Das fünftägige Fest

Donnerstag, den 25. Juli. Die Straße war an diesem Tage stark belebt durch die Anwesenheit der Leute von Klein-Makin. Sie sind durchgängig größer als die Leute von Butaritari, waren wegen des Festtages mit gelben Blättern bekränzt und trugen prächtige, grellfarbige Gewänder. Man sagt, daß sie wild und auf diese Auszeichnung stolz sind. Tatsächlich schien es uns, als ob sie, ihrer barbarischen Tugenden wohl bewußt, in der Stadt umherstolzierten wie die Hochländer in ihren Plaids auf den Straßen von Inverneß.

Am Nachmittag sah man das Sommerhaus gerammelt voll von Menschen, viele standen draußen und drängelten wie Kinder bei uns zu Hause vor einem Zirkus, um einen Blick unter das niedrige Dach zu werfen. Es war die Gesangstruppe von Makin, die ihre Proben abhielt für den Tag des Wettbewerbes. Karaiti saß in der ersten Reihe dicht bei den Sängern, wohin auch wir gebeten wurden, um neben ihm zu sitzen, wahrscheinlich zu Ehren der Königin Viktoria. Eine gewaltige, atemraubende Hitze lag unter dem eisernen Dach, und die Luft war schwanger vom Duft der Kränze. Die Sänger saßen gruppenweise auf der Erde, feingeflochtene Matten um die Hüften, Kokosnußfedern als Ringe auf den Fingern, die Häupter gekrönt mit gelben Blättern. Eine verschiedene Anzahl von Solisten erhob sich zu den verschiedenen Gesängen, die den Hauptteil der Musik ausmachten. Aber alle Gruppen in ihrer Gesamtstärke trugen ständig zur Wirkung bei, auch wenn sie nicht sangen. Sie markierten scharf den Takt, äfften einander nach, schnitten Grimassen, warfen Köpfe und Blicke hin und her, ließen die Federn an ihren Fingern flattern, klatschten in die Hände oder schlugen an ihre linke Brust, daß es laut dröhnte wie eine Kesselpauke. Der Rhythmus war prächtig, die Musik barbarisch, aber voll bewußter Kunst. Ich bemerkte, daß gewisse Kunstgriffe ständig angewandt wurden. Eine plötzliche Änderung des Schlusses, glaube ich, wurde ohne Unterbrechung des Rhythmus vorgenommen, der durch plötzliche dramatische Erhöhung der Stimmlage und schwingendes allgemeines Gestikulieren betont wurde. Die Stimmen der Solisten begannen in großen Tonunterschieden und rauhem Mißklang, um allmählich zusammenzufließen. Dann fiel der volle Chor ein und übertönte sie. Die gewöhnlich gehetzte, bellende, unmelodische Tonfolge wurde manchmal herrlich unterbrochen von einer psalmenähnlichen Melodie, die oft gut erfunden war oder es wenigstens schien, aus dem Gegensatz heraus. Der Rhythmus wechselte oft, und am Schlusse jedes Vortrages, wenn das Tempo rasch und wild geworden war, folgten diese Takte:

Es ist schwer zu begreifen, wie sie soviel Feuer und Besessenheit in diese gehämmerten Schlußrhythmen legen können. Alles vereinigt sich: Stimme, Hände, Augen, Blätter und flatternde Fingerringe, der Chor schwingt hin und her vor unseren Augen, der Gesang dröhnt pulsierend in den Ohren, die Gesichter verzerren sich vor Begeisterung und Anstrengung.

