein vernünftiges Mondgeschöpf darin leben könnte. Sie glauben daß der Mond allein lebende Wesen beherberge.
Aber wenden wir uns wieder herab in die Oststraße und sehen wir, wie es dem Körper des Wächters erging.
Leblos saß er auf der Treppe, der Spieß war ihm aus der Hand gefallen, und die Augen blickten zum Monde hinauf zu der ehrlichen Seele, die da oben spazierte.
„Was ist die Uhr, Wächter?“ fragte ein Vorbeigehender. Aber wer nicht antwortete, war der Wächter. Da gab ihm der Mann einen sachten Nasenstüber. Aber nun war es aus mit dem Gleichgewicht. Da lag der Körper, so lang er war, der Mensch war tot. Der, der ihm den Nasenstüber verabreicht hatte, erschrak von Herzen. Der Wächter war tot, und tot blieb er auch. Es wurde gemeldet und besprochen, und in der Morgenstunde trug man den Körper aufs Hospital hinaus.
Das konnte ja ein netter Spaß für die Seele werden, wenn sie zurückkehrte und aller Wahrscheinlichkeit nach den Körper in der Oststraße suchen ging und ihn nicht fand. Zuerst würde sie sicherlich auf die Polizei laufen, damit von dort aus unter den verlorenen Sachen nachgesucht würde, und zuletzt nach dem Hospital hinaus; doch wir können uns damit trösten, daß die Seele am klügsten tut, wenn sie auf eigene Faust handelt. Der Körper macht sie nur dumm.

Wie gesagt, des Wächters Körper kam aufs Hospital und wurde dort in die Reinigungskammer gebracht. Das erste, was man dort tat, war natürlich, die Galoschen auszuziehen, und da mußte die Seele zurück. Sie schlug sogleich die Richtung nach dem Körper ein, und mit einemmal kam Leben in den Mann. Er versicherte, daß dies die schrecklichste Nacht in seinem gewesen sei, und dies nicht für einen Taler noch einmal durchmachen wolle, aber nun war es ja überstanden.
Am selben Tage wurde er wieder entlassen, aber die Galoschen blieben im Hospital. 4. Ein Hauptmoment. Eine Deklamationsnummer.
Eine höchst ungewöhnliche Reise.
Ein jeder Kopenhagener weiß, wie der Eingang zum Friedrichshospital aussieht, aber da wahrscheinlich auch einige Nicht-Kopenhagener diese Geschichte lesen werden, müssen wir eine kurze Beschreibung geben.
Das Hospital ist von der Straße durch ein ziemlich hohes Gitter getrennt, in welchem die dicken Eisenstangen so weit voneinander abstehen, daß, wie erzählt wird, sich sehr dünne Leute hindurch geklemmt haben und auf diesem Wege ihre kleinen Visiten abgemacht haben. Der Körperteil, der am schwierigsten hinauszupraktizieren war, war der Kopf. Hier, wie überall in der Welt, waren also die kleinen Köpfe die glücklichsten. Das wird als Einleitung genügen.
Einer der Jungen Hülfsärzte, von dem man nur in körperlicher Hinsicht behaupten konnte, daß er einen großen Kopf habe, hatte gerade an diesem Abend Wache. Es war strömender Regen, doch ungeachtet dieser beiden Hindernisse mußte er hinaus, nur auf eine Viertelstunde, aber es war nichts so Wichtiges, daß es dem Pförtner gemeldet werden mußte, wenn man durch die Eisenstangen hinausschlüpfen konnte. Da standen die Galoschen, die der Wächter vergessen hatte. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß es die des Glückes sein könnten. Aber in diesem Wetter waren sie gut zu gebrauchen; er zog sie an. Nun kam es darauf an, ob er sich hindurchklemmen konnte, er hatte es früher nie versucht. Da stand er nun.
„Gotte gebe, daß ich erst den Kopf draußen habe!“, sagte er und sogleich, obgleich er sehr dick und groß war, glitt er leicht und glücklich hindurch, das mußten die Galoschen verstehen; aber nun sollte der Körper auch hinaus, der stand noch drinnen.

„Ach Gott, ich bin zu dick!“ sagte er, „ich habe geglaubt, der Kopf sei das
schlimmste! Ich komme nicht hindurch.“ Nun wollte er schnell den Kopf zurückziehen, aber das ging nicht. Den
Hals konnte er zwar bequem bewegen, aber das war auch alles. Das erste
Gefühl war, daß er sich ärgerte, das zweite, daß seine Laune unter Null
fiel. Die Galoschen des Glückes hatten ihn in die unangenehmste Lage
gebracht, und unglücklicherweise verfiel er nicht auf den Gedanken, sich
frei zu wünschen, nein, er handelte und kam daher nicht von der Stelle.
Der Regen strömte nieder, nicht ein Mensch war auf der Straße zu sehen.
