Odysseus bei dem Sauhirten

In dieser Gestalt wandelte der ganz unkenntlich gemachte Held über die Höhen des Waldgebirges hin nach der Stelle, die ihm seine Beschützerin bezeichnet hatte und wo er wirklich den treuesten seiner Knechte, den Sauhirten Eumaios, antraf. Er fand diesen auf der Hochebene des Gebirges, wo er seiner Herde ringsum aus schweren Steinen, die er selbst herbeigeschleppt, ein Gehege gepflanzt hatte. Innerhalb desselben standen, einer an dem andern, zwölf Kofen, in deren jedem fünfzig Mutterschweine zur Zucht eingesperrt lagen; die männlichen, in weit geringerer Anzahl, ruhten außerhalb der Ställe. Von diesen nämlich ließen die Freier Tag für Tag dem Sauhirten einen gemästeten Eber zu ihren Schmäusen abfordern, und es waren ihrer nur noch dreihundertsechzig. Die Herde bewachten vier Hunde, die so wild aussahen wie reißende Wölfe.

Der Sauhirt war gerade damit beschäftigt, sich schönes Stierleder zu Sohlen zu schneiden, seine Knechte hatten sich alle zerstreut; drei waren mit den ausgetriebenen Schweinen auf der Weide; ein vierter war nach der Stadt geschickt worden, um den übermütigen Freiern das verlangte Mastschwein zu bringen.

Die Hunde wurden den herannahenden Odysseus zuerst gewahr und stürzten bellend auf ihn los; dieser legte den Stab aus der Hand und setzte sich. Gewiß hätte er nun in seinem eigenen Gehöfte die Schmach erfahren müssen, von seinen Hunden angefallen zu werden, wenn der Sauhirt nicht aus der Türe seiner Hütte hervorgeeilt wäre und, das Sohlenleder aus den Händen lassend, den Tieren Einhalt getan und sie mit Steinen auseinandergescheucht hätte. Dann wandte er sich zu seinem Herrn, den er für einen Bettler hielt, und sprach: »Wahrhaftig, es hätte wenig gefehlt, o Greis, so hätten dich die Hunde zerfleischt, und du hättest mir zu der Trübsal, die ich schon habe, noch weitern Kummer bereitet! Ist es doch genug, daß ich hilflos um meinen armen, fernen Herrn jammern muß. Hier sitze ich und mäste seine fetten Schweine für andere Leute zum Schmaus, während er selbst vielleicht im Elende nicht einmal ein Stückchen trockenes Brot zu verzehren hat und in der Fremde herumirrt, wenn er anders das Tageslicht noch sieht! Komm in die Hütte, armer Mann, und laß dich mit Wein und Speise erquicken, und wenn du satt bist, sage mir, von wannen du bist und was für Gram du erduldet hast, daß du so gar jämmerlich aussiehst!«

Beide betraten die Hütte, der Sauhirt streute dem Ankömmling Laub und Reisig auf den Boden, breitete seine eigene Lagerdecke, ein großes, zottiges Gemsfell, darüber und hieß ihn sich niederlassen. Als Odysseus dankbar seine Freude über einen so gütigen Empfang aussprach, antwortet ihm Eumaios: »Sieh, Alter, man soll keinen Gast verschmähen, auch den geringsten nicht. Meine Gabe ist freilich nur klein. Wäre mein guter Herr zu Hause geblieben, so hätte ich es wohl noch besser; Haus, Gut und Weib hätte er mir gegeben, und ich könnte Fremdlinge anders bewirten! Nun aber ist er zugrunde gegangen. Möchte doch Helenas Stamm im Unheil vergehen, die so viele Tapfere ins Verderben gestürzt!«