Bald darauf erhob sich die ganze Truppe, die Trommler bildeten einen Halbkreis für die Solisten, die manchmal fünf oder mehr zählten. Die folgenden Gesänge waren höchst dramatisch. Obgleich ich niemand hatte, der mir irgendeine Erklärung gab, konnte ich manchmal schattenhafte, aber entschiedene Umrißlinien einer Handlung feststellen, und ich wurde beständig an gewisse streithaft verwickelte Szenen unserer großen Opern daheim erinnert: genau so heben sich hier einzelne Stimmen aus dem allgemeinen Vortrag heraus und treten wieder zurück, genau so trennen sich die Darsteller und kommen wieder zusammen, schütteln die erhobene Faust und rollen das Auge zum Himmel – oder zur Galerie. Schon das geht über das primitive Vorbild des Tespiskarrens hinaus, die Kunst dieses Volkes ist bereits jenseits des Embryostadiums: Gesang, Tanz, Trommeln, Quartett und Solo – es ist ein vollentwickeltes Drama, wenn auch in kleinen Umrissen. Von allen sogenannten Tänzen in der Südsee waren die in Butaritari bei weitem die besten. Das »Lula«, das der eilige Globetrotter in Honolulu sehen kann, ist ohne Zweifel die langweiligste aller menschlichen Erfindungen, und der Zuschauer gähnt ob seiner Länge wie bei einer Universitätsvorlesung oder einer Parlamentsdebatte. Aber der Tanz der Gilbertinseln hat geistige Elemente, er erregt, reißt mit sich fort und hält im Bann, er besitzt das Wesen aller echten Kunst, eine unerforschliche innere Bedeutung. Wo so viele mitwirken und alle im gegebenen Augenblick dieselbe rasche, kunstvolle und oft willkürliche Bewegung machen müssen, ist die Belastung durch Proben selbstverständlich außerordentlich groß. Aber sie beginnen als Kinder, man kann oft ein Kind und einen Mann zusammen in einem Maniak sehen: der Mann singt und gestikuliert, das Kind steht vor ihm mit strömenden Tränen und ahmt zitternd Bewegung und Ton nach; der Künstler auf den Gilbertinseln muß wie alle Künstler seine Kunst in Schmerzen lernen.

Es könnte den Anschein haben, als ob ich in meinem Lob zu weit ginge, aber ich gebe hier eine Stelle aus dem Tagebuch meiner Frau wieder, die beweist, daß nicht ich allein bewegt war, und die das Bild abrundet: »Der Dirigent gab das Zeichen, und alle Tänzer schwangen die Arme, bewegten ihre Körper hin und her und klopften in vollendetem Rhythmus gegen die Brust. Das war die Einleitung. Die Darsteller blieben sitzen, ausgenommen von zweimal drei und zweimal einem einzigen Solisten. Diese standen in der Gruppe und machten kleine Bewegungen mit den Füßen, während ihr Körper bei dem Gesang leise rhythmisch mitschwang. Nach diesem Vorspiel trat eine Pause ein, und dann begann die richtige Oper – denn es war nichts Geringeres als das –, eine Oper, in der jeder Sänger ein vollendeter Schauspieler war. Der Hauptdarsteller schien sich in leidenschaftlicher Ekstase, die ihn vom Kopf bis zu den Füßen beherrschte, zu verwandeln. Einmal war es, als wehe ein starker Wind über die Bühne – die Arme und die befiederten Finger erbebten in einer so starken Bewegung, daß auch meine Nerven mitzitterten: Kopf und Körper beugten sich wie ein Kornfeld im Stoßwind. Mein Blut wurde heiß und kalt, Tränen drangen mir in die Augen, meine Gedanken verwirrten sich, ich fühlte einen fast unwiderstehlichen Drang, mich den Tänzern anzuschließen. Ich glaube das eine Drama ziemlich genau verstanden zu haben; ein wüster, wilder alter Mann spielte die Solopartie. Er sang von der Geburt eines Prinzen, und wie er zärtlich gewiegt wurde in den Armen der Mutter, von seiner Kindheit, da er sich vor den Freunden auszeichnete im Schwimmen, Klettern und allen athletischen Sports, von seiner Jünglingszeit, da er mit dem Boot ins Meer hinausfuhr und fischte, von seiner Manneszeit, da er eine Frau heiratete, die einen Sohn von ihm in ihren Armen trug. Dann folgte Kriegsalarm und eine große Schlacht, deren Ausgang eine Zeitlang zweifelhaft war, aber der Held siegte wie alle Helden, und mit einem riesigen Siegesgeschrei schloß das Stück. Es gab auch komische Stücke, die großes Vergnügen bereiteten. Während eines Vortrages ergriff mich ein alter Mann hinter mir am Arm, drohte mir mit schelmischem Lächeln und sagte kichernd irgend etwas, was ich ungefähr auslegte wie: ›O ihr Frauen, ihr Frauen, es ist wahr, ihr seid alle gleich!‹ Ich fürchte, es war kein Kompliment. Niemals sah man das geringste Zeichen jener häßlichen Unanständigkeiten der östlichen Inseln. Alles war reine und einfache Poesie. Die Musik war so schwierig wie die unsere, obgleich sie nach anderen Gesetzen aufgebaut war. Ein oder zweimal überraschte mich eine Tonfolge, die der besten englischen Kirchenmusik sehr ähnlich war, aber sie dauerte nur einen Augenblick. Schließlich fand eine längere Pause statt, und diesmal waren die Tänzer alle auf den Beinen. Mit der Entwicklung des Dramas wuchs das Interesse. Die Schauspieler munterten einander auf und riefen die Zuhörer und den Himmel droben an, berieten sich miteinander, und die Verschwörer bildeten eine Gruppe. Es war genau wie in der Oper, die Trommeln fielen an geeigneten Stellen ein, Tenor, Bariton und Baß waren vorschriftsmäßig, nur daß die Stimmen alle denselben Umfang besaßen. Eine Frau sang einmal von der hinteren Reihe mit einer sehr feinen Altstimme, die verdorben war, weil man sie künstlich nasal gemacht hatte. Ich bemerkte, daß alle Frauen diese unangenehme Unsitte angenommen hatten. Einmal war ein Knabe von engelhafter Schönheit der Solist, und ein andermal wurde ein Kind von sechs oder acht Jahren, sicher ein Wunderkind, das ausgebildet wurde, in die Mitte gestellt. Der kleine Kerl war zuerst entsetzlich furchtsam und scheu, aber zum Schluß wurde er warm und zeigte viel dramatisches Talent. Der wechselnde Ausdruck auf den Gesichtern der Tänzer war so sprechend, daß man sehr dumm sein mußte, um sie nicht zu verstehen.«

