Ein Kannibalental

Der Weg von Taahauku nach Atuona lief am Nordwestufer des Hafenplatzes vorüber, und zwar in einiger Höhe, umsäumt und manchmal überschattet von den herrlichen Blüten des Flamboyant, dessen englischen Namen ich nicht kenne. An der Straßenbiegung kam Atuona in Sicht: ein langer Strand, eine heftig donnernde Brandung, ein Uferdorf unter Bäumen zerstreut liegend, die zerklüfteten Berge auf beiden Seiten nah heranrückend an eine enge, reich bewachsene Schlucht. Sein böser Ruf beeinflußte mich vielleicht, aber ich hielt es für den lieblichsten und zugleich unheilvollsten und traurigsten Ort auf Erden. Schön war es sicher und vielleicht noch mehr gesundheitsspendend. Das gesunde Klima der ganzen Inselgruppe ist erstaunlich, das Atuonas fast ein Wunder. In Atuona, einem Dorf errichtet auf einer Ufermarsch, wo die Häuser überall zwischen den Teichen der Tarogärten stehen, finden sich alle Bedingungen tropischer Gefahren und Unzuträglichkeiten, und doch gibt es dort nicht einmal Moskitos – selbst nicht die verhaßte Tagfliege von Nuka-hiva –, und das Fieber mit seiner Begleiterscheinung, der Elefantiasis, in der Insulanersprache fe’efe’e genannt, ist hier unbekannt.

Dies ist die Hauptstation der Franzosen auf der Menschenfresserinsel Hiva-oa. Der Gendarmerieunteroffizier erfreut sich der Lebenshaltung eines Vizeresidenten und hißt die französische Flagge über einem recht ansehnlichen Gebäude. Ein Chinese, ein Flüchtling von der Pflanzung, hat eine Wirtschaft im zurückgelegenen Teil des Dorfes, und die Mission ist durch die Schwesternschule und Bruder Michels Kirche gut vertreten. Pater Orens, ein wunderbarer Achtziger, mit ungebeugtem Rücken und unvermindertem Feuer des Auges, hat seit 1843 in diesem Ort gelebt, gebangt und gelitten. Immer wieder wurde er, wenn Moipu Kokosnußbrandy bereitete, von seinem Haus in die Wälder vertrieben. »Eine Maus, die im Ohr der Katze lebt«, hätte ein ruhigeres Heim gehabt, und doch sah ich nie einen Mann, den die Jahre weniger bedrückten. Er mußte uns unbedingt die Kirche zeigen, noch verziert mit dem anspruchslosen Papierschmuck des Bischofs, der letzten Arbeit fleißiger Greisenhände und der letzten irdischen Freude eines Mannes, der viel von einem Helden an sich hatte. In der Sakristei mußten wir seine geweihten Geräte betrachten und besonders ein Gewand, das eine »wahre Sehenswürdigkeit« darstellte, weil es das Geschenk eines Gendarmen war. Einem Protestanten bereitet der Eifer, mit dem erwachsene, dem Heiligtum geweihte Männer diese unbedeutenden Dinge behüten, immer einige Verlegenheit, aber es war rührend und schön, wie Pater Orens mit glänzenden Greisenaugen seine geweihten Schätze vorzeigte.