So sprach der Sauhirt, umschlang sich seinen Leibrock mit dem Gürtel und ging hin zu den Kofen, wo ihm die Ferkel scharenweise lagen. Von denen nahm er zwei, schlachtete sie zur Bewirtung seines Gastes, zerschnitt das Fleisch, steckte es an Spieße, bestreute es mit weißem Mehl und legte das Gebratene frisch an den Spießen dem Gaste vor. In eine hölzerne Kanne goß er aus dem Kruge süßen alten Wein, setzte sich dem Fremdling gegenüber und sagte: »Iß nun, fremder Mann, so gut wir es haben! Es ist eben Ferkelfleisch, denn die Mastschweine essen mir die Freier weg, diese gewalttätigen Menschen, die weniger Götterfurcht im Herzen haben als die frechsten Seeräuber! Wahrscheinlich haben sie von dem Tode meines Herrn Kunde, daß sie um seine Gattin gar nicht werben wie andere Leute, sondern, niemals zu den Ihrigen heimkehrend, in aller Ruhe fremdes Gut verprassen. Tag und Nacht schlachten sie nicht ein- und zwei-, nein mehreremal und leeren dazu ein Weinfaß ums andere. Ach, mein Herr war so reich wie zwanzig andere zusammen! Zwölf Rinderherden, ebenso viele Schaf-, Schweine- und Ziegenherden besitzt er auf dem Lande, die ihm teils Hirten, teils Mietlinge versehen. In dieser Gegend allein sind eilf Ziegenherden, welche wackre Männer hüten: sie müssen den Freiern alle Tage den auserlesensten Geißbock abliefern. Ich bin sein Oberhirte über die Schweine, auch ich muß Tag für Tag den besten Eber auswählen und den unersättlichen Schwelgern zusenden!«

Während der Hirt so sprach, verschlang Odysseus, wie einer, der nicht denkt, was er tut, hastig das Fleisch und trank den Wein in raschen Zügen, ohne ein Wort zu sprechen. Sein Geist war ganz mit der Rache beschäftigt, die er an den Freiern zu nehmen vorhatte. Als er satt gegessen und getrunken und der Hirt ihm den Becher noch einmal vollgefüllt, trank er ihm freundlich zu und sprach: »Bezeichne mir doch deinen Herrn näher, lieber Freund! Es wäre gar nicht unmöglich, daß ich ihn kennte und ihm irgendwo einmal begegnet hätte; denn ich bin gar weit in der Fremde herumgekommen.« Aber der Sauhirt antwortete ihm ganz ungläubig: »Meinst du, wir werden einem umherirrenden Manne, der uns von unserm Herrn etwas erzählen will, so leicht Glauben beimessen? Wie oft ist es schon geschehen, daß Landfahrer, die nach einer Pflege verlangten, vor meine Herrin und ihren Sohn gekommen sind und sie mit ihren Märchen über unsern armen Herrn bis zu Tränen gerührt haben, bis man ihnen Mantel und Leibrock dargereicht und sie wohl bewirtet hatte. Ihm aber haben gewiß Hunde und Vögel schon lange das Fleisch von den Gebeinen verzehrt, oder die Fische haben’s gefressen, und die nackten Knochen liegen am Kieselstrande. Ach, nimmermehr bekomme ich einen so gütigen Herrn; er war gar zu freundlich, gar zu liebreich. Wenn ich an ihn denke, ist mir gar nicht, als dächte ich an meinen Gebieter, sondern wie ein älterer Bruder steht er mir vor der Seele.«

»Nun, mein Lieber«, antwortete ihm Odysseus, »weil dein ungläubiges Herz so zuversichtlich seine Rückkehr leugnet, so sage ich dir mit einem Eidschwur: Odysseus kommt! Meinen Lohn, den Mantel und Leibrock, verlange ich erst, wenn er da ist; denn so entblößt ich bin, mit einer Fabel möchte ich mir’s nicht verdienen; ich hasse die Lügner bis auf den Tod. So höre denn, was ich dir bei Zeus, bei diesem deinem gastlichen Tische und bei dem Herde des Odysseus schwöre: Wann dieser Monat abgelaufen ist, wird er eintreten in sein Haus und die Frechen züchtigen, die es wagen, sein Weib und seinen Sohn zu beschweren.« »O Greis«, erwiderte Eumaios, »ich werde dir so wenig den Lohn für deine Botschaft zu entrichten haben, als Odysseus nach Hause zurückkehrt. Fasle nicht, trinke ruhig deinen Wein und sprich von etwas anderem. Deinen Eid laß gut sein! Von Odysseus hoffe ich nichts mehr; mir macht jetzt nur sein Sohn Telemach Sorge; in ihm hoffte ich einst an Leib und Seele den Vater wiederzuschauen. Aber ein Gott oder Mensch hat ihm den Sinn betört: er ist gen Pylos gefahren, um nach dem Vater zu forschen; unterdessen legten sich die Freier zu Schiff in einen Hinterhalt und werden mit ihm den letzten Sprößling vom uralten Stamme des Arkeisios vertilgen. Doch erzähle du, Greis, mir jetzt dein eigenes Leiden: Wer bist du, und was brachte dich nach Ithaka?«

