Abfahrt von Troja. Ajax des Lokrers Tod

Es geschah unter Jubelruf, wie Nestor geraten hatte; die Schiffe wurden fertiggemacht, sämtliche Güter an Bord gebracht, die Gefangenen zuerst, weinend und wehklagend, eingeschifft, alsdann folgten ihnen die Danaer selbst. Nur der Seher Kalchas schloß sich ihnen nicht an, ermahnte sie vielmehr, die Fahrt noch nicht zu beginnen, denn sein wahrsagender Geist ließ ihn ein großes Unheil ahnen, das die Griechen an den Kapharischen Felsen bedrohte, welche ein Vorgebirge der Insel Euböa umgaben, an dem die Flotte auf ihrer Heimkehr nach Griechenland vorübersegeln mußte. Aber ihm folgte keiner; das Verlangen nach der süßen Heimat hatte alle Herzen betört; endlich zog Amphilochos, der Sohn des berühmten Sehers Amphiaraos, den der Boden vor Theben verschlungen hatte, den Fuß, den er schon ins Schiff gesetzt hatte, zurück. In seinem Geiste dämmerte die Sehergabe seines Vaters auf, und er wurde sich gleicher Ahnung bewußt wie Kalchas. So blieb er bei diesem zurück. Ihnen beiden war vom Schicksal bestimmt, das griechische Heimatland nicht wieder zu erblicken, sondern sie sollten in den kilikischen und pamphylischen Städten Kleinasiens sich ihre Wohnsitze gründen.

Alle andern Achajer lösten indessen die Taue, mit welchen die Schiffe ans Land gebunden waren, und hoben eilig die Anker empor. Bald umspülte das freie Meer die Dahinsegelnden. Auf den Vorderteilen der Schiffe lagen überall Waffen erschlagener Feinde; unzählige Siegeszeichen hingen von den Masten herab; die Schiffe selbst waren bekränzt; Blumenkronen hatten sich die Sieger um Schilde, Lanzen und Helme geflochten; so standen sie auf den Vorderverdecken und gossen Trankopfer goldenen Weines ins Meer, indem sie voll Inbrunst zu den Göttern um eine Zurückkunft flehten, mit der ihnen kein Unheil verbunden wäre. Aber ihr Gebet war nichtig; Luft und Winde trugen es fort von den Schiffen und zerstreuten es in die Lüfte, bevor es sich in den Olymp emporschwingen konnte.

Wie die Helden nun voll Hoffnung und Sehnsucht vorwärtsblickten, so schauten die gefangenen trojanischen Frauen und Jungfrauen mit bekümmertem Herzen rückwärts nach dem rauchenden Troja, und verstohlenerweise seufzten und weinten sie den verhaltenen Schmerz aus. Die Mädchen hatten die Hände in den Schoß gefaltet, die jungen Frauen hielten Kinder in den Armen. Diese aber dachten nur an die Mutterbrust und fühlten ihr Unglück noch nicht. In der Mitte anderer Gefangener stand Kassandra, und ihr edler Wuchs ragte hoch über die andern hervor. Aber ihr Auge war tränenlos, und sie spottete der Klage, die rings um sie her ertönte: denn jetzt war geschehen, was sie geweissagt hatte und worüber sie von den Jammernden verlacht worden war. Nun höhnte wohl ihr Mund die Mitgefangenen, aber ihr Herz blutete heimlich über dem Unglück der zerstörten Vaterstadt.

Unter den Trümmern Trojas irrten wenig übriggebliebene Einwohner, schwache Greise oder verwundete Männer, Antenor an ihrer Spitze, einher. Dieser führte sie zu dem schmerzlichen Werke der Leichenbestattung an, das nur langsam vor sich ging, denn der Toten waren so viele, und der Lebenden nur wenige. Diese wenigen bauten an einem unermeßlichen Holzstoße, und als er fertig war, legten sie alle Leichen der Ihrigen miteinander darauf und zündeten den Scheiterhaufen unter Tränen und Wehklagen an. Die Danaer hatten indessen bald das Grabmahl des Achill und die trojanische Küste im Rücken. Obwohl sie aber immer fröhlicheren Mutes wurden, mischte sich doch auch die Wehmut in ihre Freude, wenn sie an die vielen gefallenen Freunde dachten. Eine Küste und eine Insel um die andere flog an ihrem Blicke vorüber: Tenedos, Chrysa, das Orakel des Phöbos, die heilige Killa, Lesbos, das Eiland, das Vorgebirge Lekton, endlich der äußerste Vorsprung des Gebirges. Die Winde sausten in die Segel, die Flut rauschte, schwarz rollten die Wellen daher, und weiß dehnte sich über das Meer hin ihr schäumender Pfad, wenn sie an den Schiffen sich gebrochen hatten.