26. August. Das Tal hinter dem Dorf verengte sich rasch zur Schlucht und war dicht besät mit Nußbäumen. Ein Fluß rauschte in der Mitte. Droben bildeten zunächst die hohen Kokospalmen ein Dach, darüber war die Schlucht von einem Bergwall zum andern mit Wolkenschleiern überhangen, so daß wir unten zwischen üppigem Pflanzenwuchs wie in einem gedeckten Treibhaus wandelten. Zu beiden Seiten standen alle hundert Meter statt der häuserlosen, niedergedrückten Paepaes von Nuka-hiva menschenreiche Häuser, und die Bewohner strömten heraus und riefen den Vorübergehenden ihr »Kaoha!« zu. Auch die Straße war bevölkert: Scharen von Mädchen, hübsch und häßlich wie in minder begünstigten Ländern; brotfruchttragende Männer; Nonnen mit einer kleinen Schutzwache von Zöglingen; ein Bursche, der sich auf einem Pferde tummelte; ein ununterbrochener Zug von Passanten, die uns begrüßten; bald war es ein Chinese, der zum Tor seines Blumengartens eilte und uns guten Tag wünschte in seinem ausgezeichneten Englisch, und etwas weiter forderten uns Eingeborene auf, uns am Wegrande niederzulassen, bereiteten uns ein Mahl aus Mumienäpfeln und unterhielten uns während des Essens mit Trommeln auf einer Blechdose. Bei aller herrlichen Fülle von Menschen und Früchten ist auch hier der Tod am Werke. Die Bevölkerung zählt nach den höchsten Schätzungen im ganzen Tal von Atuona nicht mehr als sechshundert, und trotzdem nannte Bruder Michel, als ich ihn einmal zufällig fragte, zehn Menschen, die krank daniederlagen ohne Hoffnung auf Genesung. Hier konnte ich auch meine Neugier nach einem Haus im Zustande des tatsächlichen Verfalls befriedigen. Es war längs des Paepae zu Boden gefallen, die Stützen spreizten sich häßlich, Regen und Termiten zerfraßen es; was übrigblieb, schien noch gesund, aber vieles war schon verschwunden, und es war bequem zu sehen, wie die Insekten die Wände wie Brot verzehrten und Lust und Regen sie wie Vitriol anfraßen.

Etwas voraus war ein junger Mann, sehr gut tätowiert und bekleidet mit weißen Hosen und einem Flanellhemd, unbekümmert einhergeschritten. Plötzlich, ohne sichtbaren Grund, wandte er sich um, ergriff Besitz von uns und führte uns, ohne Widerspruch zu dulden, einen Seitenpfad entlang zum Flußufer. Dort, in einem Winkel von bezauberndster Lieblichkeit, bat er uns auszuruhen. Der Strom brauste dicht an uns vorüber, ein Dach unbeschreiblich dichten Grüns überschattete uns, und nach kurzer Abwesenheit brachte er eine Kokosnuß, ein Stück Sandelholz und einen Handstock, den er zu schnitzen begonnen hatte; die Nuß zur sofortigen Erfrischung, das Sandelholz als kostbares Geschenk und den Stock in der Einfalt seiner Eitelkeit, um Vorschußlorbeeren zu ernten. Nur ein Stück war bereits geschnitzt, obgleich der ganze Stock schon durch Bleistiftstriche eingeteilt war; als ich vorschlug, ihn zu kaufen, fuhr Poni, wie der Künstler hieß, entsetzt zurück. Aber ich ließ mich nicht bewegen und verweigerte einfach die Rückgabe, denn ich hatte mich seit langer Zeit gewundert, warum ein Volk, das in seinen Tätowierungen eine so starke Begabung für arabeske Empfindungen bewies, dies Talent sonst in keiner Weise entfaltete. Hier hatte ich endlich etwas gefunden, was die Fähigkeit der Anwendung in anderem Material belegte, und ich hielt die Nichtvollendung für ein glückliches Zeichen der Echtheit in diesen Zeiten weitverbreiteten Fälschungsschwindels. Ich war nicht in der Lage, meine Gründe und Absichten Poni klarzumachen, ich konnte den Stock nur festhalten und den Künstler bitten, mir zur Gendarmerie zu folgen, wo ich Dolmetscher und Geld vorfinden würde, aber wir schenkten ihm inzwischen für sein Sandelholz eine Bootspfeife als Gegengabe. Als er hinter uns das Tal hinabstieg, ließ er sie ununterbrochen ertönen. Und fortwährend strömten aus den Häusern am Wege kleine Gruppen von Mädchen in Rot und Männer in Weiß heraus. Und ihnen mußte Poni erzählen, wer die Fremdlinge seien, was sie getan hätten, warum Poni eine Bootspfeife habe, und warum er nun zur Vizeresidentschaft geführt werde, ungewiß, ob zur Bestrafung oder Belohnung, ungewiß, ob er einen Stock verloren oder ein Geschäft gemacht habe, aber im ganzen hoffnungsvoll und inzwischen hocherfreut über die Bootspfeife. Darauf riß er sich von dieser einen Gruppe Neugieriger los, und wir hörten von neuem den schrillen Ruf hinter uns ertönen.