Unser Nachbar bei der Vorstellung, Karaiti, ist Sr. Butaritarischen Majestät in Gestalt und Gesichtsschnitt ähnlich, er ist gleich ihm würdig, trägt einen Bart und sieht aus wie ein Orientale. Im Charakter scheint er das Gegenteil zu sein: beweglich, lächelnd, jovial, witzig und fleißig. Zu Hause arbeitet er auf seiner eigenen Insel wie ein Sklave und läßt sein Volk wie ein Sklaventreiber arbeiten. Er hat Interesse für neue Ideen. Der Händler George erzählte ihm von Flugmaschinen. »Ist das wahr, George?« fragte er. »Es steht in der Zeitung«, antwortete George. »Nun gut,« sagte Karaiti, »wenn jener Mann das mit seiner Maschine tun kann, so kann ich es ohne Maschine.« Und er entwarf und verfertigte ein Paar Flügel, befestigte sie an seinen Schultern, ging zum Ende des Piers, warf sich in den freien Raum und fiel plump ins Meer. Seine Weiber fischten ihn heraus, denn seine Flügel hinderten ihn am Schwimmen. »George,« sagte er innehaltend, als er nach Hause ging, um sich umzuziehen, »George, du lügst«. Er hatte acht Frauen, denn in seinem kleinen Reich befolgte man noch die alten Gebräuche, aber er schien verwirrt, als man es meiner Frau erzählte. »Erzähle ihr, daß ich nur eine mitgebracht habe«, sagte er besorgt. Im großen ganzen gefiel uns dieser schwarze Douglas sehr, und als wir weitere Einzelheiten über die Beunruhigung des Königs hörten und mit unseren eigenen Augen sahen, daß alle Waffen im Sommerhaus versteckt worden waren, beobachteten wir mit um so mehr Bewunderung den Urheber all dieser Furcht, der auf seinen mächtigen Beinen mit seinem großen lächelnden Gesicht offenbar unbewaffnet und bestimmt ohne Begleitung durch die feindliche Stadt trottete. Der rote Douglas, der dickbäuchige Kuma, hatte wohl von dem Gelage gehört und war auf seinem Lehen geblieben; seine Vasallen kamen also ohne Befehlshaber zum Fest und vermehrten die Gefolgschaft Karaitis.

