Was das Wrack nach Aros brachte

Es war zwischen Flut und Ebbe, als ich endlich Aros erreichte, und es blieb mir nichts übrig, als mich am Ufer aufzustellen und nach Rorie um das Boot zu pfeifen. Ich brauchte das Signal nicht zu wiederholen, schon beim ersten Ton war Mary an der Tür und winkte als Antwort mit dem Taschentuch, während der alte Knecht langbeinig über den Kies zum Landungssteg hinunterschlurfte. Trotz aller Eile brauchte er viel Zeit, bis er herübergerudert war, und ich sah ihn einige Male innehalten, zum Heck gehen und neugierig ins Kielwasser hinabstarren. Als er sich mir näherte, erschien er mir ausgemergelt und gealtert, und es war mir, als wiche er meinen Blicken aus. Der Kahn war durch zwei neue Keile und verschiedene Flicke aus einem seltenen, fremdländischen Holz, dessen Namen ich nicht kannte, ausgebessert.

»Aber Rorie,« sagte ich, als wir die Rückfahrt antraten, »das ist ja kostbares Holz. Wie seid ihr dazu gekommen?«

»Es wär woll schwer zu hobeln,« meinte er widerwillig; und im gleichen Augenblicke ließ er die Ruder fallen und machte abermals einen jener plötzlichen Vorstöße nach dem Heck, die ich auf seiner Herfahrt bemerkt hatte, und starrte, auf meine Schulter gestützt, entsetzt in das Wasser.

»Was ist los?« fragte ich, ziemlich erschrocken.

»Es war woll ein großer Fisch,« sagte der Alte und griff die Ruder wieder auf, und außer einigen seltsamen Blicken und einem vielsagenden Kopfschütteln war nichts mehr aus ihm herauszuholen. Mir selber zum Trotz griff eine gewisse Unruhe auf mich über; ich drehte mich gleichfalls um und beobachtete das Kielwasser. Das Meer war hier im Mittelpunkte der Bucht still und durchsichtig, aber außerordentlich tief. Eine Zeitlang sah ich nichts; schließlich war mir jedoch, als wenn etwas Dunkles – ein großer Fisch, vielleicht auch nur ein Schatten – haarscharf der Spur des gleitenden Kahnes folge. Und dann erinnerte ich mich einer abergläubischen Überlieferung Rories: wie anläßlich einer der vernichtenden Blutfehden zwischen den Clans von Morveen jahrelang ein in jenen Gewässern völlig unbekannter Fisch der dortigen Fähre zu folgen pflegte, bis keiner mehr den Übergang zu machen wagte. »Er wird woll auf den Richtigen lauern,« sagte Rorie.

Mary erwartete mich am Strande und führte mich den Abhang hinauf nach dem Haus von Aros. Draußen und drinnen war vieles anders geworden. Der Garten war mit dem gleichen Holz, das ich am Boote bemerkt hatte, eingezäunt, in der Küche befanden sich einige mit seltenem Brokat bezogene Stühle; Brokatvorhänge verkleideten die Fenster; auf der Anrichte stand eine stumme Uhr; eine Messinglampe hing von der Decke herunter; der Mittagstisch war mit dem feinsten Leinenzeug und Silber gedeckt; und alle diese neuen Kostbarkeiten standen in der alten, mir so wohlbekannten Küche, mit der hochlehnigen Bank und den Hockern und dem alten Wandbett für Rorie, mit den Pfeifen auf dem Kaminsims und den dreieckigen Spucknäpfen, die statt mit Sand mit Muscheln gefüllt waren; mit den nackten Steinwänden und dem kahlen Holzboden und den drei aus Flicken zusammengesetzten Teppichen, die früher ihren einzigen Schmuck bildeten: Armeleuteflickereien, die es in der Stadt nicht gab, aus selbstgewebtem Zeug, schwarzem Sonntagstuch und Öltuchresten, die auf der Ruderbank abgewetzt waren. Der Raum hatte, ebenso wie das Haus, dank seiner Sauberkeit und Wohnlichkeit weit und breit als eine Art Wunder gegolten, und ihn jetzt durch diese unpassenden Ergänzungen entstellt zu finden, erfüllte mich mit Entrüstung, ja mit Zorn. Angesichts der Aufgabe, die ich mir in Aros gestellt hatte, war dieses Gefühl freilich grundlos und ungerecht, trotzdem loderte es im Augenblicke in meinem Herzen auf.