27. August. Ich unternahm mit Bruder Michel einen ausgedehnten Rundgang im Tal. Wir bestiegen zwei ruhige Gäule, geeignet für diese rauhen Pfade, das Wetter war prächtig und die Gesellschaft, in der ich mich befand, nicht weniger angenehm als die Landschaft, die an mir vorüberzog. Wir kletterten zunächst einen steilen Grat hinauf bis zum Gipfel eines jener gewundenen Felsvorsprünge, die aus der Entfernung gesehen die sonnigen und schattigen Partien der Gebirgsabhänge abgrenzen. Das Gestein fiel nach beiden Seiten äußerst schroff ab. Von beiden Seiten stieg aus tiefen Schlünden der Gesang von Wasserfällen und der Rauch von Herdfeuern auf. Hier und dort teilten sich die Laubhügel, und unser Auge fiel auf eine jener tief eingenisteten Behausungen. Und hoch oben erhob sich die schroffe Gebirgswand, von Grün bedeckt, wo anscheinend kaum eine Glockenblume Nahrung fand, und bezwungen von gewundenen Menschenpfaden, wo eine Ziege kaum Fuß fassen zu können schien. Auf der Rückwand wird der Pfad, trotz aller Arbeit, die er gekostet hat, selbst von den Marquesanern als unwegbar angesehen, sie wünschen ihre Pferde beim Aufstieg nicht in Gefahr zu bringen, und die im Westen wohnenden Leute kommen und scheiden in ihren Kanus. Ich habe nie einen Berg gesehen, der sowenig verlor bei dichter Annäherung, eine Folge seiner erstaunlichen Steilheit, wie ich vermute. Als wir uns umdrehten, war ich über die Tiefe des Ausblicks hinter uns erstaunt und über den hohen Rücken der blauen See, gekrönt von der walfischähnlichen Insel Motane. Und doch war die Bergwand über uns nicht ersichtlich niedriger geworden, und ich hätte mir einbilden können, als ich die Augen hob, sie zu messen, daß sie noch höher hinaufragte als zuvor.

Wir drangen nun ein in verdeckte Wege, überschritten die Sturzbäche, hörten das Rauschen aus unmittelbarer Nähe und kosteten die Kühle der Nischen, in denen die Häuser standen. Die Vögel sangen ringsum, während wir hinunterstiegen. Überall am Wege wurde mein Führer begrüßt mit dem Ruf: »Mikael Kaoha, Mikael!« Aus Türen, Baumwollfeldern oder den tiefen Hainen der Inselkastanien drangen diese freundlichen Rufe und wurden im Vorübergehen herzlich erwidert. An einem scharfen Knick des Tales, bei einem rauschenden Bach und unter kühlem Laubgehänge, trafen wir ein Haus auf gut gebautem Paepae, das Feuer brannte flackernd unter dem Popoidach und kochte das Nachtmahl. Hier wurden die Rufe zum Chor, die Hausbewohner liefen herbei und zwangen uns abzusitzen und auszuruhen. Es schien eine zahlreiche Familie zu sein, wir sahen wenigstens acht Personen, von denen mich die eine mit einer besonderen Aufmerksamkeit bedachte. Es war die Mutter, eine bis zum Gürtel nackte Frau, schon gebeugt, aber mit reichlichem schwarzen Haar und aufrechten, jugendlichen Brüsten. Bei unserer Ankunft merkte ich, wie sie mich beobachtete, aber anstatt mir irgendeinen Gruß darzubieten, verschwand sie sofort im Busch. Bald darauf kam sie mit zwei roten Blumen zurück. » Good bye!« lautete ihre Begrüßung, die sie nicht ohne Koketterie aussprach, und als sie es sagte, drückte sie die Blumen in meine Hand: » Good bye! Ich sprechen Englisch!« Von einem Walfischfänger, der, wie sie mich unterrichtete, ein »viel guter Junge« war, hatte sie meine Sprache erlernt, und ich konnte mir vorstellen, wie hübsch sie in jener Zeit der Jugend gewesen, und erriet, daß allerlei Erinnerungen an den schmucken Walfischjäger ihre Aufmerksamkeiten mir gegenüber veranlaßten. Auch darüber mußte ich nachdenken, was wohl aus ihrem Geliebten geworden sei, welche regennassen und schmutzigen Hafenstädte er seitdem durchwandert, in welch dumpfen und lärmenden Kneipen er sein Vergnügen gefunden und in welchem Krankenhaus er den letzten Traum von den Marquesas geträumt hatte. Sie aber, die Glücklichere, lebte weiter auf ihrer grünen Insel. Die Unterhaltung in diesem weltverlorenen Haus des Gebirges drehte sich hauptsächlich um Mapiao und seine Besuche auf der »Casco«, die Nachricht hatte sich wahrscheinlich schon über die ganze Insel verbreitet, so daß es kein Paepae auf Hivu-oa gab, wo man sie nicht erregt erörterte.

