Drittes Kapitel

Leutnant Brackenbury Rich hatte in einem der kleineren Kriege im indischen Hügellande mit großer Auszeichnung gefochten. Er hatte persönlich den feindlichen Anführer gefangengenommen, seine Tapferkeit wurde überall zum Himmel erhoben, und als er infolge einer häßlichen Säbelwunde und eines andauernden Dschungelfiebers die Heimreise antrat, war die Gesellschaft bereit, den Offizier als Stern zweiter Größe aufzunehmen. Aber da er wahrhaft bescheiden war, hielt er sich so lange in einem fremden Bade und in Algier auf, bis der Ruf seiner Taten nach nicht viel mehr als einer Woche verblaßt war und der Vergessenheit anheimzufallen anfing. Er traf schließlich im Beginn der Saison in London ein, ohne irgendwie durch Aufmerksamkeiten belästigt zu werden; und da er eine Waise war und nur entfernte Verwandte in der Provinz hatte, so fühlte er sich fast als Fremdling in der Hauptstadt des Landes, für das er sein Blut vergossen.

Am Tage nach seiner Ankunft speiste er in einem Offizierkasino. Er begrüßte mehrere alte Kameraden, die ihn beglückwünschten; aber da sie alle für den Abend versagt waren, blieb er schließlich auf sich angewiesen. Er war im Gesellschaftsanzug, denn er hatte die Absicht gehabt, ein Theater zu besuchen. Aber die Großstadt war für ihn, der aus der Provinzialschule in das Kadettenhaus und von da direkt nach Indien gekommen war, etwas Neues; und er versprach sich alle möglichen Genüsse in dieser ihm noch unbekannten Welt, als er, seinen Stock schwingend, westwärts schritt. Der beständige Wechsel der vom Lampenlicht erhellten Gesichter reizte immer wieder des Leutnants Einbildungskraft; und es kam ihm vor, als könnte er in der anregenden Großstadtluft und inmitten des geheimnisvollen Lebens von vier Millionen Seelen immer so fortwandern. Er schaute auf die Häuser und fragte sich, was wohl hinter den erleuchteten Fenstern vor sich gehe; er blickte in ein Gesicht nach dem andern, jedes von einem unbekannten verbrecherischen oder menschenfreundlichen Interesse belebt.

Was reden sie von Krieg, dachte er; hier ist das große Schlachtfeld der Menschheit.

Und dann wunderte er sich, daß er in diesem Wirrsal so lange wanderte, ohne daß seine Person irgendwie von dem Getriebe berührt wurde.

Alles zu seiner Zeit, dachte er weiter. Ich bin noch fremd und sehe vielleicht auch fremd aus. Aber bald werde ich ebenfalls in den Strudel hineingezogen sein.

Später stellte sich ein plötzlicher Regenguß ein. Brackenbury trat unter einen Baum, als er einen Droschkenkutscher bemerkte, der ihn durch Zeichen zum Einsteigen einlud. Da der Regen anhielt, erhob er zur Antwort seinen Stock und saß bald in der »Londoner Gondel«.

»Wohin?« fragte der Kutscher.

»Wohin Sie wollen,« antwortete der Offizier.

Und augenblicklich fuhr die Droschke mit auffallender Schnelligkeit davon und in das Meer der Landhäuser Westlondons hinein. Eine Villa glich der andern, jede war mit einem Vorgarten versehen, und die menschenleeren Straßen, durch die der Wagen dahinflog, boten so wenig Bemerkenswertes, daß Brackenbury bald alle Orientierungsversuche aufgab. Er hätte denken können, daß der Kutscher ihn zum Spaß immer wieder durch dieselben Straßen fahre, aber die geschäftsmäßige Eile deutete auf ein bestimmtes Ziel, über das sich der Gast allen möglichen Gedanken hingab. Er hatte von Fremden gehört, die in London in Mörderhände geraten waren. War auch ihm ein solches Los zugedacht?

Aus diesen Gedanken riß ihn das plötzliche Halten des Wagens vor dem Gartentor einer hellerleuchteten Villa in einer langen und breiten Straße. Soeben war eine andere Droschke wieder fortgefahren, und Brackenbury konnte noch sehen, wie ein Herr an der Eingangstür des Hauses von mehreren Dienern in Livree empfangen wurde. Es wunderte ihn, daß der Kutscher gerade vor einem Hause hielt, in dem offenbar eine Gesellschaft stattfand; doch hielt er dies für bloße Sache des Zufalls. Er blieb ruhig sitzen, bis der Kutscher rief:

»Hier sind wir!«

»Hier?« wiederholte Brackenbury. »Wo?«

»Sie sagten, ich sollte Sie fahren, wohin ich wollte, und hier sind wir nun.«

Brackenbury fiel die für einen Droschkenkutscher ungewöhnlich gewählte Sprechweise auf, auch der Wagen war, wie er nun bemerkte, viel prächtiger als die gewöhnlichen Droschken.