Die Torglocke konnte er nicht erreichen. Wie sollte er nur loskommen! Er
sah voraus, daß er bis zum Morgen hier stehen könne. Dann mußte man
erst nach einem Schmied senden, damit die Eisenstangen durchgefeilt
werden könnten. Aber das ging auch nicht so geschwind. Die ganze
Knabenschule gerade gegenüber würde auf die Beine kommen; alle
Krankenhausinsassen würden zusammen laufen, um ihn am Pranger zu
sehen. Er würde eine ganz andere Attraktion abgeben, als die
Riesenagave im vorigen Jahr. „Ach je, das Blut steigt mir zu Kopfe rein
zum irrsinnig werden! Ja, ich werde verrückt! Ach wäre ich doch erst
wieder heraus, dann ginge es wohl vorüber!“ Seht, hätte er das ein wenig früher gesagt! Augenblicklich, der Gedanke
war kaum ausgesprochen, so war sein Kopf auch schon frei, und er stürzte
nun hinein, ganz verstört über den Schreck, den ihm die Galoschen des
Glückes gebracht hatten. Nun brauchen wir nicht etwa zu glauben, daß das Ganze hiermit vorüber
sei, nein, es kommt noch schlimmer. Die Nacht und der folgende Tag vergingen, und die Galoschen wurden
nicht abgeholt. Am Abend sollte eine Vorstellung in einem kleinen Theater stattfinden.
Das Haus war gepfropft voll. Unter anderen Darbietungen wurde auch ein
Gedicht vorgetragen; „Tante’s Brille“ hieß es und handelte von einer Brille,
durch die gesehen die Menschheit offen wie ein Kartenspiel vor einem lag,
so daß man aus dessen Blättern und Figuren die nächste Zukunft mit
ihren Geschehnissen voraussehen konnte. Das Gedicht wurde meisterlich vorgetragen und der Deklamator machte
großes Glück damit. Unter den Zuschauern war auch der junge Hülfsarzt
vom Hospital, der sein Abenteuer von der letzten Nacht bereits vergessen
zu haben schien. Er hatte die Galoschen an, denn sie waren immer noch
nicht abgeholt worden, und die Straßen waren schmutzig, sodaß sie ihm
gute Dienste leisten konnten.
Das Gedicht gefiel ihm. Die Idee, solche Brille zu besitzen, beschäftigte ihn sehr. Vielleicht konnte man, wenn man sie richtig gebrauchte, den Leuten auch ins Herz hinein schauen. Er hätte das interessanter gefunden, als in die nächste Zukunft schauen zu können; denn das bekommt man ja nach und nach doch zu er fahren. Dagegen, wie es in den Herzen der Anderen aussieht, erfährt man niemals. „Ich denke mir nun die ganze Reihe von Herren und Damen auf der ersten Bank -könnte man ihnen gerade ins Herz hineinsehen, ja dann müßte doch eine Öffnung dazu da sein, so eine Art Laden. Ei, wie würden meine Augen im Laden umherschweifen! Bei dieser Dame dort würde ich sicher einen großen Modehandel finden! Bei dieser hier ist wohl der Laden leer, doch könnte eine Säuberung nichts schaden. Aber es würden wohl auch solide Läden zu finden sein! „Ach ja,“ seufzte er, „ich weiß wohl einen solchen Laden, in dem alles solide ist, aber es ist schon ein Gehülfe drinnen, das ist das einzige Üble an dem ganzen Laden! Aus dem einen oder anderen würde wohl auch gerufen: „Bitte sehr, treten Sie nur ein!“ Ja, ich möchte wohl gern hinein, könnte man nur wie ein netter kleiner Gedanke durch die Herzen wandern!“
Seht, das genügte wieder für die Galoschen. Der ganze Hülfsarzt schrumpfte zusammen, und eine höchst ungewöhnliche Reise begann mitten durch die Herzen der ersten Reihe der Zuschauer. Das erste Herz, durch das er kam, gehörte einer Dame; aber augenblicklich glaubte er in ein orthopädisches Institut gekommen zu sein, wo der Arzt den Menschen Knoten wegmassiert, und Gipsabgüsse von verwachsenen Gliedern an den Wänden hängen, doch war der Unterschied der, daß in einem solchen Institut die Abgüsse genommen werden, wenn die Patienten hinkommen, aber hier im Herzen wurden sie genommen und aufbewahrt, wenn die guten Leute hinausgegangen waren. Es waren Abgüsse von körperlichen und geistigen Fehlern der Freundinnen, die hier aufbewahrt wurden.
Schnell war er bereits in einem anderen weiblichen Herzen, aber es erschien ihm wie eine große heilige Kirche. Der Unschuld weiße Taube flatterte um den Hochaltar, wie gerne wäre er in die Knie gesunken, aber fort mußte er, ins nächste Herz hinein; aber er hörte noch die Orgeltöne und fühlte, daß er selbst ein neuer und besserer Mensch geworden und nicht unwürdig war, ein neues Heiligtum zu betreten. Das zeigte ihm eine ärmliche Dachkammer mit einer kranken Mutter darin. Aber durch die offenen Fenster strahlte Gottes warme Sonne, herrliche Rosen nickten aus dem kleinen Blumenkasten auf dem Dache, und zwei himmelblaue Vögel sangen von kindlichen Freuden, während die kranke Mutter Gottes Segen auf die Tochter herabflehte.