Freitag, den 26. Juli. Abends in der Dunkelheit marschierten die Sänger von Makin auf der Straße vor unserem Hause auf und sangen den Gesang der Prinzessin: »Dies ist der Tag, heute wurde sie geboren, Nei Kamaunava wurde heute geboren, eine wunderschöne Prinzessin, die Königin von Butaritari.« So ging es, wie man mir sagte, in endloser Wiederholung. Das Lied paßte natürlich nicht für den Tag, die Vorstellung war nur eine Probe. Aber sie war gleichzeitig eine Serenade, eine zarte Aufmerksamkeit für uns von unserem neuen Freund Karaiti.

Sonnabend, den 27. Juli. Wir hatten für den heutigen Abend eine Vorstellung mit der Laterna magica in der Kirche angekündigt, und das veranlaßte den König, uns zu besuchen. Zu Ehren des schwarzen Douglas (wie ich vermute) waren seine gewöhnlichen zwei Wächter nun auf vier vermehrt, und die Rotte machte einen ausländischen Eindruck, wie sie hinter ihm hertrottete in Strohhüten, kurzen Röcken und Jacken. Drei von ihnen trugen ihre Gewehre umgedreht, die Kolben über den Schultern, die Mündungen drohend gegen den plumpen Rücken des Königs gerichtet; der vierte hatte seine Flinte auf den Nacken geworfen und hielt sie mit ausgestreckten Armen wie einen Geradehalter. Der Besuch dauerte außerordentlich lange; der König, nun nicht mehr von Gin angeregt, sagte und tat nichts. Er saß zusammengebrochen im Stuhl und ließ seine Zigarre ausgehen. Es war heiß, es war einschläfernd, es war grausam langweilig; keine Abwechslung, als in der Gestalt Tebureimoas nach letzten Spuren des »Herrn Leichnam«, des Menschenschlächters, zu suchen. Seine Habichtsnase, roh eingedrückt und abgeplattet an der Spitze, schien uns wahrhaftig nach mitternächtiger Mordtat zu riechen. Als er sich verabschiedete, bat mich Maka, ihn beim Herabschreiten der Verandatreppe oder vielmehr -leiter zu beobachten. »Alter Mann«, sagte Maka. »Ja,« sagte ich, »und doch glaube ich, nicht bejahrt.« »Junger Mann,« erwiderte Maka, »vielleicht vierzig«. Und ich habe inzwischen gehört, daß er wahrscheinlich noch jünger ist. Während die Laterna magica vorgeführt wurde, strich ich draußen im Dunkeln umher. Die Stimme Makas, der erregt die Bibelbilder erklärte, schien nicht nur die Kirche, sondern auch die ganze Nachbarschaft zu erfüllen. Sonst war alles still. Bald darauf erhob sich in der Ferne leises Singen und näherte sich; eine Prozession kam auf dem Wege heran, und der heiße, reine Geruch von Männern und Frauen traf mein Gesicht. An der Ecke hielten sie an, stutzig geworden durch die Stimme Makas und das Aufflammen und Verdunkeln der Kirche. Sie hatten keine Lust näherzugehen, das war klar. Es waren die Leute von Makin, wahrscheinlich unentwegte Heiden, wie ich glaube, Verächter des Missionars und seines Werkes. Plötzlich brach jedoch ein Mann aus der Gesellschaft aus, rannte so schnell er konnte und floh in die Kirche hinein; im nächsten Augenblick folgten ihm drei weitere, und gleich darauf war es eine Horde von zwanzig, die alle für ihr Leben dahinstürzten. So stand die kleine Horde der Heiden unentschlossen an der Ecke und schmolz angesichts der Verlockungen einer Laterna magica wie ein Gletscher im Frühling zusammen. Die Entschlosseneren redeten vergebens auf die Deserteure ein; noch drei folgten in schuldbewußtem Schweigen und flohen, und als der Führer schließlich den Witz oder die Autorität fand, seine Truppe in Bewegung zu setzen und den Gesang wieder zu beleben, zogen die Musikanten mit stark verminderten Kräften ihres Weges dahin im Dunkeln.