»Mary, Mädchen,« sagte ich, »dies ist der Ort, den ich gelernt hatte als mein Heim zu betrachten, und doch kenne ich ihn nicht. –«

»Es ist mein Heim von Haus aus, nicht von Gewohnheit,« antwortete sie, »der Ort, wo ich geboren bin und wo ich wohl auch sterben werde; und ich mag weder diese Veränderungen, noch die Art, in der sie gekommen sind, noch was sie mit sich brachten. Mir wäre lieber, sie ruhten, so Gott will, auf dem Meeresboden, und die ›Tollen Männer‹ tanzten über sie hinweg.« Mary war stets ernst – das war vielleicht der einzige Zug, den sie mit ihrem Vater gemeinsam hatte – der Ton jedoch, mit dem sie diese Worte sprach, war noch ernster als gewöhnlich. –

»Ja,« sagte ich, »ich fürchtete, sie wären durch ein Schiffsunglück, will sagen, durch den Tod zu Euch gekommen; dennoch übernahm ich, als mein Vater starb, sein Gut ohne Reue.«

»Dein Vater starb einen reinen, graden Tod, sagen die Leute,« war Marys Antwort.

»Wohl wahr,« entgegnete ich, »und ein Wrack ist wie ein Gottesgericht. Wie war sein Name?«

»Sie nannten es die ›Christ-Anna‹«, sagte eine Stimme hinter mir, und als ich mich umdrehte, sah ich meinen Onkel auf der Schwelle stehen.

Er war ein sauertöpfischer, galliger kleiner Mann, mit einem langen Gesicht und sehr dunklen Augen, sechsundfünfzig Jahre alt und mit einem Äußeren, das halb an den Schäfer, halb an den Seemann erinnerte. Ich habe ihn niemals lachen hören; er pflegte ausführlich in der Bibel zu lesen und betete viel, nach Art der Kameronier, unter denen er aufgewachsen war. Ja, vielfach gemahnte er mich an einen Hochlandsprediger aus den mörderischen Zeiten vor der Revolution. Allein er schöpfte niemals sonderlichen Trost und, so viel ich weiß, nicht einmal Rat aus seiner Frömmigkeit. Er pflegte seine schwarzen Stunden zu haben, in denen er sich vor der Hölle fürchtete; aber er hatte ein rauhes Leben geführt, auf das er voller Neid zurückblickte, und war nach wie vor ein rauher, kalter, finsterer Mann.

Als er so aus dem Sonnenlicht zur Tür hereintrat, mit seiner Kappe auf dem Kopf und einer Pfeife im Knopfloch baumelnd, schien er mir wie Rorie gealtert und bleicher; die Falten waren tiefer in sein Gesicht gegraben, und das Weiße seiner Augen schimmerte gelblich wie altes Elfenbein oder Totenknochen.

»Ja,« sagte er, mit besonderer Betonung des ersten Wortes, »die ›Christ-Anna‹, ein heiliger Name. – «

Ich bot ihm meine Begrüßung und ein Kompliment auf seine Gesundheit, denn ich fürchtete, er sei vielleicht krank gewesen.