Nun kroch er auf Händen und Füßen durch einen überfüllten Schlächterladen. Da war Fleisch und immer nur Fleisch, worauf er auch stieß; es war das Herz eines reichen, geachteten Mannes, dessen Name allgemein bekannt war. Nun war er im Herzen seiner Gemahlin. Das war ein alter, verfallener Taubenschlag. Das Bild des Mannes wurde nur als Wetterhahn gebraucht, der mit den Türen in Verbindung stand, und so öffneten und schlossen sie sich, je nachdem der Mann sich drehte.
Darauf kam er in ein Spiegelkabinett, wie das, was wir im Rosenborg-Schloß haben. Aber die Spiegel Vergrößerten in unglaublichem Maße. Mitten auf dem Fußboden saß, wie ein Dalai-Lama, das unbedeutende Ich dieser Person in erstaunter Bewunderung seiner eigenen Größe.
Hierauf glaubte er sich in einer engen Nadelbüchse eingeschlossen, die voller spitziger Nadeln war. „Das ist bestimmt das Herz einer alten unverheirateten Jungfrau!“ mußte er denken, aber das war nicht der Fall; es war ein ganz junger Militär mit mehreren Orden, ein Mann der, wie man zu sagen pflegt, Geist und Herz just auf dem rechten Fleck hat.
Ganz betäubt kam der arme Sünder von Hülfsarzt aus dem letzten Herzen in der Reihe. Er vermochte kaum, seine Gedanken zu ordnen und dachte, daß seine allzufeurige Phantasie mit ihm durchgegangen sei.
„Herr Gott,“ seufzte er, „ich habe bestimmt Anlage dazu,` den Verstand zu verlieren. Hier drinnen ist es auch unverzeihlich heiß! Das Blut steigt mir zu Kopf!“ Und nun erinnerte er sich plötzlich der großen Begebenheit von gestern Nacht, wie er mit dem Kopfe zwischen den Eisenstangen vor dem Hospital fest gesessen hatte. „Dabei habe ich mir sicherlich etwas geholt!“ meinte er. „Ich muß bei Zeiten etwas dagegen tun. Russisches Bad würde vielleicht gut tun. Wenn ich nur erst auf dem obersten Brett läge!“
Und da lag er auf dem obersten Brett im Dampfbad, aber er lag da mit allen Kleidern, mit Stiefeln und Galoschen. Die heißen Wassertropfen von der Decke tröpfelten ihm ins Gesicht.
„Hu!“ schrie er und fuhr hinab, um ein Sturzbad zu nehmen. Der Aufwärter gab auch einen lauten Schrei von sich, als er den völlig bekleideten Menschen hier drinnen entdeckte.
Der Hülfsarzt hatte indessen gerade noch soviel Fassung, um ihm zuzuflüstern: „Es war wegen einer Wette!“ Das erste jedoch, was er tat, als er auf sein eigenes Zimmer kam, war, sich ein großes spanisches Zugpflaster auf den Nacken und eins unten auf den Rücken zu legen, damit die Verrücktheit herausgezogen würde.

Am nächsten Morgen hatte er einen blutigen Rücken, das war alles, was er durch die Galoschen des Glückes gewonnen hatte. 5. Die Verwandlung des Schreibers.
Der Wächter, den wir sicher noch nicht vergessen haben, gedachte mittlerweile der Galoschen, die er gefunden und mit nach dem Hospital hinausgebracht hatte. Er holte sie ab, aber da weder der Leutnant, noch irgend ein anderer in der Straße sich zu ihnen bekennen wollte, wurden sie auf der Polizei abgeliefert.
„Sie sehen genau wie meine Galoschen aus!“, sagte einer der Herren Schreiber, indem er den Fund betrachtete und sie an die Seite der seinigen stellte. „Da gehört mehr als ein Schuhmacherauge dazu, um sie auseinander zu halten!“
„Herr Schreiber!“ rief ein Diener, der mit einigen Papieren hereintrat.
Der Schreiber wandte sich um und sprach mit dem Manne. Aber als das erledigt war, und er auf die Galoschen sah, befand er sich sehr im Ungewissen, ob die zur Linken oder zur Rechten es waren, die ihm gehörten. „Es müssen die sein, die naß sind,“ dachte er, aber das war gerade fehlgeraten, denn es waren die des Glückes; aber warum sollte die Polizei sich nicht auch einmal irrem Er zog sie an, steckte einige Papiere in die Tasche, andere nahm er unter den Arm, denn sie sollten zuhause durchgelesen und abgeschrieben werden; aber da es gerade Sonntagvormittag und das Wetter gut war, dachte er: „ein Spaziergang nach Friedrichsburg würde mir gut tun!“ und so ging er dorthin.
Niemand konnte ruhiger und fleißiger sein, als dieser junge Mann. Wir gönnen ihm diesen kleinen Spaziergang von Herzen, denn er würde ihm gewiß wohltun nach dem vielen Sitzen. Anfangs ging er dahin, ohne an etwas zu denken; daher hatten die Galoschen keine Gelegenheit, ihre Zauberkraft zu beweisen.
In der Allee traf er einen Bekannten, einen jungen Dichter, der ihm erzählte, daß er am nächsten Tage seine Sommerreise beginnen werde.