Inzwischen leuchteten im Innern die Lichtbilder auf und verblaßten. Ich stand eine Weile unbeobachtet hinter den Zuschauern und sah vor mir ein Liebespaar das Schauspiel mit Interesse verfolgen, wobei der Jüngling Erklärungen gab und wie Adam Zärtlichkeiten mit den Unterweisungen verband. Die wilden Tiere, besonders ein Tiger, und jenes alte Schulbeispiel, der Schläfer und die Maus, wurden mit Freudenschreien begrüßt, aber das Hauptwunder und größte Entzücken bildeten die Bilder aus den Evangelien. Maka war nach Ansicht seines betrübten Weibes der Situation nicht ganz gewachsen. »Was ist mit meinem Mann los? Warum kann er nicht reden?« rief sie aus. Ich glaube, daß die große Gunst der Gelegenheit den Mann verwirrt hatte, er taumelte gewissermaßen vor Glück, und ob er nun gut oder schlecht sprach: die Vorführung dieser frommen »Gespenster« brachte tatsächlich in diesem ganzen Inselbezirk die Stimmen der Spötter zum Schweigen. »Da seht ihr,« ging die Rede, »die Bibel ist wahr!« Und als wir später zu dieser Insel zurückkehrten, erzählte man uns, daß der Eindruck immer noch lebendig sei, und daß diejenigen, die die Bilder gesehen hatten, zu den anderen sagten: »O ja, es ist alles wahr, diese Dinge haben sich zugetragen, wir haben die Bilder gesehen.« Die Beweisführung ist nicht so kindlich, wie sie scheint, denn ich bezweifle, ob diese Inselbewohner außer der Photographie irgendein anderes Wiedergabeverfahren kennen, so daß das Bild irgendeines Vorkommnisses für einen starken Beweis des wirklichen Geschehens gelten mußte. Alles nach dem alten englischen Melodramagrundsatz: »Die Kamera kann nicht lügen, Joseph!« Diese Tatsachen belustigten uns um so mehr, als unsere Platten teilweise albern und spaßhaft waren, und ein Bild (Christus vor Pilatus) wurde mit großer Heiterkeit aufgenommen, in die selbst Maka sich veranlaßt sah einzustimmen.

Sonntag, den 28. Juli. Karaiti kam mit einer Bitte um Wiederholung der »Gespenster« – dieses war das gebräuchliche Wort –, und als er die Zusage bekommen hatte, wandte er sich ab und verließ meine bescheidene Hütte ohne den Schatten eines Abschiedsgrußes. Es schien mir unklug, auch nur die winzigste Geringschätzung einzustecken. Die Zeiten waren zu schwierig gewesen und immer noch kritisch. Königin Viktorias Sohn war gezwungen, die Ehre seines Hauses aufrechtzuerhalten. Karaiti wurde also am Abend zu Ricks geladen, wo Frau Rick mit scharfen Worten über ihn herfiel und Königin Viktorias Sohn ihn mit entrüsteten Blicken musterte. Ich war der Esel im Löwenfell, ich konnte nicht brüllen in der Sprache der Gilbertinseln, aber ich konnte ihn anstarren. Karaiti erklärte, er habe mich nicht beleidigen wollen, entschuldigte sich in vernünftiger, herzlicher und männlicher Weise und gewann sofort seine Unbefangenheit wieder. Er ließ sich einen Dolch zur Prüfung vorlegen und verkündete, er wolle morgen in der Frühe kommen, um einen Preis zu machen, heute sei Sonntag. Diese Höflichkeit eines Helden mit acht Frauen überraschte mich. Der Dolch sei gut, »um Fische zu töten«, sagte er verschlagen und hatte vermutlich Fische mit zwei Beinen im Auge. Sonderbar genug ist es, daß in Ostpolynesien »Fisch« der gebräuchliche beschönigende Ausdruck für Menschenopfer ist. Nach der Bevölkerung seiner Insel gefragt, rief Karaiti seine Vasallen, die draußen vor der Tür saßen und auf ihn warteten, und sie nannten die Zahl vierhundertfünfzig, aber Karaiti fügte heiter hinzu, es würden bald viel mehr sein, denn alle Frauen seien in anderen Umständen. Lange bevor wir uns trennten hatte ich seine Beleidigung ganz vergessen. Er jedoch trug sie im Gedächtnis und hatte den anmutigen Einfall, in der Frühe des nächsten Tages zurückzukehren, uns einen langen Besuch abzustatten und sich höchst förmlich zu verabschieden, als er fortging.