»Ich bin bei Leibe,« erwiderte er ziemlich unwirsch, »jawohl, bei Leibe, und in den Sünden des Leibes, wie du selbst. Essen,« sagte er plötzlich zu Mary und fuhr dann, zu mir gewendet, fort: »Schöne Sachen, teure Sachen, die wir da haben, nicht wahr? Die Uhr da ist gut, aber sie geht nicht, und das Gehänge ist auch gut; lauter gute, feine Sachen, Sachen, für die die Leute den Frieden Gottes hergeben, der höher ist als die Vernunft; Sachen, für derengleichen und für weniger als derengleichen die Leute dem Herrgott ins Antlitz trotzen und baß in der Holle brennen; und darum nennt sie die Schrift, wie ich gelesen habe, verflucht. Mary, Frauenzimmer,« unterbrach er sich mit ziemlicher Schärfe, »warum hast du nicht die beiden Leuchter vorgeholt?«

»Was brauchen wir sie am hellichten Mittag?« war die Gegenfrage.

Aber mein Onkel ließ sich nicht von seinem Gedanken abbringen. »Wir wollen sie benutzen, solange wir noch können,« sagte er, und so mußte das für den armen Inselhof so ungeeignete Gedeck noch um zwei schwere Leuchter aus getriebenem Silber vermehrt werden.

»In der Nacht vom zehnten Februar, so um die zehnte Stunde, ist es an Land gelaufen,« fuhr er zu mir gewendet fort. »Wind war nicht, aber eine starke Dünung, und es war in den Strudel der Roost geraten. Rorie und ich hatten es den ganzen Tag vor dem Wind treiben sehen. Es war kein lenksames Schiff, mein‘ ich, die ›Christ-Anna‹, es wollte sich weder steuern lassen noch gehorchen. Einen argen Tag haben sie mit ihm gehabt. Die Hände kamen nimmer von der Takelung runter und es war grimmig kalt – allzu kalt für Schnee – und sobald sie einen Luftzug bekamen, der ihnen die leere Hoffnung einblies, gings weiter. Mann, Mann, einen saueren Tag hatten sie zu guter Letzt! Fest, festen Herzens mußte der sein, der auf jenen Planken glücklich das Land gewinnen wollte.«

»Und sind alle untergegangen?« rief ich. »Gott steh‘ ihnen bei!«

»Ruhig!« sagte er streng. »An meinem Herde darf keiner für die Toten beten.«

Ich verteidigte meinen Ausruf gegen jede papistische Deutung, und er schien meine Worte mit ungewöhnlichem Entgegenkommen aufzunehmen, wobei er fortfuhr, über das, was anscheinend sein Lieblingsthema geworden war, zu schwatzen.

»Wir fanden es in der Sandager Bucht, Rorie und ich, mitsamt all den Sachen da. Du weißt, die Bucht hat eine tückische Stelle, wenn die Strömung stark auf die ›Tollen Männer‹ geht. Bei Hochflut aber, wenn man die Roost drüben am anderen Ende von Aros hört, läuft eine Gegenströmung stracks in die Bucht hinein. Nun, die Sache hat der ›Christ-Anna‹ den Garaus gemacht. Sie muß heckvorwärts aufgelaufen sein, denn ihr Bug ist oftmals unter Wasser und das Hinterdeck auch bei Hochflut klar; Mann, Mann, der Stoß, mit dem sie aufgelaufen ist! Der Herr schütz‘ uns alle! Ein heilloses Leben, das zur See, – ein kaltes, böses, bitteres Leben. Manch einen Sprung in die Tiefe hab ich selbst getan zu meiner Zeit, aber warum der Herr jenes arge Wasser geschaffen hat, ist mehr als ich je hab begreifen können. Er hat die Täler und die Triften, den guten grünen Garten und das feste, sichere Land geschaffen –

»Und sie preisen und lobsingen dir,
»Die du sie froh gemacht,« –

wie der Psalm im Versmaß sagt. Nicht, daß ich meinen Glauben auf solch Geklingel gründen möchte, aber es ist lieblich und leichter zu behalten.

»Und wer auf fernen Schiffen,
»Dem Meere sich vertraut,

»Des Herren Werk und Wunder
»In seiner Tiefe schaut,«

heißt es.