„Nun, soll es schon wieder fortgehen“ sagte der Schreiber. „Sie sind doch ein glücklicher, freier Mensch. Sie können fliegen, wohin Sie wollen, wir anderen haben eine Kette am Fuße!“
„Aber sie sitzt am Brotbaum fest!“ antwortete der Dichter. „Sie brauchen nicht für den kommenden Tag zu sorgen, und wenn Sie alt sind, bekommen Sie Pension!“

„Sie haben es doch am besten!“ sagte der Schreiber, „dazusitzen und zu dichten ist doch ein Vergnügen! Alle Welt sagt Ihnen Angenehmes, und Sie sind Ihr eigener Herr! ja, Sie sollten es nur einmal probieren, im Gericht zu sitzen bei den langweiligen Sachen!“
Der Dichter schüttelte mit dem Kopfe, und der Schreiber schüttelte auch mit dem Kopfe. Jeder blieb bei seiner Meinung und dann schieden sie voneinander.
„Es ist doch ein Völkchen für sich, diese Dichter!“ sagte der Schreiber. Ich möchte wohl einmal versuchen, in solche Natur hineinzuschlüpfen, selbst ein Dichter zu werden. Ich glaube bestimmt, daß ich nicht solche Klagelieder wie die anderen schreiben würde! -Das ist so recht ein Frühlingstag für einen Dichter! Die Luft ist ungewöhnlich klar, die Wolken so schön, und es duftet nach all dem Grünen! Ja, viele Jahre lang habe ich das nicht so stark gefehlt, wie in diesem Augenblick.“
Wir merken schon, daß er ein Dichter geworden war. Es fiel zwar nicht jedem sogleich in die Augen, denn es ist eine törichte Vorstellung, sich einen Dichter anders als andere Menschen zu denken, in denen weit mehr poetische Natur stecken kann, als in manchem anerkannten Dichter. Der Unterschied zeigt sich nur in dem besseren geistigen Gedächtnis des Dichters, mit dem er die Gedanken und Gefühle bewahren kann, bis sie klar und deutlich in Worte gefaßt dastehen. Das können die anderen nicht. Aber von einer Alltagsnatur in eine begabte sich zu wandeln, ist immer einÜbergang, und den hatte der Kopist nun überstanden.
„Der herrliche Duft!“ sagte er, „wie erinnert er mich an die Veilchen bei Tante Lene! Ja, damals war ich noch ein kleiner Knabe! Herrgott, wie lange ist das her, daß ich daran gedacht habe! Das gute, alte Mädchen, sie wohnte da um die Börse herum. Immer hatte sie einen Zweig oder ein paar grüne Schößlinge im Wasser stehen, der Winter mochte noch so strenge sein. Die Veilchen dufteten, während ich die angewärmten Kupferschillinge gegen die gefrorenen Scheiben preßte und Gucklöcher machte. Das gab einen hübschen Blick. Draußen im Kanal lagen die Schiffe eingefroren und von der ganzen Mannschaft verlassen. Eine schreiende Krähe war die einzige Besatzung. Aber wenn das Frühjahr herangeweht kam, dann wurde es dort lebendig. Unter Gesang und Hurrarufen sägte man das Eis entzwei. Die Schiffe wurden geteert und aufgetakelt, und dann fuhren sie nach fremden Ländern. Ich bin hier geblieben, und muß hier bleiben, immer in der Polizeistube sitzen und zusehen, wie die Anderen Pässe ins Ausland nehmen; das ist mein Los! Ach, ja!“ seufzte er tief, aber plötzlich blieb er stehen. „Herrgott, was ist denn nur mit mir los? So etwas habe ich doch niemals früher gedacht oder

gefühlt! Es muß die Frühjahrsluft sein. Das ist zugleich bedrückend und angenehm!“ Er griff in die Tasche nach seinen Papieren. „Die werden mich schon auf andere Gedanken bringen!“ sagte er und ließ die Augen über das erste Blatt schweifen.. „Frau Sigbrith, Tragödie in fünf Akten,“ las er, „was ist denn das! das ist ja meine eigene Handschrift! Habe ich die Tragödie geschrieben?“ Die Verschwörung auf dem Wall oder der Bußtag, Singspiel“. -Aber wo kommt denn das her? Man muß es mir in die Tasche geschoben haben; hier ist ein Brief ?“ Der war von der Theater-Direktion. Die Stücke waren abgelehnt, und der Brief selbst war nicht gerade höflich abgefaßt. „Hm, hm“ sagte der Schreiber und setzte sich auf eine Bank nieder. Seine Gedanken waren angeregt und sein Herz weich gestimmt. Unwillkürlich pflückte er eine Blume ab. Es war ein einfaches kleines Gänseblümchen. Was die Botaniker uns erst in vielen Vorlesungen erklären können, verkündete es in einer Minute. Es erzählte das Märchen seiner Geburt, von der Kraft des Sonnenlichtes, das die feinen Blättchen ausbreitete und sie zu duften zwang. Und er dachte an den Lebenskampf, der gleichfalls die Gefühle in uns erweckt. Luft und Licht buhlten um die Blume, aber das Licht war der Begünstigtere. Nach dem Lichte wendete sie sich und verschwand es, so rollte sie ihre Blätter zusammen und schlummerte in den Armen der Luft ein. „Es ist das Licht, das mich verschönt!“ sagte die Blume. „Aber die Luft läßt dich atmen!“ flüsterte des Dichters Stimme.