»Was bedeutet das?« sagte er. »Wollen Sie mich im Regen absetzen? Ich denke, mein guter Mann, das kommt auf mich an.«

»Sicher kommt es auf Sie an,« versetzte der Kutscher, »aber wenn ich den Sachverhalt auseinandersetze, wird ein Herr wie Sie wohl anders entscheiden. Der Besitzer eines Hauses dort gibt Gesellschaft. Ich weiß nicht, ob der Herr in London fremd oder ein Einheimischer ist. Jedenfalls habe ich den Auftrag, einzelne anständig gekleidete Herren aufzugreifen, insonderheit Offiziere. Sie brauchen nur hineinzugehen und zu sagen, Herr Morris habe Sie eingeladen.«

»Sind Sie Herr Morris?« fragte der Leutnant.

»O nein, Herr Morris ist der Hausherr.«

»Das ist eine ungewöhnliche Art, Gäste zusammenzubringen,« sagte Brackenbury. »Wenn ich nun die Einladung zurückweise, was dann?«

»Dann habe ich Anweisung, Sie an die Stelle zurückzubringen, wo ich Sie fand, und bis Mitternacht nach andern Gästen auszuschauen.«

Diese Worte brachten den Leutnant sofort zum Entschluß.

Wenigstens, dachte er, habe ich nicht lange auf ein Abenteuer zu warten brauchen.

Kaum war er ausgestiegen, so fuhr der Kutscher trotz des Leutnants Rufen ohne Fahrgeld in derselben Eile davon.

Aber seine Stimme war im Hause vernommen worden, und ein Diener eilte herbei und hielt ihm einen Schirm über den Kopf.

»Der Kutscher ist bezahlt,« bemerkte der Diener im höflichsten Tone und geleitete Brackenbury in das Haus, wo ihm andere Diener Hut, Stock und Überrock abnahmen und ihn eine mit tropischen Pflanzen geschmückte Treppe hinaufführten, wo ihn der Kammerdiener nach seinem Namen fragte und mit lauter Stimme »Leutnant Brackenbury Rich« rufend in das Empfangszimmer geleitete.

Ein schlanker und auffallend schöner junger Mann trat ihm hier entgegen und grüßte ihn höflich und freundlich. Hunderte von feinsten Wachskerzen erleuchteten den Raum, der wie die Treppe mit einer Fülle seltener und schöner Blumen geschmückt war. An der Seite stand ein mit lockenden Speisen beladener Tisch. Verschiedene Diener gingen mit Früchten und Wein ab und zu. Es waren etwa sechzehn Personen, meist in der Blüte der Jugend und fast ohne Ausnahme von kühnem vielversprechendem Gesichtsausdruck, anwesend. Sie bildeten zwei Gruppen, von denen eine Roulett und die andere Bakkarat spielte.

Ich sehe, dachte Brackenbury, ich bin in einer Spielgesellschaft, und der Kutscher war ein Schlepper. Nachdem ihn ein schneller Überblick zu diesem Schluß gebracht hatte, kehrte sein Auge zu seinem Wirt zurück, der ihn noch immer an der Hand hielt. Das Bild des eleganten liebenswürdigen Mannes, dessen Gesicht eine mutige Seele widerspiegelte, paßte so gar nicht zu dem Besitzer einer Spielhölle, und auch seine Redeweise schien auf etwas ganz anderes hinzudeuten. Gegen seinen eigenen Willen empfand Brackenbury eine merkwürdige Sympathie für seinen jungen Wirt.

»Ich habe von Ihnen gehört, Leutnant Rich,« sprach dieser mit leiserer Stimme, »und glauben Sie mir, Ihre Bekanntschaft ist mir außerordentlich wertvoll. Ihr Aussehen entspricht ganz dem Rufe, der Ihnen vorangeht. Und wenn Sie das Ungewöhnliche der Einladung übersehen wollen, so wird dies für mich nicht nur eine Ehre, sondern auch eine wahre Freude sein. Ein Mann, der mit barbarischen Feinden kurzen Prozeß zu machen gewohnt ist,« fügte er lachend hinzu, »wird es wohl mit einem Fehler der Etikette nicht so genau nehmen.«

Damit führte er ihn zum Speisetisch und bat ihn zuzulangen.

Brackenbury versuchte den Champagner und fand ihn vorzüglich, zündete sich nach dem Beispiel der andern eine Manila an, dann wandte er sich zum Roulett, wo er hin und wieder einen Einsatz wagte. Dabei bemerkte er, daß der Hausherr, der sich, anscheinend nur mit seinen Wirtspflichten beschäftigt, emsig hin und her bewegte, seine Gäste einer scharfen Musterung unterzog. Er achtete darauf, wie die Spieler ihren Verlust trugen, wie hohe Einsätze sie machten, er stellte sich hinter Paare, die in tiefem Gespräch begriffen waren, und ließ sich kaum einen charakteristischen Zug entgehen. Brackenbury nahm dies mit größtem Erstaunen wahr und fand auch bei schärferer Betrachtung seines ihn immer mehr interessierenden Wirtes, daß dieser trotz seines immer bereiten freundlichen Lächelns wie hinter einer Maske einen kummervollen, traurigen Ausdruck trug.

