ihrer liebsten Freundin. Dergleichen ist nicht leicht bei sich zu behalten, es gleicht dem Sande im durchlöcherten Sacke, der ausläuft. Bald wusste man, wie gut und brav Rudi auch sonst war, daß er im Tanze küßte, und doch hatte er nicht einmal die geküßt, die er am liebsten geküßt hätte.
»Paß auf ihn auf!« sagte ein alter Jäger, »er hat Anette geküsst; er hat mit A angefangen und wird das ganze Alphabet durchküssen.«
Ein Kuß bei, Tanze war bisher alles, was die Klatschschwestern über ihn zu berichten wussten, aber geküsst hatte er wirklich Anette, und sie war keineswegs seines Herzens Blume.
Unten in der Nähe von Bex, zwischen den großen Walnussbäumen, hart an einem kleinen, reißenden Bergstrome wohnte der reiche Müller. Das Wohnhaus, ein großes, dreistöckiges Gebäude mit kleinen Türmen, war mit Schindeln gedeckt und mit Blechplatten beschlagen, die im Sonnen-wie im Mondenscheine weithin leuchteten. Der größte Turm hatte einen schimmernden Pfeil, der einen Apfel durchbohrte, als Wetterfahne. Es sollte damit auf Tells Pfeilschuß hingedeutet werden. Die Mühle verreitschon im Äußern Wohlhabenheit und sah schön und stattlich aus; der Maler, der sie sah, griff unwillkürlich zum Pinsel, um sie zu malen, aber des Müllers Tochter ließ sich nicht malen, ließ sich nicht beschreiben. Dies behauptete Rudi wenigstens, während doch ihr Bild in seinem Herzen lebte. Ihre Augen strahlten darin so, daß es in hellen Flammen loderte. Der Brand war so plötzlich wie jede andere Feuersbrunst ausgebrochen, und das Wunderbarste dabei war, daß des Müllers Töchterlein, die niedliche Babette, keine Ahnung davon hatte; sie und Rudi hatten in ihrem Leben auch nicht zwei Worte miteinander gesprochen.
Der Müller war reich, der Reichtum machte, dass Babette zu hoch für viele Wünsche stand. Aber nichts steht so hoch, dachte Rudi, daß man es nicht erreichen kann. Man muß klettern, und man fällt nicht, wenn man es sich nicht einbildet. Die Lehre hatte er von Hause mitgebracht.
Nun traf es sich, daß Rudi Geschäfte in Bex hatte. Es war eine nicht unbedeutende Reise dorthin, denn die einzige Eisenbahn dorthin war damals noch nicht gebaut. Vom Rhonegletscher aus, den Fuß des Simplon entlang, dehnt sich zwischen vielen und abwechselnden Bergen das breite Walliser Tal mit seinem mächtigen Flusse, der Rhone, aus, die häufig anschwillt und alles verheerend Felder und Wege überschwemmt. Zwischen den Städten Sion und St.Maurice bildet das Tal eine Krümmung, biegt sich wie ein Ellbogen und wird unterhalb Maurice so schmal, dass es nur für das Flussbett und die schmale Forststraße Raum darbietet. Ein alter Turm steht gleichsam als Schildwache des Kanton Wallis, der hier endet, auf dem Berge und schaut über die steinerne Brücke nach dem