Dicht daneben stand ein Knabe und schlug mit seinem Stock in einen sumpfigen Graben. Die Wassertropfen spritzten bis in die grünen Zweige hinauf, und der Schreiber dachte an die Millionen unsichtbarer Tiere, die mit den Tropfen in eine Höhe geschleudert wurden, die ihnen im Verhältnis zu ihrer Größe ungefähr so erscheinen mochte, wie es für uns wäre, wenn wir hoch über die Wolken hinaus gewirbelt würden. Während der Schreiber hierüber und über die ganze Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, nachdachte, lächelte er: „Ich schlafe und träume! Merkwürdig ist es gleichwohl, wie lebenswahr man träumen kann und doch dabei selbst wissen, daß es nur ein Traum ist. Wenn ich ihn mir doch morgen beim Erwachen noch ins Gedächtnis zurückrufen könnte. Mir scheint nämlich, daß ich ganz ungewöhnlich gut aufgelegt bin. Ich habeeinen klaren Überblick über alle Dinge, fühle mich so empfänglich für alles, aber ich bin sicher, wenn ich morgen wirklich etwas davon behalten haben sollte, so ist es verworrenes Zeug. So ist es mir bisher immer ergangen! Es geht mit allem dem Klugen und Prächtigen, das man im Traume hört oder sagt wie mit dem Golde der Unterirdischen: wenn man es bekommt, ist es Pracht und Herrlichkeit, aber bei Lichte besehen sind es nur Steine und trockene Blätter. „Ach,“ seufzte er ganz wehmütig und sah auf die singenden Vögel, die so fröhlich von Zweig zu Zweig hüpften,

„sie haben es viel besser als ich! Fliegen, das ist eine herrliche Kunst, glücklich der, dem sie angeboren ist! Ja, wenn ich mich in etwas verwandeln könnte, so möchte ich so eine kleine Lerche sein!“
Sogleich entfalteten sich seine Rockschöße und Ärmel als Flügel, die Kleider wurden zu Federn und die Galoschen zu Krallen. Er merkte es recht gut und lachte innerlich: „So, nun weiß ich doch wenigstens, daß ich träume, aber so etwas närrisches ist mir bisher noch nicht vorgekommen!“ Und dann flog er hinauf in die grünen Zweige und sang. Aber das war gar nicht mehr poetisch, denn die Dichternatur war fort. Die Galoschen konnten, wie jeder, der seine Sache gründlich macht, nur ein Ding auf einmal ausführen. Er wollte ein Dichter werden. Das war er geworden. Nun wollte er kleiner Vogel sein, aber indem er es wurde, verlor er die vorigen Eigenschaften.
„Das ist ja recht niedlich!“ sagte er, „am Tage sitze ich auf der Polizei zwischen den trockensten Abhandlungen, und nachts im Traum kann ich als Lerche im Friedrichsberg-Garten herumfliegen. Daraus ließe sich wirklich ein Theaterstück machen!“
Nun flog er in das Gras hinunter, drehte den Kopf nach allen Seiten und pickte mit dem Schnabel in die geschmeidigen Grashalme, die im Verhältnis zu seiner jetzigen Größe, ihm lang wie die Palmen Afrikas erschienen.
Das dauerte einen Augenblick, und dann wurde es kohlschwarze Nacht um ihn her. Ein, wie es ihm vorkam, ungeheurer Gegenstand wurde ihm über den Kopf geworfen. Es war eine große Mütze, die ein Knabe über den Vogel geworfen hatte. Eine Hand faßte hinein und griff den Schreiber um Rücken und Flügel, daß er vor Schmerz piepte. Im ersten Schrecken schrie er laut: „Du unverschämter Bengel! Ich bin Schreiber bei der Polizei!“ Aber für den Knaben klang es nur wie ein „Piep Piep“! Er gab dem Vogel eins auf den Schnabel und wanderte davon.
In der Allee begegnete er zwei Schülern aus dem Gymnasium. Die kauften den Vogel für acht Schillinge, und so kam der Schreiber nach Kopenhagen zu einer Familie in der Gotenstraße.
„Es ist gut, daß ich nur träume!“ sagte der Schreiber, „sonst würde mir die Galle überlaufen! Erst war ich ein Dichter und jetzt eine Lerche! Es ist sicher die Dichternatur, die mir zu diesem Lerchendasein verholfen hat. Aber das ist ein jämmerlich Ding, besonders, wenn man diesen Jungen in die Hände fällt! Ich möchte wissen, wie das noch ablaufen wird?“
Die Knaben brachten ihn in ein gut ausgestattetes Zimmer. Eine dicke, lächelnde Frau kam ihnen entgegen, aber erfreut war sie nicht gerade,

daß der gewöhnliche Feldvogel, wie sie die Lerche nannte, mit hereinkam. Doch für heute wollte sie nichts sagen, und sie durften ihn in das leere Bauer setzen, das beim Fenster stand!