Montag, den 29. Juli. Endlich kam der große Tag. In den ersten Abendstunden erklang lautes Händeklatschen und der Lobgesang auf Nei Kamaunava. Die melancholischen, langsamen und manchmal drohenden Rhythmen wurden stellenweise von schrecklichem Geschrei unterbrochen. Das kleine Menschenkind, das in den dunklen Stunden auf diese Weise gefeiert wurde, sah man mittags im Grünen ganz nackt, völlig unbeachtet und gleichmütig spielen.

Das Sommerhaus auf dem künstlichen Inselchen hob sich ab gegen die schimmernde Lagune und erglänzte in der Sonne, die auf dem Wellblech lag. Den ganzen Tag war es umgeben von heiteren Männern und Frauen, drinnen dichtgefüllt mit Insulanern jeden Alters und jeder Größe, in allen Stadien der Nacktheit und Eleganz. Wir saßen so dichtgedrängt, daß ich einmal eine wunderbar schöne Frau auf meinen Knien trug, während zwei nackte kleine Straßenjungen ihre Füße gegen meinen Rücken stemmten. War irgendwo eine Dame im feierlichen Gewand des Holoku, in Hut und Blumen, so konnte die nächste Nachbarin im nächsten Augenblick irgendeinen kleinen Tuchfetzen von ihren fetten Schultern streifen und wie ein Denkmal von Fleisch dastehen, eher bestrichelt als bedeckt von dem haarbreiten Ridi. Kleine Damen, die sich zu groß dünkten, unbekleidet auf einem so hohen Fest zu erscheinen, sah man draußen im hellen Sonnenschein stillstehen, ihre zierlichen Ridis in der Hand: einen Augenblick später waren sie voll bekleidet und betraten den Konzertsaal.

Die beiden Sängergruppen auf den beiden Seiten standen auf, um zu singen, und setzten sich, um auszuruhen: Kuma und Klein-Makin im Norden, Butaritari und die anliegenden Dörfer im Süden, beide Gruppen in barbarischer Pracht. In der Mitte zwischen diesen gegnerischen Lagern der Troubadoure war eine Bank aufgestellt, und hier thronten der König und die Königin zwei oder drei Fuß über der horchenden Menge auf dem Boden – Tebureimoa wie gewöhnlich in seinem gestreiften Pyjama mit einer Tasche über einer Schulter, die nach Inselsitte ohne Zweifel seine Pistolen enthielt; die Königin in einem purpurnen Holoku, das weiße Haar herunterhängend, einen Fächer in der Hand. Die Bank war so gestellt, daß den Fremden die Frontseite zugekehrt war, eine wohlberechnete Höflichkeitsbezeugung. Wenn nun die Reihe an Butaritari war zu singen, so mußte das Paar sich auf der Bank umdrehen, die Ellbogen auf die Lehne stützen und uns den Anblick ihrer breiten Rücken zeigen. Das königliche Paar erquickte sich manchmal an einer Tonpfeife, und das stattliche Gepränge wurde außerdem noch erhöht durch die Gewehre einer Wachabteilung.