Nun, es hört sich gar anmutig an, und David hat vielleicht nicht viel vom Meere gewußt. Meiner Seel, wenn’s nicht in der Bibel stände, ich wäre versucht zu glauben, daß nicht der Herr, sondern der Böse selbst das Meer geschaffen hat. Es kommt nichts Gutes aus ihm heraus, die Fische ausgenommen; und David wird wohl an das Bild des Herrn, der auf den Fluten wandelte, gedacht haben. Arge Wunder sind’s gewesen, die Gott der ›Christ-Anna‹ gezeigt. Wunder hab ich gesagt? Gottesgerichte, Gerichte der Finsternis, dort unten, unter den Drachen der Tiefe! Und ihre Seelen – denk an ihre Seelen, Mann, die vielleicht unvorbereitet waren! Das Meer – ein strackser Weg zur Hölle!«

Mir fiel während meines Onkels Rede auf, daß seine Stimme unnatürlich bewegt und sein Benehmen ungewöhnlich erregt waren. So beugte er sich zum Beispiel bei diesen letzten Worten vor, berührte mein Knie mit gespreizten Fingern und schaute mir bleichen Antlitzes ins Gesicht; ich sah, daß in seinen Augenhöhlen Feuer brannte, und daß die Falten um seinen Mund sich spannten und zuckten.

Selbst der Eintritt Rories und der Beginn unserer Mahlzeit vermochten ihn nicht einen Augenblick von seinem Gedankengange abzubringen. Zwar ließ er sich herbei, mir einige Fragen über meine Universitätserfolge zu stellen, aber mir war, als wäre er nur halb mit den Gedanken bei der Sache, und selbst bei seinem extemporierten Tischgebet, das wie gewöhnlich lang und weitschweifig war, konnte ich die Spuren seiner Gedankentätigkeit verfolgen. Er betete, »daß Gott in Gnaden sich vier armer, schwacher, törichter und sündhafter Geschöpfe in ihrer Verlassenheit am Rande der großen, mächtigen Gewässer erbarmen möge.« –

Bald kam es zu einem Gedankenaustausch zwischen ihm und Rorie.

»War es da?« fragte mein Onkel.

»Oh ja!« sagte Rorie.

Ich bemerkte, daß beide gleichsam bei Seite und in einiger Verlegenheit sprachen, und daß Mary selbst errötete und auf ihren Teller niedersah. Teils um meine Eingeweihtheit zu zeigen, teils um die Gesellschaft der Peinlichkeit zu entreißen, teils auch aus Neugierde verfolgte ich das Thema weiter.

»Ihr meint den Fisch?« fragte ich.

»Welchen Fisch?« rief mein Onkel. »Fisch, sagt Er! Fisch! Deine Augen sind geblendet, Mann. Dein Kopf ist von weltlicher Weisheit stumpf! Fisch! Ein Geist ist es!« Er sprach mit großer Heftigkeit, wie im Zorn. Mag sein, daß ich nicht willens war, mich so kurz abweisen zu lassen, denn junge Leute lieben den Widerspruch; zum mindesten erinnere ich mich, ihm eine rasche Gegenantwort erteilt zu haben, die seinen kindischen Aberglauben verwarf.