„Vielleicht macht es Papchen Spaß!“ fügte sie hinzu und lachte zu einem großen grünen Papagei hinüber, der vornehm in seinem Ringe in einem prächtigen Messingbauer schaukelte. „Es ist Papchens Geburtstag, sagte sie ein wenig kindisch, „da kommt der kleine Feldvogel gratulieren!“
Papchen antwortete nicht ein einziges Wort, sondern schaukelte vornehm auf und ab. Dagegen begann ein hübscher Kanarienvogel, der im letzten Sommer aus seiner warmen, duftenden Heimat hierher gebracht worden war, laut zu singen.
„Schreihals!“ sagte die Frau und warf ein weißes Taschentuch über das Bauer.
„Piep, piep!“ seufzte er, „das schreckliche Schneewetter!“ und mit diesem Seufzer verstummte er.
Der Schreiber, oder wie die Frau sagte, der Feldvogel, kam in ein kleines Bauer dicht neben den Kanarienvogel und nicht weit entfernt von dem Papagei. Die einzige Redensart, die Papchen hervorschnattern konnte, und die zuzeiten recht komisch klang, war: „nein, nun laßt uns Menschen sein!“ Alles übrige, was er schnatterte, war ebenso unverständlich wie des Kanarienvogels Gezwitscher, aber nicht für den Schreiber, der ja selbst ein Vogel war. Er verstand die Kameraden ausgezeichnet.
„Ich flog unter der grünen Palme und dem blühenden Mandelbaum!“ sang der Kanarienvogel, „ich flog mit meinen Brüdern und Schwestern hin, über die prächtigen Blumen und den glasklaren See, auf dessen Grunde sich Pflanzen wiegten. Ich sah auch viele herrliche Papageien, die die schönsten Geschichten erzählten, lang und viel!“
„Das waren wilde Vögel,“ erwiderte der Papagei, „sie waren ohne Bildung. Nein, laßt uns nun Menschen sein! -Warum lachst du nicht? Wenn die Frau und alle die Gäste darüber lachen können, so kannst du es auch. Es ist ein großer Mangel, wenn man keinen Sinn für Humor hat. Nein, laßt uns nun Menschen sein!“
„O denkst du noch der schönen Mädchen, die unter dem ausgespannten Zelt bei den blühenden Bäumen tanzten!? Gedenkst du der süßen Früchte und des kühlenden Saftes in den wild wachsenden Kräutern?“
„O ja,“ sagte der Papagei, „aber hier habe ich es viel besser! Ich habe gutes Essen und individuelle Behandlung. Ich weiß, ich bin ein guter Kopf, und mehr verlange ich nicht. Laßt uns nun Menschen sein! Du bist eine

Dichterseele, wie sie es nennen; ich habe gründliche Kenntnisse und Witz. Du hast Genie aber keine Besonnenheit. Du versteigst dich zu den höchsten Tönen und darum decken Sie dich zu. Mir bieten sie das nicht! nein! denn ich habe sie mehr gekostet! Ich halte sie mit meinem Schnabel in Schach und kann einen Witz! Witz! Witz! machen, nein, nun laßt uns Menschen sein!“
„O, mein warmes, blühendes Vaterland!“ sang der Kanarienvogel. „Ich will von deinen dunkel grünenden Bäumen singen, von deinen stillen Meeresbuchten, wo die Zweige den klaren Wasserspiegel küssen, singen von dem Jubel aller meiner schimmernden Brüder und Schwestern, wo der Wüste Pflanzenquellen wachsen!“
„Hör doch auf mit den Jammertönen!“ sagte der Papagei. Sage doch etwas, worüber man lachen kann! Lachen ist das Kennzeichen des erhabensten geistigen Standpunktes. Sieh, ob ein Pferd oder ein Hund lachen kann! Nein, weinen können sie, aber das Lachen ist nur den Menschen gegeben. „Ho ho ho!“ lachte Papchen und fügte seinen Witz hinzu: „Nun laßt uns Menschen sein!“
Du kleiner grauer Vogel,“ sagte der Kanarienvogel, „Du bist auch ein Gefangener! Es ist sicherlich kalt in deinen Wäldern, aber dort ist doch Freiheit. Fliege hinaus! -Sie haben vergessen, dich Einzuschließen; das oberste Fenster steht offen. Fliege! Fliege!“
Und das tat der Schreiber. Husch! war er aus dem Bauer. In diesem Augenblick knarrte die halboffene Tür, die ins Nebenzimmer führte und geschmeidig, mit grünen, funkelnden Augen schlich die Hauskatze herein und machte auf ihn Jagd. Der Kanarienvogel flatterte in dem Bauer und der Papagei schlug mit den Flügeln und rief: „Nun laßt uns Menschen sein!“ Der Schreiber fühlte den tödlichsten Schreck und flog durch das Fenster davon über Häuser und Straßen. Zuletzt mußte er sich ein wenig ausruhen. Das gegenüberliegende Haus erschien ihm heimisch. Ein Fenster stand offen, er flog hinein, es war sein eigenes Zimmer; er setzte sich auf den Tisch.
„Nun laßt uns Menschen sein!“ sagte er gedankenlos, wie er es von dem Papagei gehört hatte, und im selben Augenblick war er wieder Schreiber, aber er saß auf dem Tische.