Die Sieger hätten auch wirklich die Küste Griechenlands glücklich erreicht, wenn nicht Pallas Athene über der Untat des Lokrers Ajax ihnen gegrollt hätte. Als sie nun an die stürmische Küste von Euböa gelangt waren, sann die Göttin darauf, dem Sohne des Oïleus ein trauriges, unbarmherziges Los zu bereiten. Sie hatte dem Göttervater im Olymp den Frevel geklagt, den er in ihrem eigenen Tempel an ihrer Priesterin Kassandra begangen hatte, und begehrte Rache an dem Verbrecher zu nehmen. Und Zeus, der Verwalter der Gerechtigkeit auf Erden, setzte sich ihren Wünschen nicht entgegen; er legte vielmehr neben die Jungfrau die frischesten Donnerkeile der Zyklopen, die eben aus der Esse gekommen waren, und erlaubte seiner Tochter, den Griechen einen verderblichen Sturm zu erregen. Alsbald waffnete sich Athene, legte den schimmernden Ägispanzer an, in dessen Mitte das Gorgonenhaupt mit den feurigen Schlangenhaaren starrte, und faßte eines der Geschosse des Vaters, die zu ihren Füßen lagen, wie es außer dem großen Zeus sonst kein Gott aufzuheben vermochte. Dann ließ sie den Olymp von Donnerschlägen erbeben, goß Wolken rings um die Berge und hüllte Meer und Land in Finsternis. Hierauf schickte sie ihre Botin Iris zu Äolos, dem Gott der Winde, hinab, deren Höhle sich neben der Wohnung des Gottes in den Abgründen der Erde befindet. Die Botschafterin Athenes traf den Fürsten der Stürme bei seiner Gemahlin und seinen zwölf Kindern daheim; er vernahm den Befehl und gehorchte auf der Stelle. Mit rüstigen Händen stieß er den großen Dreizack in den Berg ein, wo die Behausung der tosenden Winde ist, und riß den Hügel mit Gewalt auf. Die Stürme stürzten wie Jagdhunde sogleich aus der Öffnung hervor; er aber befahl ihnen, sich sofort zu einem einzigen finstern Orkane zu vereinen und nach der Brandung der Kapharischen Felsen zu fliegen, welche die Küste von Euböa umlagern. Noch ehe sie vollständig das Wort ihres Königes vernommen, machten sich die Winde auf den Weg; die Meerflut stöhnte unter ihnen; wie Berge wälzten sich die Wogen einher, und den Argivern brach der Mut im Herzen zusammen, als sie den Meerschwall turmhoch gegen sich anrücken sahen. Bald war nicht mehr an das Rudern zu denken; die Segel hatte der Sturm zerrissen, daß Fetzen herunterhingen; zuletzt erlahmte auch die Kraft der Steuermänner; die finsterste Nacht brach ein, und mit ihr verschwand jede Hoffnung auf Rettung. Auch Poseidon half seiner Bruderstochter Pallas, und diese raste ohne Erbarmen vom Olymp mit Blitzen daher, die vom krachendsten Donner begleitet waren. Wehklagen und Stöhnen scholl von den Schiffen; hier und dort barst das Gebälk eines Fahrzeuges, wenn es vom Sturme gewaltsam an ein stärkeres geschleudert worden war, und diejenigen, die dem Stoße herstürzender Schiffe durch Rudern zu entgehen versuchten, wurden vom Wind in die Tiefe gerissen. Endlich schleuderte Athene den schärfsten Donnerkeil, den sie zu diesem Gebrauche besonders aufgespart hatte, in das Schiff des Ajax, daß es auf der Stelle hierhin und dorthin in Splitter sprang; Erde und Luft hallten von dem Knall, und die Wogen umkreisten das berstende Schiff. Scharenweise stürzten aus diesem die Menschen in die Flut und wurden von den Wellen verschluckt. Ajax selbst jedoch schwamm bald auf einem der Balken des Schiffes, die auf den Wellen hier und dort zerstreut daherfuhren: bald zerteilte sein nerviger Arm die Woge, die sich vor dem kräftigen Schwimmer spaltete; jetzt trug ihn eine mächtige Welle wie zum Gipfel eines himmelhochragenden Berges, jetzt schleuderte sie ihn wieder hinab in den tiefsten Abgrund. Von allen Seiten fuhr der Blitz neben ihm einschlagend und zischend in die Fluten, aber noch war es Athenes Wille nicht, daß der Tod sich über ihn erbarme. Auch war sein Mut noch nicht erschöpft; er ergriff ein aus den Wellen hervorragendes Felsstück und vermaß sich, wenn auch alle olympischen Götter herangezogen kämen und die Fluten gegen ihn aufreizten, so sollte ihm doch die Rettung nicht mißlingen.

