Hektor in Troja

Hektor hatte unterdessen die Buche des Zeus und das Skäische Tor erreicht. Hier umringten ihn die Weiber und Töchter der Trojaner und forschten ängstlich nach Gemahlen, Söhnen, Brüdern und Verwandten. Nicht allen wußte er Bescheid zu geben; er ermahnte nur alle, die Götter anzuflehen. Doch viele hatten seine Nachrichten in Weh und Jammer versenkt. Jetzt war er am Palaste seines Vaters angekommen. Dieser war ein herrliches Gebäude, ringsum mit weithin sich dehnenden Säulenhallen geschmückt; im Innern waren fünfzig Gemächer aus glattem Marmor, eins ans andere nachbarlich angebaut. Hier wohnten die Söhne des Königes mit ihren Gemahlinnen. Auf der andern Seite des inneren Hofes reihten sich zwölf Marmorsäle aneinander, wo die Eidame des Königes mit seinen Töchtern hausten. Das Ganze war von einer hohen Mauer umschlossen und bildete für sich allein eine stattliche Burg. Hier begegnete Hektor seiner guten Mutter Hekabe, die eben zu ihrer liebsten und anmutigsten Tochter Laodike zu gehen im Begriffe war. Die greise Königin eilte auf Hektor zu, faßte ihm die Hand und sprach voll Sorgen und Liebe: »Sohn, wie kommst du zu uns aus der wütenden Schlacht? Die entsetzlichen Männer müssen uns wohl hart bedrängen, und du kommst gewiß, die Hände zu Zeus zu erheben. So verziehe denn, bis ich dir vom lieblichen Wein bringe, daß du dem Vater Zeus und den andern Göttern ein Trankopfer darbringen kannst und darauf dich selbst mit einem Labetrunk erquicken; denn der Wein ist doch die kräftigste Stärkung für einen müden Kämpfer!« Aber Hektor erwiderte der Königin: »Laß mir keinen Wein reichen, geliebte Mutter, daß du mich nicht entnervest und ich meiner Kraft vergesse; auch dem Göttervater scheue ich mich mit ungewaschener Hand Wein zu spenden; du hingegen geh, von den edelsten Frauen Trojas umringt, mit Räuchwerk zu Athenes Tempel, lege der Göttin dein köstlichstes Gewand auf die Knie und gelobe ihr zwölf untadelige Kühe, wenn sie sich unser erbarmt. Ich aber will hingehen, meinen Bruder Paris in die Schlacht zu berufen. Schlänge ihn doch die Erde lebendig hinab, denn er ist zu unserem Verderben geboren!«

Die Mutter tat, wie der Sohn sie angewiesen. Sie stieg in die duftende Kammer hinunter, wo die schönsten Seidengewande verwahrt lagen, die Paris selbst aus Sidon mitgebracht hatte, als er auf Umwegen mit Helena nach der Heimat schiffte. Eines davon, das größte, schönste, mit den herrlichsten Bildern durchwirkte, das zuunterst von allen lag, suchte sie hervor und wandelte nun, von der Schar der edelsten Weiber begleitet, nach der Burg, zu Athenes Tempel. Hier öffnete ihnen Antenors Gattin Theano, die trojanische Priesterin der Pallas, das Haus der Göttin. Die Frauen reihten sich um das Bild Athenes und huben mit Klagetönen die Hände zu der Göttin empor. Dann nahm Theano das Gewand aus den Händen der Königin, legte es auf die Knie des Bildes und flehte zu der Tochter des Zeus: »Pallas Athene, Beschirmerin der Städte, erhabene, machtvolle Göttin, brich du dem Diomedes den Speer, laß ihn selbst, auf sein Angesicht gestürzt, vor unsern Toren sich wälzen; erbarme dich der Stadt, der Frauen, der stammelnden Kinder! In dieser Hoffnung weihen wir dir zwölf untadelige Kühe.«