„Gott bewahre!“ sagte er, wie bin ich denn hier hinauf gekommen und in Schlaf gefallen! Das war ein recht unruhiger Traum. Nichts wie dummes Zeug war die ganze Geschichte!“ 6. Das Das Beste, was die Galoschen brachten.

Zeitig morgens am folgenden Tage, als der Schreiber noch im Bette lag,
klopfte es an seine Tür; es war sein Nachbar aus derselben Etage, ein
Student, der Pastor werden wollte. Er trat ein. Leihe mir deine Galoschen,“ sagte er, „es ist so naß im Garten, aber die
Sonne scheint herrlich, ich möchte eine Pfeife Tabak da unten rauchen.“ Er zog die Galoschen an und war bald unten im Garten, der einen
Pflaumenbaum und einen Birnenbaum enthielt. Selbst ein so kleiner
Garten, wie dieser, gilt in Kopenhagen für eine große Herrlichkeit. Der Student wanderte im Gange auf und ab. Es war erst sechs Uhr.
Draußen von der Straße erklang ein Posthorn. „O, reisen! reisen!“ rief er laut, „das ist doch das größte Glück in der Welt!
Das ist meiner Wünsche höchstes Ziel! Das würde die Unruhe, die mich
quält, stillen. Aber weit fort müßte es sein! Ich möchte die herrliche
Schweiz sehen, nach. Italien fahren und -“ Es war gut, daß die Galoschen
sofort wirkten, sonst würde er allzu weit herumgekommen sein sowohl für
seinen Geschmack als auch für den unseren. Er reiste; er war mitten in
der Schweiz aber mit acht Anderen in einer Postkutsche
zusammengepackt. Er hatte Kopfschmerzen, einen steifen Nacken, und
das Blut machte seine Beine schwer und geschwollen, so daß ihn die
Stiefel zwickten. Er schwebte in einem Zustande zwischen Wachen und
Schlafen. In seiner rechten Tasche hatte er einen Kreditbrief, in der linken
seinen Paß, und in einem kleinen Lederbeutel auf der Brust waren einige
Goldstücke eingenäht. Jeder Traum endete damit, das eines oder das
andere dieser Kostbarkeiten verloren sei. Deshalb fuhr er jeden
Augenblick empor, und die erste Bewegung, die seine Hand machte, war
ein Dreieck von rechts nach links und zur Brust hinauf, um zu fühlen, ob
sie noch da waren oder nicht. Regenschirme, Stöcke und Hüte schaukelten
im Netz über seinem Kopfe und verhinderten so ziemlich die Aussicht, die
großartig war. Er schielte danach, während sein Herz sang, was ein
Dichter, den wir kennen, auch schon gesungen hat, als er in der Schweiz
war, er hat es aber bis jetzt nicht drucken lassen: Ja, hier ist es schön und klar und still!
Sieh den Montblanc, mein Lieber, und schweige.
Wenn nur das Kleingeld ausreichen will,
Aber das geht gar bald auf die Neige! Groß, ernst und düster war die Natur rings um ihn. Die Tannenwälder
erschienen wie Heidekraut auf den hohen Felsen, deren Spitzen sich im
Wolkenschleier verbergen. Nun begann es zu schneien und der kalte Wind
blies.
„Hu!“ seufzte er, „wären wir nur erst auf der anderen Seite der Alpen, dann wäre es Sommer und ich bekäme das Geld auf meinen Kreditbrief. Die Angst, die ich deswegen ausstehe, macht, daß ich die Schweiz nicht genießen kann, ach, wäre ich doch auf der anderen Seite!“
Und da war er auf der anderen Seite. Weit unten in Italien war er, zwischen Florenz und Rom. Der Trasimener See lag in der Abendbeleuchtung wie flammendes Gold zwischen den blauen Bergen; hier, wo Hannibal den Flaminius schlug, hielten nun Weinranken sich friedlich an den grünen Händen. Anmutige halbnackte Kinder bewachten eine Herde kohlschwarzer Schweine; unter einer Gruppe duftender Lorbeerbäume am Wege. Verstünden wir, dies mit Worten zu malen, so würden alle Jubeln: „Herrliches Italien!“ Aber weder der Theolog noch auch nur ein einziger von seinen Reisegenossen im Wagen sagte etwas ähnliches.
Zu Hunderten flogen giftige Fliegen und Mücken zu ihnen hinein, vergebens schlugen sie mit Myrthenzweigen um sich; die Fliegen stachen doch. Kein Mensch im ganzen Wagen, dessen Gesicht nicht geschwollen und blutig von den Stichen war! Die armen Pferde sahen wie Kadaver aus. Die Fliegen saßen in großen Klumpen auf ihnen, und es half nur für Augenblicke, wenn der Kutscher herunterstieg und die Tiere abschabte. Nun ging die Sonne unter. Ein kurzer, aber eisiger Kälteschauer ging durch die ganze Natur. Das war nicht behaglich. Aber ringsum verdämmerten die Berge und Wolken in der seltsamsten grünen Farbe, so klar, so schmelzend ja, geht nur selbst hin und schaut; das ist besser, als Beschreibungen darüber zu lesen! Es war ein unvergleichliches Schauspiel. Die Reisenden fanden das auch -aber der Magen war leer, die Glieder matt, alle Sehnsucht des Herzens gipfelte in dem Nachtlager. Aber wie würde das ausfallen? Man hielt viel eifriger danach Ausschau als nach der schönen Natur.