Diese Prahlerei hörte der Erderschütterer Poseidon, dessen Gottheit dem Ringenden am nächsten war, mit Unwillen. Im heftigsten Zorn erschütterte er Meer und Erde zugleich; die Felsabhänge des Vorgebirges Kaphareus erbebten, und die Gestade donnerten ringsumher unter der Peitsche des Herrschers. Da wurde zuletzt der mächtige Felsblock, an welchen sich Ajax mit den Händen angeklammert hielt, vom Grunde losgerüttelt und mit ihm der Lokrer wieder ins Meer hinausgestoßen, daß der anspülende Schaum ihm Haupt- und Barthaar weiß färbte. Auf den Versinkenden stürzte Poseidon noch einen losgerissenen Erdhügel des Vorgebirges, daß der Scheitel desselben den Lokrerfürsten, wie einst der Ätna den Enkelados, deckte. So unterlag er, von der Erde und vom Meere zugleich bezwungen.

Die Schiffe der Danaer irrten indessen schwankend und leck auf der stürmenden See umher; viele waren geborsten, viele von den Wogen verschlungen; die Meerflut tobte fort, und der Regen strömte herab, als drohte dem nahen Lande eine zweite Deukalionische Flut. Jetzt wurde auch noch die Steinigung des Palamedes an den unglücklichen Griechen gerächt. Auf Euböa herrschte nämlich noch immer der Vater dieses Helden, Nauplios. Als dieser an seiner Küste die griechische Flotte erblickte, die mit dem fürchterlichen Sturme rang, gedachte er der hinterlistigen Ermordung seines geliebten Sohnes, um welchen er nun so viele Jahre trauerte. Die Rachelust war in seinem Herzen nie eingeschlummert, und jetzt endlich hoffte er sie büßen zu können. Er eilte an den Strand, ließ längs des Kapharischen Vorgebirges, den gefährlichsten Klippen gegenüber brennende Fackeln aufstecken und machte dadurch in den Griechen den Glauben rege, daß es Rettungszeichen seien, welche mitleidige Uferbewohner für sie aufgepflanzt hätten. In dieser Hoffnung steuerten die Danaer mit Begierde auf die Klippen zu, und viele ihrer Schiffe fanden hier den Untergang.

Zugleich ergoß sich das Meer von Troja, auf des grollenden Poseidon Befehl, über sein Gestade und zerstörte alle Bollwerke und Mauern, welche die Griechen bei ihren Schiffen und vor der belagerten Stadt aufgeführt hatten. Und so war bald von der ungeheuern Unternehmung nichts mehr übrig als der Schutthaufen Trojas und einige Schiffe voll zurückkehrender Helden und gefangener Trojanerinnen, die, vom Sturme da- und dorthin zerstreut, mit Mühe und nach langen und mannigfaltigen Drangsalen die Küsten Griechenlands wieder erreichten, wo nur weniger Sieger ungetrübte Glückseligkeit wartete.