Aber Pallas Athene verweigerte ihnen im Herzen ihre Bitte. Hektor war inzwischen im Palaste des Paris angekommen, der hoch auf der Burg, in der Nähe vom Königspalast und von Hektors Wohnung, stand; denn beide Fürsten hatten von der Königswohnung abgesonderte Häuser. Er trug in der Rechten seinen Speer, der elf Ellen lang und dessen eherne Spitze am Schaft mit einem goldenen Ring umlegt war. Er fand den Bruder, wie er in seinem Gemache die Waffen musterte und das Horn des Bogens glättete; seine Gemahlin Helena saß emsig unter den Weibern und leitete ihr Tagewerk. Als Hektor jenen sah, schalt er ihn und rief. »Du tust nicht recht, so im Unmute hier zu sitzen, Bruder; um deinetwillen schlägt sich das Volk vor der Stadt im Feldgetümmel! Du selbst aber würdest mit jedem andern zanken, den du so saumselig zum Treffen sähest. Auf denn, ehe die Stadt unter den Feuerbränden unseres Feindes auflodert, hilf sie verteidigen mit uns!« Paris antwortete ihm: »Du tadelst mich nicht mit Unrecht, Bruder; doch habe ich nicht aus Unmut, sondern nur aus Gram hier in der Untätigkeit gesessen. Nun aber hat mir meine Gattin freundlich zugeredet, in die Schlacht hinauszugehen; so verziehe denn, bis ich meine Rüstung angezogen habe, oder geh: ich hoffe dir bald nachzufolgen.« Hektor schwieg darauf, aber Helena redete ihn mit Worten der Beschämung an: »O Schwager, ich bin ein schnödes, unheilstiftendes Weib! Hätte mich doch die Meereswoge verschlungen, ehe ich mit Paris hier ans Land stieg! Nun das Übel aber einmal verhängt worden: wäre ich doch wenigstens nur die Genossin eines besseren Mannes, der die Schmach und die vielen Vorwürfe, die er sich zuzieht, auch empfände; so aber hat er kein Herz im Leibe und wird keines haben, und die Frucht seiner Feigheit wird nicht ausbleiben. Aber du, Hektor, komm doch herein und ruhe von der Arbeit, die wegen meiner, des schändlichen Weibes, die wegen der Freveltat meines Gatten doch zumeist auf deinen Schultern lastet!« »Nein, Helena«, sprach Hektor, »heiß mich nicht so freundlich sitzen, ich darf wahrlich nicht: mein Herz drängt mich, den Trojanern zu helfen. Muntere du nur diesen Menschen da auf, und er selbst spute sich, daß er mich bald innerhalb der Stadtmauern erreiche. Ich will zuvor noch in meine eigene Wohnung gehen und nach Weib, Söhnlein und Gesinde schauen.« So sprach Hektor und enteilte. Aber er fand die Gattin nicht zu Hause. »Als sie hörte«, sprach zu ihm die Schaffnerin, »daß die Trojaner Not leiden und der Sieg sich zu den Griechen neige, verließ sie die Wohnung, wie außer sich, um einen der Stadttürme zu besteigen, und die Wärterin mußte ihr das Kind nachtragen.«

Schnell legte Hektor den Weg durch die Straßen Trojas jetzt wieder zurück. Als er das Skäische Tor erreicht, kam seine Gemahlin Andromache, die blühende Tochter des kilikischen Eëtion von Theben, eilenden Laufes gegen ihn her; die Dienerin, ihr folgend, trug das unmündige Knäblein Astyanax, schön wie ein Gestirn, an der Brust. Mit stillem Lächeln betrachtete der Vater den Knaben, Andromache aber trat ihm unter Tränen zur Seite, drückte ihm zärtlich die Hand und sprach: »Entsetzlicher Mann! gewiß tötet dich noch dein Mut, und du erbarmst dich weder deines stammelnden Kindes noch deines unglückseligen Weibes, das du bald zur Witwe machen wirst. Werde ich deiner beraubt, so wäre es das beste, ich sänke in den Boden hinab. Den Vater hat mir Achill getötet, meine Mutter hat der Bogen der Artemis erlegt, meine sieben Brüder hat auch der Pelide umgebracht, ohne dich habe ich keinen Trost, Hektor: du bist mir Vater und Mutter und Bruder. Darum erbarme dich, bleib hier auf dem Turm; mach dein Kind nicht zur Waise, dein Weib nicht zur Witwe! Das Heer stelle dort an den Feigenhügel: dort steht die Mauer dem Angriffe frei und ist am leichtesten zu ersteigen, dorthin haben die tapfersten Krieger, die Ajax beide, Idomeneus, die Atriden und Diomedes schon dreimal den Sturm gelenkt, sei es, daß ein Seher es ihnen offenbarte, sei’s, daß das eigene Herz dieselben trieb!«