»Und Er kommt von der Universität,« höhnte mein Onkel Gordon. »Gott weiß, was sie die jungen Leute dort lehren; sicherlich nichts Nützliches! Glaubt Er denn, Mann, daß in der salzigen Wüste da draußen Tag für Tag nichts anderes ist als Seegras, Seegetier und der Sonnenschein? Nein; das Meer ist wie das Land, nur gefährlicher. Gibt es Menschen auf dem Lande, dann auch im Meer – tot mögen sie wohl sein, aber Menschen sind es; und was die Teufel anbetrifft, so gibt es keine wie die Meerteufel. Die Landteufel sind, wenn man’s recht betrachtet, gar nicht so schlimm. Vor langer Zeit, als ich noch ein junger Bursch war, kannt‘ ich einen alten kahlen Geist im Moor von Peewie. Ich habe ihn selbst gesehen, wie er, grau wie Grabgestein, am Erdboden hockte. Und eine garstige Kröte war er, bei meiner Seel‘. Ja, wäre ein Verworfener, einer der in des Herrn Zorne wandelt, vorbeigegangen, mit der Sünde in seinen Eingeweiden, den und seinesgleichen hätte das Geschöpf wohl angesprungen. Aber im tiefen Meer gibt es Teufel, die sich selbst an einen Kommunikanten haften. Ich sage Euch, wäret Ihr mit den armen Burschen auf der ›Christ-Anna‹ untergegangen, Ihr hättet des Meeres Barmherzigkeit kennen gelernt! Hättet Ihr es so lange befahren wie ich, Ihr würdet den Gedanken an das Meer hassen, wie ich es tue. Hättet Ihr Euch der Augen bedient, die Euch der Herrgott gegeben, Ihr wäret der Bosheit jenes falschen, bitteren, kalten, unsteten Geschöpfes und alles dessen, was nach Gottes Ratschluß in ihm lebt, inne geworden: Hummer und Krebse und dergleichen, die von den Toten leben; und mächtige, großmäulige, schnaubende Wale, und die Fische samt all‘ ihresgleichen – kaltblütiges, blindäugiges, unheimliches Gezücht. Oh,« schrie er, »oh über das Grauen – das Grauen des Meeres!«

Wir waren alle ein wenig erschrocken über diesen Ausbruch, und der Sprecher selbst versank nach jenem letzten heiseren Ausruf anscheinend in seine eigenen finsteren Gedanken. Aber Rorie, der nach abergläubischen Märchen gierte, brachte ihn durch eine Frage auf das Thema zurück.

»Ihr habt wohl niemals einen Seeteufel gesehen?« fragte er.

»Nicht ausdrücklich,« erwiderte der andere. »Ich zweifle, ob ein bloßer Mensch einen ausdrücklich sehen und bei Leibe bleiben kann. Ich bin mit einem Burschen gefahren – Sandy Gabart nannten sie ihn; der hatte einen richtig gesehen und ist auch richtig dran gestorben. Wir hatten sieben Tage zuvor den Clyde verlassen – harte Arbeit hatte es gegeben – und waren nordwärts bestimmt mit Sämereien und Waren und allerlei für den Macleod. Dabei waren wir hart an die Cutchullens geraten, hatten eben bei Soa gekreuzt und hatten nun gute Fahrt, die, wie wir glaubten, wohl bis Copnahow anhalten würde. Ich weiß die Nacht noch gut; der Mond steckte in Nebelfetzen; eine starke Brise lag auf dem Wasser, stark, aber nicht stetig, und – was keiner von uns gerne hörte – über unseren Köpfen von den finsteren alten Felsen von Cutchullen her schrie und heulte ein zweiter Wind. Nun, Sandy war vorne bei dem Klüversegel, wir konnten ihn nicht sehen, denn das Großsegel, das sich grade erst aufblähte, lag dazwischen, als er ganz plötzlich aufschrie. Ich renne ums liebe Leben, denn ich dachte, wir wären allzu nahe an Soa herangeraten; aber nein, das war es nicht, es war des armen Sandys Todesschrei oder doch hart daran, denn nach einer halben Stunde war er tot. Alles was er zu sagen wußte, war, daß ein Seeteufel oder Seegeist oder Seegespenst oder dergleichen den Bugspriet hinaufgeklettert wäre und ihm einen einzigen kalten, unheimlichen Blick zugeworfen hätte. Und noch bevor Sandy den Geist aufgab, wußten wir gar wohl, was das Ding hatte besagen wollen, und warum der Wind in den Spitzen der Cutchullens heulte; denn runter kam er. Wind habe ich ihn genannt? Es war der Zornwind Gottes, und die ganze Nacht über kämpften wir wie Männer, die den Verstand verloren haben, und das erste, was wir wußten, war, daß wir in Loch Uskevagh an Land gingen, und in Benbecula krähten die Hähne.«

»Es wird woll ein Meermann gewesen sein,« sagte Rorie. »Ein Meermann!« schrie mein Onkel in maßloser Verachtung. »Altweibergeschwätz! Ein Meermann! Es gibt nichts dergleichen.«

»Aber wie sah denn das Geschöpf aus?« fragte ich.