Etwas tiefer abwärts gelangten wir zu einem Festplatz im Grunde der Schlucht. Zwei Pfade durchschnitten ihn und kreuzten sich in der Mitte. Abgesehen von dieser Teilung, war das Amphitheater sonderbar vollkommen und ähnelte römischen Bauten, wenn es auch roher war. Dichtes Laubwerk und das Gebirgsmassiv machten es angenehm schattig. Auf den Bänken saßen junge Leute in Gruppen oder allein. Ein junges Mädchen von ungefähr vierzehn Jahren, stattlich und reizend, erregte die Aufmerksamkeit von Bruder Michel. Warum sie nicht in der Schule sei? – Sie habe die Schule schon hinter sich. – Was sie hier tue? – Sie lebe jetzt hier. – Warum? – Keine Antwort, nur tiefes Erröten. Es lag keine Strenge in Bruder Michels Benehmen, die Verwirrung des jungen Mädchens sprach deutlich genug. »Sie schämt sich,« bemerkte der Missionar, als wir fortritten. Nahebei im Fluß badete ein herangewachsenes Mädchen nackt in einer Vertiefung zwischen zwei stufenartigen Steinen, und wir sahen mit Vergnügen, wie hastig und ehrlich erschrocken sie zu ihren bunten Unterkleidern stürzte. Selbst in diesen Töchtern der Kannibalen war das Schamgefühl lebendig.

In Hiva-oa wurde wegen des eingewurzelten Kannibalismus der Eingeborenen der überlieferte Glaube auf roheste Art mit Füßen getreten. Hier wurden drei fromme Häuptlinge unter eine Brücke gesetzt und die Frauen des Tals gezwungen, über ihre Häupter hinweg auf der Straße vorüberzuziehen: die armen entehrten Gesellen saßen da, wie alle Zuschauer übereinstimmend berichteten, in Tränen aufgelöst. Nicht nur ein Weg wurde über den Versammlungsplatz gebahnt, sondern zwei, die sich in der Mitte schnitten. Es ist kein Grund zur Annahme, daß es absichtlich geschah, denn es war vielleicht unmöglich, den vielen heiligen Stätten der Inseln auszuweichen. Aber es hatte seine Folgen. Ich habe bereits erzählt von der Achtung vor den Toten bei den Marquesanern, die einen so starken Gegensatz bildet zu der Gleichgültigkeit gegen den Tod. Am frühen Morgen dieses Tagesrittes begegneten wir beispielsweise einem unbedeutenden Häuptling, der natürlich fragte, wohin wir wollten, und uns einen besseren Vorschlag machen wollte: »Warum zeigst du ihm nicht lieber den Friedhof?« Ich sah ihn, er war eben erst eröffnet worden, der dritte in acht Jahren. Es gibt große Baumeister in Hiva-oa, ich sah auf meinem Ritt Paepaes, die kein europäischer Maurermeister so vollendet bauen könnte, die schwarzen vulkanischen Steine waren höchst genau gefügt, die Ecken scharf und die Flächen ganz eben, aber die Umfassungsmauer des neuen Friedhofs übertraf alles und glich einem Werk der Liebe. Das Gefühl der Ehrfurcht vor den Verstorbenen ist also nicht erloschen. Aber man beachte die Folgen rücksichtsloser Vergewaltigung menschlicher Gläubigkeit. Von den vier Gefangenen in Atuona waren drei natürlich Diebe, der vierte war wegen Grabschändung verurteilt. Er hatte ein Stück des Friedhofes geebnet, um, wie er dem Gericht mitteilte, ein Festmahl auf dem Platz zu veranstalten, und erklärte, er habe keinen Gedanken an ein Unrecht gehabt. Warum auch? Er war mit aufgepflanztem Bajonett gezwungen worden, die heiligen Stätten seines Glaubens zu zerstören, und als er zurückgeschreckt war, hatte man ihn als abergläubischen Narren verlacht. Und nun erwartete man von ihm, er solle unseren europäischen Aberglauben achten wie aus einer zweiten Natur heraus.