Liebreich antwortete Hektor seiner Gemahlin: »Auch mich härmt alles dieses, Geliebteste; aber ich müßte mich vor Trojas Männern und Frauen schämen, wenn ich, erschlafft wie ein Feiger, hier aus der Ferne zuschaute. Auch mein eigner Mut erlaubt es mir nicht, er hat mich immer gelehrt, im Vorderkampfe zu streiten; zwar das Herz weissagt es mir: der Tag wird kommen, wo die heilige Troja hinsinkt und Priamos und all sein Volk; aber weder der Trojaner Leid noch der eigenen Eltern und der leiblichen Brüder, wenn sie dann unter dem Schwert der Griechen fallen, geht mir so zu Herzen wie das deine, wenn dich, die Weinende, ein Danaer in die Knechtschaft führen wird und du dann zu Argos am Webestuhl sitzest oder Wasser trägst, vom harten Zwang belastet, und dann wohl ein Mann, dich in Tränen schauend, spricht: ›Das war Hektors Weib!‹ Decke mich der Grabhügel, ehe ich von deinem Geschrei und deiner Entführung hören muß!« So sprach er und streckte die Arme nach seinem Knäbchen aus; aber das Kind schmiegte sich schreiend an den Busen der Amme, von der Zärtlichkeit des Vaters erschreckt und vor dem ehernen Helm und dem fürchterlich flatternden Roßschweif erbangend. Der Vater schaute das Kind und die Mutter lächelnd an, nahm sich schnell den schimmernden Helm vom Haupte, legte ihn zu Boden, küßte sein geliebtes Söhnchen und wiegte es auf dem Arm. Dann flehte er zum Himmel empor: »Zeus und ihr Götter! laßt dies mein Knäblein werden wie mich selbst, voranstrebend dem Volk der Trojaner; laßt es mächtig werden in Troja und die Stadt beherrschen, und dereinst sage man, wenn es beutebeladen aus dem Streite heimkehrt: der ist noch weit tapferer als sein Vater; und darüber soll sich seine Mutter herzlich freuen!« Mit diesen Worten gab er den Sohn der Gattin in den Arm, die unter Tränen lächelnd ihn an den Busen drückte. Hektor aber streichelte sie, inniger Wehmut voll, mit der Hand und sagte: »Armes Weib, traure mir nicht zu sehr im Herzen, gegen das Geschick wird mich niemand töten; dem Verhängnis aber ist noch kein Sterblicher entronnen. Auf, geh du zur Spindel und zum Webestuhl und befiehl deinen Weibern! Den Männern Trojas liegt die Sorge für den Krieg ob, am meisten aber mir!« Als er dies gesagt, setzte sich Hektor den Helm auf und ging davon. Andromache schritt dem Hause zu, indem sie wiederholt rückwärts blickte und herzliche Tränen weinte. Als die Mägde in der Kammer sie erblickten, teilte sich ihnen allen ihr Gram und ihre Betrübnis mit, und Hektor wurde bei lebendigem Leib in seinem Palast betrauert.

Auch Paris hatte nicht gezaudert; in strahlenden Erzwaffen eilte er durch die Stadt, wie ein stattliches Roß die Halfter zerreißt und nach dem Strombade rennt. Er erreichte den Bruder, als dieser sich eben von seiner Gattin Andromache gewendet hatte. »Nicht wahr«, rief ihm Paris von weitem zu, »ich habe dich, mein älterer Bruder, durch mein Zaudern aufgehalten und bin nicht da zur rechten Zeit!« Aber Hektor antwortete ihm freundlich: »Mein Guter, billig zu reden bist du ein tapferer Streiter; nur säumst du oft gern und willst nicht, und sieh, da kränkt es mich dann innig, wenn ich unter dem Trojanervolke, das so viel für dich erduldet, schmähliche Reden über dich hören muß. Doch das wollen wir ein andermal ausmachen, wenn wir die Griechen aus Troas verjagt haben und um den Krug der Freiheit im Palaste sitzen!«