»Wie es aussah? Gott verhüte, daß wir es erfahren möchten! Es trug eine Art Kopf auf den Schultern – mehr wußte kein Mensch zu sagen.«

Dann erzählte Rorie, den die Kränkung brannte, verschiedene Geschichten von Meermännern, Meerjungfern und Seepferden, die auf den Inseln an Land gestiegen seien und die Besatzungen der Schiffe auf dem Meere angegriffen hätten, und mein Onkel hörte trotz seines Unglaubens mit unruhigem Interesse zu.

»Gut, gut,« sagte er, »es mag ja so gewesen sein; vielleicht habe ich unrecht; aber ich finde kein Wort von Meermännern in der Schrift.«

»Ihr werdet wohl auch kein Wort von Aros Roost dort finden,« warf Rorie ein, und sein Einwand schien zu überzeugen.

Nach dem Essen führte mein Onkel mich hinaus ins Freie nach einem Abhang hinter dem Hause. Es war ein heißer, stiller Nachmittag; kaum daß hin und wieder eine schwache Welle das Meer kräuselte, und kaum ein Laut, außer den vertrauten Stimmen der Schafe und Möwen. Dieser Stille in der Natur war es vielleicht zu verdanken, daß mein Verwandter sich vernünftiger und ruhiger zeigte. Er sprach gleichmäßig und fast heiter von meiner Laufbahn, mit gelegentlichen Hinweisen auf das verlorene Schiff oder die Schätze, die es nach Aros gebracht. Ich meinerseits hörte ihm gleichsam wie im Traume zu, betrachtete aus vollem Herzen die wohlbekannte Szene und trank freudig die Seeluft und den Rauch der Torfstücke, die Mary angezündet hatte.

Wohl eine Stunde war so vergangen, als mein Onkel, der die ganze Zeit über verstohlen den Wasserspiegel der kleinen Bucht beobachtet hatte, sich erhob und mich bat, seinem Beispiele zu folgen. Hier muß ich hinzufügen, daß die starke Flut an der Südwestspitze von Aros eine beunruhigende Wirkung rings auf die ganze Küste ausübt. Im Süden, in der Bucht von Sandag, herrscht zu gewissen Zeiten von Flut und Ebbe eine kräftige Strömung; in der nördlichen Bucht, der Bucht von Aros dagegen, wo das Haus steht, auf die mein Onkel jetzt herniederblickte, waren einzig gegen Schluß der Ebbe gewisse Zeichen sichtbar, – und auch die zu schwach, um aufzufallen. Bei bewegtem Wasser war überhaupt nichts zu sehen; bei Meeresstille jedoch, wie sie häufig herrscht, tauchen auf dem glasigen Wasserspiegel gewisse rätselhafte, wirre Zeichen auf – Seerunen könnte man sie nennen. – Dergleichen ist an tausend Stellen an der Küste zu finden, und manch junger Bursch mag sich, wie ich, die Zeit damit vertrieben haben, daß er sich mühte, aus ihnen irgendwelche Beziehungen zu sich selbst oder zu denen, die ihm teuer waren, herauszulesen. Auf diese Zeichen lenkte mein Onkel jetzt, einen tiefen Widerwillen bekämpfend, meine Aufmerksamkeit.