In dieser königlichen Umgebung hörten wir, während wir selbst am Boden hockten, verschiedene Lieder von der einen oder anderen Partei; dann zogen sich der königliche Hofstaat und die Wachen zurück, und Königin Viktorias Sohn und Schwiegertochter wurden durch Zuruf aufgefordert, den freien Thron einzunehmen. Unser Stolz wurde vielleicht ein wenig gedämpft, als sich uns auf unseren erhabenen Plätzen ein gewisser verschwenderischer Taugenichts von einem Weißen zugesellte, und doch war ich froh darüber, denn der Mann hatte eine oberflächliche Kenntnis der Eingeborenensprache und konnte mir eine gewisse Vorstellung vom Inhalt der Lieder geben. Das eine war patriotisch und forderte Tembinok‘ von Apemama, den Schrecken der Inselgruppe, zu einem Überfall heraus. Ein anderes Lied sang vom Tarosäen und Erntefest. Manche hatten historische Themen und feierten Könige und berühmte Ereignisse ihrer Zeit, zum Beispiel ein Trinkgelage oder einen Krieg. Eines zum mindesten war eine Art Familiendrama und wurde von der Makintruppe ausgezeichnet gespielt. Es erzählte die Geschichte eines Mannes, der sein Weib verloren hat, zunächst ihren Verlust beklagt und dann eine andere sucht; die ersteren Strophen werden ausnahmslos von Männern gespielt, aber gegen Schluß erscheint eine Frau, die ihren Gatten verloren hat, und es schien so, als ob das Paar sich miteinander tröste, denn der Schluß schien von glücklicherer Vorbedeutung. Von einigen Liedern sagte mir mein Nachbar kurz, sie handelten wahrscheinlich von Frauen, aber das hatte ich auch selbst erraten. Jede Gruppe wurde, wie ich erwähnen will, durch eine oder zwei Frauen verstärkt. Sie waren alle Solisten, wirkten nicht sehr oft mit, sondern standen untätig im Hintergrund der Bühne und sahen mit Ridi, Halsband und aufgestecktem Haar tatsächlich aus wie europäische Ballettänzerinnen. Wenn die Lieder irgendwie dreister wurden, traten diese Damen besonders in den Vordergrund, und es war sonderbar zu sehen, daß nach jedem Auftritt die Vortänzerin so tat, als werde sie von Scham überwältigt und sei weitergegangen, als sie gewollt habe. Ihre männlichen Mittänzer taten, als trieben sie sie fort wie jemand, der sich mit Schande bedeckt hat. Derartige Zierereien begleiteten gewisse wirklich unanständige Tänze auf Samoa, wo sie sehr wohl am Platze sind. Hier war es anders, die Worte in dieser offenherzigen Welt waren vielleicht kraß genug, um einen Droschkenkutscher erröten zu machen, aber die freieste Gebärde war eben dies Spiel angeblicher Scham. Für diese Rollen zeigten die Frauen manche Begabung, sie waren keck, sie waren niedlich, sie waren gewandt, sie waren zeitweise wirklich amüsant, und einige von ihnen waren hübsch. Aber alles das ist nicht das Gebiet des Künstlers: die ganze Weite des Himmelsraumes liegt zwischen diesem Herumspringen und Äugeln und den fremdartigen rhythmischen Bewegungen und leidenschaftlichen, fast wahnsinnigen Gesichtern, mit denen die besten männlichen Tänzer uns in einem Ballett auf den Gilbertinseln gefangenhielten.