Der Weg führte durch einen Olivenwald, es war, als führe man daheim zwischen knotigen Weiden. Hier lag das einsame Wirtshaus. Ein halb Dutzend bettelnder Krüppel hatte sich davor gelagert. Der gesündeste unter ihnen sah aus wie „des Hungers ältester Sohn, der seine Volljährigkeit erreicht hat“, um mit Marryat zu sprechen. Die anderen waren entweder blind, hatten vertrocknete Beine und krochen auf den Händen, oder hatten abgezehrte Arme mit fingerlosen Händen. Das nackte Elend grinste überall aus den Lumpen hervor. „Erbarmen, gnädige Herren, habt Erbarmen!“ seufzten sie und entblößten ihre kranken Glieder. Die Wirtin selbst mit bloßen Füßen, ungekämmtem Haar und in einer schmutzigen Bluse empfing die Gäste. Die Türen waren mit Bindfaden zusammengebunden. Der Fußboden in den Zimmern wies einen

halbaufgerissenen Belag von Mauersteinen auf; Fledermäuse flatterten
unter der Decke hin, und der Gestank hier drinnen -­
„Machen Sie lieber den Tisch im Stall zurecht!“ sagte einer der Reisenden,
„da unten weiß man wenigstens, was man einatmet!“ Die Fenster wurden geöffnet, daß ein wenig frische Luft hereinkommen
konnte, aber geschwinder als diese drangen die vertrockneten Arme ein
und das unaufhörliche Gejammer: „Habt Erbarmen, gnädige Herren!“ An
den Wänden standen viele Inschriften, und die Hälfte davon war gegen
das „Schöne Italien“ gerichtet. Das Essen wurde aufgetragen; es gab eine Suppe aus Wasser, mit Pfeffer
und ranzigem Öl gewürzt, das auch in der gleichen Güte beim Salat wieder
erschien; verdorbene Eier und gebratene Hahnenkämme bildeten den
Höhepunkt der Mahlzeit; selbst der Wein hatte einen Beigeschmack, es
war eine wahre Medizin. Zur Nacht wurden die Koffer gegen die Tür gestellt und einer der
Reisenden hielt Wacht, während die anderen schliefen. Der Theolog war
der Wachthabende. O, wie schwül war es hier drinnen! Die Hitze drückte,
die Mücken summten und stachen, und die Krüppel jammerten im Schlaf. „Ja, Reisen ist schon recht gut!“ seufzte der Student, „wenn man nur
keinen Körper hätte. Könnte dieser ruhen, und der Geist indessen fliegen!
Wohin ich komme, findet sich ein Mangel, der das Herz bedrückt. Nach
etwas Besserem, als dem Augenblicklichen, sehne ich mich, ja, nach
etwas Besserem, dem Besten, aber wo und was ist das? Im Grunde weiß
ich wohl, was ich will: ich will zu einem glücklichen Ziel, dem glücklichsten
von allen!“ Und, wie das Wort ausgesprochen war, war er in seinem Heim. Die
langen, weißen Gardinen hingen vor den Fenstern herab, und mitten auf
dem Fußboden stand der schwarze Sarg. In diesem lag er im stillen
Todesschlafe. Sein Wunsch war erfüllt, der Körper ruhte, der Geist reiste.
„Preise niemand glücklich vor seinem Tode“, Solons Wort, hier bewies es
wieder einmal seine Gültigkeit. Jede Leiche ist der Unsterblichkeit Sphinx; auch die Sphinx hier in dem
schwarzen Sarge gab keine Antwort auf das, was der Lebende zwei Tage
vorher niedergeschrieben hatte. Du starker Tod, Dein Schweigen wecket Grauen;
Des Kirchhofs Gräber zeigen Deine Spur.
Soll meinem Geiste keine Hoffnung blauen?
Blüh ich als Gras im Todesgarten nur?
„Dein größtes Leiden hat die Welt doch nie erblickt.
Der, der Du gleich Dir bliebst zum letzten ohne Arg.
Im Leben werd Dein Herz von manchem mehr bedrückt,
Als von der Erde, die man wirft auf Deinen Sarg!“ Zwei Gestalten bewegten sich im Zimmer. Wir kennen sie beide: Es waren
die Trauer und die Abgesandte des Glückes. Sie beugten sich über den
Toten. „Siehst du,“ sagte die Trauer, „welches Glück brachten deine Galoschen
wohl der Menschheit?“ „Sie brachten wenigstens dem, der hier schläft, ein dauerndes Gut!“
antwortete die Freude. „O nein!“ sagte die Trauer, „selbst ging er fort, er wurde nicht abgerufen!
Seine geistige Kraft hier war nicht stark genug, um die Schätze dort zu
heben, die er nach seiner Bestimmung heben soll! Ich will ihm eine
Wohltat erweisen!“ Und sie zog die Galoschen von seinen Füßen; da war der Todesschlaf zu
Ende und der Wiederbelebte erhob sich. Die Trauer verschwand, mit ihr
aber auch die Galoschen; sie hat sie gewiß als ihr Eigentum betrachtet.