Odysseus macht sich den Scherz und erzählte dem Sauhirten ein langes Märchen, in dem er sich für den verarmten Sohn eines reichen Mannes von der Insel Kreta ausgab und die buntesten Abenteuer von sich zum besten gab. Auch den Krieg vor Troja hatte er mitgemacht und den Odysseus dort kennengelernt. Auf der Heimkehr verschlug ihn der Sturm an die Küste der Thesproten, bei deren Könige er wieder etwas von Odysseus vernommen haben wollte. Dieser sei der Gast jenes Fürsten gewesen und habe ihn kurz vor der Ankunft des Bettlers verlassen, um zu Dodona beim Orakel den Ratschluß Zeus‘ zu vernehmen.

Als er mit dem langen Gewebe seiner Lügen zu Ende war, sprach der Sauhirt ganz gerührt: »Unglücklicher Fremdling, wie hast du mir das Herz im Leib aufgeregt, indem du mir deine mühseligen Irrfahrten so ausführlich geschildert! Nur eines glaube ich dir nicht: nämlich das, was du mir von Odysseus sagst. Was brauchst du auch so in den Wind hinein zu lügen! Mir ist es ganz entleidet, nach meinem Herrn umherzufragen und zu forschen, seit mich ein Ätolier angelogen hat, der, wegen eines Totschlags flüchtig, in mein Gehege kam und mir beteuerte, daß er selbst ihn auf der Insel Kreta bei Idomeneus seine vom Sturm zerschmetterten Schiffe ausbessernd und ergänzend angetroffen habe. Im Sommer oder doch im Herbste komme er mit seinen Genossen und unendlichem Gute gewiß zurück. Darum, du Unglücklicher, bemühe dich nicht, meine Gunst durch solche Lügen erschmeicheln zu wollen, das Gastrecht ist dir ja ohnedem gesichert.«

»Guter Hirte«, antwortete Odysseus, »ich will dir einen Vergleich vorschlagen: Wenn jener wirklich zurückkommt, so sollst du mich mit Mantel und Leibrock nach Dulichion entlassen, wohin mein Herz verlangt; kommt aber dein Herr nicht heim, so hetze die Knechte gegen mich, daß sie mich von einer Felsenspitze ins Meer stürzen, damit andern Bettlern die Lust zu lügen vergeht,« »Ei, das wäre ein schöner Ruhm für mich«, fiel ihm der Sauhirt in die Rede, »wenn ich meinen Gast, den ich in die Hütte geführt und bewirtet habe, hintendrein erschlüge! Da könnte ich ja in meinem Leben nicht mehr zu Zeus beten! Doch das Abendessen wird bald herankommen, und es ist an der Zeit, daß meine Knechte heimkehren, dann wollen wir wieder fröhlich sein.« Wirklich kamen auch bald darauf die Schweine mit ihren Hütern herbei und wurden grunzend in die Kofen getrieben. Jetzo befahl der Hirt, ein fünfjähriges Mastschwein zur Ehre seines Gastes zu schlachten. Ein Teil wurde unter Gebet den Nymphen und dem Gotte Hermes geopfert, einen andere reichte er den Hütern, das beste Rückenstück wurde seinem Gast zuteil, obgleich er in seinen Augen nur ein Bettler war.