»Siehst du das Zeichen dort auf dem Wasser?« fragte er, »das neben dem grauen Stein? Ja? Es wird doch kein Buchstabe sein, was meinst du?«

»Natürlich ist es einer,« antwortete ich. »Ich habe es schon oft bemerkt. Es gleicht einem C.«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, als hätte ihn meine Antwort bitter enttäuscht, und fügte dann leise hinzu: »Ja, ja. Für die Christ-Anna.«

»Ich habe es früher stets auf mich selbst bezogen, Oheim,« sagte ich, »auf meinen Namen Charles.«

»Du hast es also schon früher gesehen?« fuhr er fort, ohne auf meine Bemerkung zu achten. »So, so. Aber gar geheuer ist es doch nicht. Vielleicht hat es dort schon die liebe lange Zeit bis auf den heutigen Tag gelauert. Mann, ist das ein grausiger Gedanke!« Er brach plötzlich ab. »Du siehst doch wohl kein zweites?« fragte er.

»Doch,« sagte ich. »Ich sehe einen zweiten Buchstaben ganz deutlich, nahe bei der Roß, dort wo der Weg mündet, – ein M.«

»Ein M,« wiederholte er sehr leise. »Und wie deutest du das?« erkundigte er sich.

»Ich glaubte immer, daß es Mary bedeutete, Oheim,« antwortete ich errötend, überzeugt, daß ich an der Schwelle einer entscheidenden Erklärung stände.

Allein jeder von uns verfolgte, des anderen nicht achtend, seine eigenen Gedanken. Mein Onkel schenkte meinen Worten wiederum keine Aufmerksamkeit, sondern ließ schweigend den Kopf hängen, und ich hätte annehmen können, daß er mich überhaupt nicht gehört, wäre seine nächste Rede nicht eine Art Echo der meinigen gewesen.

»Ich würd‘ nichts von dem Geschwätz zu Mary sagen,« bemerkte er und begann weiterzugehen.

Am Rande der Bucht von Aros läuft ein Rasenstreifen, auf dem leicht gehen ist; ihm entlang folgte ich schweigend meinem schweigenden Verwandten. Vielleicht war ich auch ein wenig enttäuscht, eine so gute Gelegenheit für mein Liebesgeständnis versäumt zu haben. Weit stärker jedoch beschäftigte mich die Veränderung, die mit meinem Onkel vorgegangen war. Er war niemals ein gewöhnlicher oder, im engeren Sinne des Wortes, liebenswürdiger Mensch gewesen; aber selbst in seinen schlimmsten Zeiten hatte ich nichts gekannt, was eine solch merkwürdige Veränderung hätte ahnen lassen. Unmöglich konnte man sich der Tatsache verschließen, daß ihn etwas drückte; und als ich im Geiste die verschiedenen Worte an mir vorüberziehen ließ, die sich durch den Buchstaben M ausdrücken ließen, – Misere, Mary, Milde, Mangel, Mißgunst und so weiter – hielt ich mit einer Art Schrecken bei dem Worte Mord inne. Ich war dabei, den häßlichen Klang und die verhängnisvolle Bedeutung des Wortes zu erwägen, als die Richtung unseres Spazierganges uns an einen Punkt brachte, von wo aus sich die Aussicht nach beiden Seiten erschloß, rückwärts nach der Bucht von Aros und dem Gehöft und vorwärts auf die hohe See, in der im Norden eine Reihe verstreuter Inseln lagen, und die sich nach Süden hin blau und offen dem Himmel entbreitete. Hier blieb mein Führer stehen und starrte eine Weile auf die ungeheure Fläche. Dann legte er, sich zu mir wendend, eine Hand auf meinen Arm.

»Du meinst, dort drinnen wäre nichts?« fragte er, mit seiner Pfeife die Richtung andeutend. Und plötzlich rief er laut in einer Art Ekstase: »Ich sage dir, Mann, die Toten sind dort drunten – zahlreich wie die Ratten!«

Er drehte sich schroff um, und wir gingen, ohne ein weiteres Wort, den Weg zurück nach dem Haus von Aros. Ich brannte darauf, mit Mary allein zu sein; aber erst nach dem Abendessen gelang es mir, sie zu sprechen, und dann nur auf kurze Zeit. Ich hielt mich nicht mit Umwegen auf, sondern redete grade heraus von dem, was mir am Herzen lag.