Fast vom ersten Augenblick an war es klar, daß die Leute der Stadt unterlegen waren. Ich hatte sie sicher für gleich gut gehalten, wenn ich nicht die andere Truppe vor Augen gehabt hätte, um mein Urteil zu korrigieren und mich ständig daran zu erinnern, daß hier irgend etwas Unbestimmbares noch hinzukam, das eigentlich Entscheidende. Als der Chor von Butaritari sich in den Hintergrund gedrängt sah, wurde er verwirrt, machte Fehler und brach zusammen. Inmitten dieses Wirrwarrs von Rhythmen würde ich selbst die Mängel gar nicht bemerkt haben, aber die Zuhörerschaft erfaßte sie rasch und begann zu spotten. Um allem die Krone aufzusetzen, begann die Makin-Gruppe einen Tanz von wahrhaft ausgezeichneter Schönheit. Ich weiß nicht, um was es sich handelte, ich war zu sehr gefangen, um zu fragen. In einem Akt brachte ein Teil des Chors fast die Wirkung unserer Orchester hervor, indem man in einem sonderbar fremdartigen Falsett kreischte; in einem anderen hüpften die Tänzer mit ausgestreckten Armen wie Clowns umher und rannten reihenweise durcheinander mit ungeheurer Schnelligkeit und Ausgelassenheit. Ich sah nie eine humoristischere Szene; in jedem europäischen Theater würden sie einen Sensationserfolg gehabt haben, und die Inselzuhörer krümmten sich vor Lachen und Beifall. Das brachte die andere Gruppe außer sich, und sie vergaßen sich selbst und jeden Anstand. Nach jedem Akt oder jeder Figur des Balletts pausieren die Darsteller einen Augenblick stehend, und der nächste Akt wird durch Händeklatschen im Dreitakt eingeleitet. Kurz vor Schluß der ganzen Ballettaufführung setzen sie sich hin, das Zeichen für die andere Gruppe aufzustehen, aber nun wurden alle Regeln durchbrochen. In der Pause, die dem Beifallssturm folgte, sprang die Gruppe von Butaritari plötzlich auf die Füße und begann in höchst unschöner Weise eine eigene Darbietung. Es war sonderbar zu sehen, wie die Leute von Makin sie anstarrten; niemals sah ich in Europa einen Tenor mit derselben verwirrten Würdigkeit in eine zischende Zuschauermenge starren. Aber gleich darauf wurden sie zu meiner Überraschung ruhiger, gaben den ungesungenen Teil ihres Balletts auf, nahmen ihre Sitze ein und duldeten, daß ihre ungalanten Gegner zu Ende spielten. Aber das genügte nicht. Bei der ersten Pause schritt Butaritari wieder in häßlicher Weise ein, Makin folgte erregt ihrem Beispiel, und die beiden Tänzergruppen blieben nun dauernd stehen, klatschten in die Hände und lösten sich willkürlich nach jeder Pause ab. Ich erwartete, daß jeden Augenblick eine Schlägerei beginnen würde, wobei unsere Lage inmitten der Gruppen höchst fatal gewesen wäre. Aber die Leute von Makin fanden einen besseren Ausweg, nach einer neuerlichen Unterbrechung wandten sie sich ab und verließen das Haus. Wir folgten ihnen, erstens, weil sie die wirklichen Künstler waren, und zweitens, weil sie Gäste und in gemeiner Weise behandelt worden waren. Eine große Anzahl unserer Nachbarn tat dasselbe, so daß der Laufsteg von einem Ende zum andern angefüllt war mit Deserteuren und der Butaritarichor zu seiner eigenen Unterhaltung im leeren Hause allein weiterspielen konnte; er hatte den Streit gewonnen und die Zuhörerschaft verloren. Es war ohne Zweifel ein Glück, daß niemand betrunken war, aber betrunken oder nüchtern: wo wäre sonst eine so erregte Versammlung ohne Schlägerei auseinandergegangen?

Die letzte Vorführung und der Höhepunkt dieses Festtages war von uns vorbereitet: die zweite und unwiderruflich letzte Vorführung der »Gespenster«. Rund um die Kirche saßen Gruppen draußen in der Nacht, wo sie nichts sehen konnten; vielleicht schämten sie sich hineinzugehen, sicher aber bereitete es ihnen ein schattenhaftes Vergnügen, sich auch nur in der Nähe aufzuhalten. Drinnen war ungefähr die Hälfte des großen Raumes gedrängt voll. In der Mitte auf dem königlichen Thronsessel qualmte die leuchtende Laterna magica; einige Lichtstrahlen fielen auf das ernste Gesicht unseres Chinesen, der eine Drehorgel spielte, in mattem Schein sah man die Sparren des Dachgewölbes und ihre Schatten, die Bilder erschienen und verschwanden auf der Leinwand. Bei jedem neuen erhob sich Raunen, Flüstern und ein Geräusch von erschauernd hin und her rückenden Menschen, in das sich ein Chor kleiner Schreie mischte. Neben mir saß der Steuermann eines schiffbrüchigen Schoners. »In Europa oder den ›Staaten‹ würden sie sich wundern über solche Vorstellung«, sagte er, »in einem solchen Gebäude, das nur mit ein paar Stricken zusammengehalten wird.«