Das rührte den Odysseus in der Seele, und er rief dankbar aus: »Möge dich, guter Eumaios, Zeus so lieben, wie du mich, der in solcher Gestalt zu dir kam, geehrt hast!« Der Sauhirt sprach ihm freundlich zum Mahle zu, und während sie sich fröhlich in der Hütte sättigten, bedeckten draußen Wolken den Mond, der Westwind sauste, und bald ergoß sich der Regen in Strömen. Den Helden fing es in seinen Bettlerlumpen zu frieren an, und um den Hirten zu versuchen, ob er in seiner Aufmerksamkeit so weit gehen würde, ihm seinen warmen Mantel abzutreten, fing er wieder an, ein recht erlogenes Märchen zu erzählen. »Höret mich«, sprach er, »Eumaios und ihr andern Hirten! Der gute Wein betört mich nun einmal, zu schwatzen, und entlockt mir Worte, die vielleicht besser verschwiegen blieben. Als wir einst vor Troja uns in einen Hinterhalt gelegt, wir drei, Odysseus, Menelaos und ich, mit einer Schar von Kriegern, schmiegten wir uns der Burg gegenüber zwischen Rohr und Sumpf unter unsre Rüstungen, und es wurde Nacht. Der Nordwind kam mit einem Schneegestöber, und bald hatte der Frost unsre Schilde mit einem Rande von Glatteis umzogen. Den beiden andern tat dieses nicht viel, sie hatten sich in ihre Mäntel gewickelt und schlummerten von der Kälte unangefochten unter ihren Schilden. Ich dagegen hatte beim Weggehen unbedachtsamerweise meinen Mantel den Freunden zurückgelassen, denn auf eine solche Kälte hatte ich keineswegs gerechnet, sondern war nur im Gürtel und mit dem Schilde ausgegangen. Nun war noch ein Drittel der Nacht übrig und die Morgenkälte am schneidendsten. Da stieß ich endlich meinen Nachbar, den schlafenden Odysseus, mit dem Ellbogen an und ermunterte ihn mit den Worten: ›Du, wenn die Nacht noch lange währt, so bringt mich der Frost um. Ein böser Dämon hat mich verführt, im bloßen Rocke ohne Mantel zu gehen!‹ Wie das Odysseus hörte, der bekanntlich ein Mann zum Rat so gut wie zur Schlacht war, so flüsterte er mir zu: ›Still, daß kein Achaier uns hört; dir soll bald geholfen sein!‹ Dann richtete er sich vom Lager auf, stützte sein Haupt auf den Ellenbogen und rief über die Schläfer hin: ›Ihr Freunde, die Götter haben mir einen warnenden Traum gesendet: wir haben uns zu weit von den Schiffen entfernt; will nicht einer gehen und dem Agamemnon die Aufforderung bringen, uns noch mehr Streitgenossen zu schicken?‹ Auf diese Worte sprang einer unsrer Krieger, Thoas, der Sohn des Andraimon, dienstbereit vom Boden auf, legte seinen Mantel von sich und eilte zu den Schiffen. Ich aber wickelte mich behaglich in denselben und schlief nun getrost bis zur Morgenröte. Ja, wär ich noch der junge stattliche Mann wie damals, so würde mir, aus Liebe wie aus Scheu, wohl auch irgendein Sauhirt im Gehege hier seinen Mantel zum Schirme gegen den Nachtfrost leihen. Jetzt kümmert sich freilich kein Mensch in meinen Lumpen um mich!«

»Das ist ein schönes Gleichnis«, sagte Eumaios lachend, »das du uns da erzählt hast, Fremdling, drum soll es dir auch jetzt weder an Kleidung noch an irgend etwas anderem mangeln. Morgen mußt du freilich wieder mit deinen Lumpen fürliebnehmen, denn wir selbst haben nichts übriges zum Anlegen; wenn aber der Sohn des Odysseus glücklich heimkehren sollte, so wird er dich ganz gewiß mit Mantel und Leibrock beschenken und dich geleiten lassen, wohin du wünschest.« So sprechend, erhob sich Eumaios und bereitete seinem Gaste nicht weit vom Feuerherd ein Bett, das er ihm aus Schafpelzen und Ziegenhäuten zurechtmachte, und nachdem sich Odysseus darauf niedergelegt, deckte er ihn mit einem dichten großen Mantel zu, den er selbst bei den heftigen Winterstürmen anzuziehen pflegte.

So lag denn der Held warm gebettet und schickte sich zum Schlummer an; neben ihm legten sich auch die Knechte zum Schlafe nieder; aber Eumaios wählte sein Nachtlager nicht in der Hütte, denn er mochte nicht entfernt von seinen Schweinen schlafen; er nahm vielmehr die Waffen zur Hand und begab sich hinaus zu den Ställen, das Schwert um die Schulter gegürtet und in einen dichten Mantel gehüllt. Auch ein zottiges Ziegenfell nahm er mit zur Unterlage, und in der Hand trug er einen scharfen Spieß, Hunde und Männer, die etwa herannahen könnten, damit zu schrecken. So legte er sich, vor dem schneidenden Nordwinde geschirmt, vor die Kofen seiner Schweine. Odysseus war noch nicht eingeschlafen, als der Sauhirt in diesem Aufzuge die Hütte verließ. Er blickte ihm teilnehmend nach und freute sich innerlich im Herzen, einen so ehrlichen und getreuen Knecht zu besitzen, der das Gut seines Herrn, den er längst für verloren hielt, mit so gewissenhafter Sorgfalt verwaltete. In diesem Gefühl überließ sich der Held dem erquickenden Schlummer.