»Mary,« sagte ich, »ich bin nicht ohne Hoffnung nach Aros gekommen. Sollte sie begründet sein, so können wir alle vielleicht fort von hier, an einen anderen Ort, und des täglichen Brotes und einigen Behagens sicher sein; ja, weit mehr als das wird uns vielleicht blühen, das zu versprechen jetzt in mir als Überschwang erscheinen möchte. Doch es gibt eine Hoffnung, die meinem Herzen näher liegt als Geld.« Hier machte ich eine Pause. »Du wirst leicht erraten, was das ist, Mary,« sagte ich. Sie blickte schweigend von mir hinweg. Das war nun gar geringe Ermutigung, aber ich ließ mich nicht irre machen. »Mein Lebtag habe ich die ganze Welt von dir gehalten,« fuhr ich fort; »die Zeit verfliegt, und ich halte nur noch mehr von dir. Im Leben könnt‘ ich nicht dran denken, ohne dich glücklich oder froh zu werden: du bist mein Augapfel.« Noch immer blickte sie hinweg und sprach kein Wort, aber ich meinte ihre Hände zittern zu sehen. »Mary,« rief ich angstvoll, »magst du mich nicht?«

»O, Charlie, Bub, ist es an der Zeit, davon zu sprechen?« sagte sie. »Laß mich noch eine Weile; laß mich, wie ich bin. Das Warten soll dein Schaden nicht sein!«

Aus ihrer Stimme erriet ich, daß sie dem Weinen nahe war, und hatte nur noch den einen Gedanken, sie zu trösten. »Mary Ellen,« sagte ich, »nichts mehr davon; ich bin nicht gekommen, um dich zu betrüben: dein Weg sei mein Weg, und deine Zeit soll meine sein. Du hast mir alles gesagt, was ich zu wissen wünschte. Und jetzt nur noch das eine: was quält dich?«

Sie gestand, daß es ihr Vater sei, wollte aber auf nichts eingehen, sondern schüttelte nur den Kopf und sagte, daß er nicht wohl und nicht er selber sei, und daß es jammerschade wäre. Von dem Wrack wußte sie nichts. »Ich bin nicht dort gewesen,« sagte sie. »Weshalb sollte ich dorthingehen, Charlie, Bub? Die armen Seelen sind längst zur Rechenschaft gezogen, und ich wollte, sie hätten ihr Gut mitgenommen, die Ärmsten.«

Das klang nun freilich nicht sonderlich ermutigend für meine Absicht, ihr von der »Espiritu Santo« zu erzählen, aber ich tat es dennoch, und schon beim ersten Wort stieß sie einen Ruf der Überraschung aus. »Im Monat Mai,« sagte sie, »war einer in Grisapol, ein kleiner, gelber, schwarzer Kerl, sagen die Leute, mit goldenen Ringen an den Fingern und einem Barte, und er hat allenthalben weit und breit nach dem gleichen Schiffe gesucht.«

Es war gegen Ende April gewesen, daß Dr. Robertson mir jene Papiere gegeben hatte, und plötzlich dämmerte mir auf, daß sie für diesen spanischen Geschichtsforscher oder für einen Mann, der sich als solchen ausgab, und der mit vornehmen Empfehlungen versehen sich wegen einer Forschungsexpedition über den Verbleib der großen Armada an den Rektor gewandt hatte, vorbereitet wurden. Wenn ich eins zum andern fügte, glaubte ich, daß der Besuch mit den goldenen Ringen an den Fingern vielleicht mit Dr. Robertsons Geschichtsschreiber aus Madrid identisch war. In dem Falle war es wahrscheinlich, daß er eher für sich selbst als zur Information einer gelehrten Gesellschaft nach dem Schatze suchte. Ich beschloß daher, bei meinen Nachforschungen keine Zeit zu verlieren; lag das Schiff in der Sandager Bucht, wie wohl er und ich vermuteten, so sollte es nicht diesem beringten Abenteurer, sondern Mary und mir und der guten, alten, ehrlichen und freundlichen Familie Darnaway zugute kommen.