Die Sage von den Herakliden

Die Herakliden kommen nach Athen

Als Herakles in den Himmel versetzt war und sein Vetter Eurystheus, König von Argos, ihn nicht mehr zu fürchten hatte, verfolgte seine Rache die Kinder des Halbgottes, deren größerer Teil mit Alkmene, der Mutter des Helden, zu Mykene, der Hauptstadt von Argos, lebte. Sie entflohen seinen Nachstellungen und begaben sich in den Schutz des Königes Keyx zu Trachis. Als aber Eurystheus von diesem kleinen Fürsten ihre Auslieferung verlangte und gar mit einem Kriege drohte, hielten sie sich unter seinem Schutze nicht mehr für sicher, verließen Trachis und flüchteten sich durch Griechenland. Vaterstelle bei ihnen vertrat der berühmte Neffe und Freund des Herakles, der Sohn des Iphikles, Iolaos. Wie dieser in jungen Jahren mit Herakles alle Mühsale und Abenteuer geteilt hatte, so nahm er auch jetzt, schon ergraut, die verlassene Kinderschar des Freundes unter seine Flügel und schlug sich mit ihnen durch die Welt. Ihre Absicht war, sich den Besitz des Peloponnes, den ihr Vater erobert hatte, zu sichern; so kamen sie, unablässig von Eurystheus verfolgt, nach Athen, wo der Sohn des Theseus, Demophoon, regierte, der den unrechtmäßigen Besitzer des Thrones, Menestheus, eben verdrängt hatte. Zu Athen lagerte sich die Schar auf der Agora oder dem Markt am Altare des Zeus und flehte den Schutz des athenischen Volkes an. Noch nicht lange saßen sie so, als auch schon wieder ein Herold des Königes Eurystheus einhergeschritten kam. Er stellte sich trotzig vor Iolaos hin und sprach in höhnendem Tone: »Du meinst wohl gar hier einen sicheren Sitz gefunden zu haben und in eine verbündete Stadt gekommen zu sein, törichter Iolaos! Freilich, es wird auch jemand einfallen, deine unnütze Bundesgenossenschaft mit der des mächtigen Eurystheus zu vertauschen! Darum fort von hier mit allen deinen Sippen gen Argos, wo euer nach Urteil und Recht die Steinigung wartet!« Iolaos antwortete ihm getrost: »Das sei ferne! Weiß ich doch, daß dieser Altar eine Stätte ist, die mich nicht nur vor dir, dem Unmächtigen, sondern selbst vor den Heerscharen deines Herrn schützen wird, und daß es das Land der Freiheit ist, in welches wir uns gerettet haben.« »So wisse«, entgegnete ihm Kopreus – so hieß der Herold –, »daß ich nicht allein komme, sondern hinter mir eine genügende Macht, welche deine Schützlinge bald von dieser vermeintlichen Freistätte hinwegreißen wird!«

Bei diesen Worten erhuben die Herakliden einen Klageruf, und Iolaos wandte sich mit lauter Stimme an die Bewohner Athens: »Ihr frommen Bürger«, rief er, »duldet es nicht, daß die Schützlinge eures Zeus mit Gewalt fortgeführt werden, daß der Kranz, den wir als Flehende auf dem Haupte tragen, besudelt wird, daß die Götter Entehrung und eure ganze Stadt Schmach treffe!« Auf diesen durchdringenden Hilferuf strömten die Athener von allen Seiten auf den Markt herbei und sahen nun erst die Schar der Flüchtlinge um den Altar sitzen. »Wer ist der ehrwürdige Greis? Wer sind die schönen lockichten Jünglinge?« so tönte es von hundert Lippen zugleich. Als sie vernahmen, daß es Herakles‘ Söhne seien, die den Schutz der Athener anflehten, ergriff die Bürger nicht nur Mitleid, sondern auch Ehrfurcht, und sie befahlen dem Herolde, der bereit schien, Hand an einen der Flüchtlinge zu legen, sich von dem Altare zu entfernen und sein Begehren bescheidentlich dem Könige des Landes vorzutragen. »Wer ist der König dieses Landes?« fragte Kopreus, durch die entschiedene Willensäußerung der Bürger eingeschüchtert. »Es ist ein Mann«, war die Antwort, »dessen Schiedsrichterspruche du dich gar wohl unterwerfen darfst. Demophoon, der Sohn des unsterblichen Theseus, ist unser König.«