Dieser Morris, dachte er, verfolgt irgendeinen tieferliegenden Zweck, den ich ergründen will.

Von Zeit zu Zeit rief Herr Morris einen der Besucher beiseite, nahm ihn mit sich in ein Vorzimmer und kehrte allein zurück, während sich der Gast nicht mehr sehen ließ. Um zunächst hinter dieses Geheimnis zu kommen, stahl sich der Leutnant unbemerkt in das Vorzimmer und verbarg sich dort in einer tiefen, von grünen Vorhängen verhüllten Fensternische. Er brauchte nicht lange zu warten, bis er Herrn Morris mit einem Gaste hereinkommen sah, der ihm schon vorher durch sein etwas rohes Benehmen aufgefallen war. Das Paar blieb dicht vor dem Fenster stehen, so daß Brackenbury kein Wort von der folgenden Unterhaltung entging:

»Ich bitte tausendmal um Vergebung,« begann Herr Morris, »wenn ich eine Frage an Sie richte, denn ich kann mich nicht besinnen, Sie früher schon gesehen zu haben, und ich fürchte, es liegt hier irgendein Mißverständnis vor, zu dessen Lösung es zwischen Männern von Anstand und Ehre nur eines Wortes bedarf. In wessen Hause glauben Sie zu sein?«

»In Herrn Morris‘,« erwiderte der andere, der die Anrede mit steigender Verwirrung angehört hatte.

»Herrn John oder James Morris‘?«

»Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen,« war die Antwort, »da ich mit dem Herrn persönlich so wenig bekannt bin wie mit Ihnen.«

»Ich sehe,« sagte Herr Morris. »Weiter unten in der Straße wohnt ein Herr gleichen Namens. Ich bin glücklich, infolge der Verwechslung Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, doch könnte ich es nicht verantworten, Sie länger von Ihren Freunden zu trennen. John,« fügte er mit lauter Stimme zu dem sich nähernden Diener gewendet hinzu, »seien Sie dem Herrn behilflich.«

Und damit geleitete er den Gast auf das höflichste zur Tür hinaus. Als er wieder bei dem Fenster vorüber zum Empfangszimmer ging, hörte ihn Brackenbury wie unter dem Druck einer schweren Last tief seufzen.

Noch eine Stunde lang brachten die Droschken so viele neue Gäste, daß die Zahl der Besucher sich trotz der Privatgespräche Herrn Morris‘ etwa auf gleicher Höhe hielt. Aber dann wurden die Neuankömmlinge seltener, bis sie endlich ganz ausblieben, während das Aussieben mit unverminderter Schnelligkeit vor sich ging. Das Empfangszimmer fing an leer auszusehen, das Bakkarat mußte aufgegeben werden, weil es an einem Bankhalter fehlte; mehr als ein Gast empfahl sich aus eigenem Antrieb. Der Wirt aber verdoppelte seine Aufmerksamkeit gegen die Zurückbleibenden und verstand es, durch eine fast weibliche Liebenswürdigkeit alle Herzen für sich zu gewinnen.

Als sich die Anzahl der Gäste schon bedeutend gelichtet hatte, ging Leutnant Rich, um einen Augenblick frische Luft zu atmen, hinaus. Doch welcher überraschende Anblick bot sich ihm, sobald er die Schwelle des Vorzimmers überschritten hatte! Die Ziergewächse waren von der Treppe verschwunden, drei Möbelwagen standen vorm Gartentor, und die Diener waren dabei, das Haus auf allen Seiten seines Aufputzes zu berauben. Es erinnerte an ein ländliches Fest, für das ein Unternehmer Eintagsbauten errichtet hatte.

Brackenbury, dessen Interesse durch alle diese überraschenden Wahrnehmungen auf das höchste gesteigert war, benutzte die Gelegenheit und stieg eine weitere Treppe zu den oberen Räumen des Hauses hinan. Er ging durch alle Zimmer und fand nicht ein Stück Hausrat darin. Das Haus war schön bemalt und tapeziert, aber offenbar weder jetzt bewohnt, noch seit langer Zeit bewohnt gewesen. Nur mit großen Kosten konnte der Bau mit dem bestehenden Schimmer umkleidet worden sein.

Wer war aber dann Herr Morris? Was bewog ihn, für eine Nacht im äußersten Westen Londons den Hausherrn zu spielen und seine Gäste von der Straße auflesen zu lassen?

Dem Leutnant fiel ein, daß er schon zu lange vom Empfangszimmer ferngeblieben war, und er eilte zur Gesellschaft zurück.

Es hatten sich inzwischen noch mehrere Gäste entfernt, so daß mit dem Leutnant und dem Wirt nur noch fünf Personen im Zimmer waren. Herr Morris sah den Leutnant lächelnd an, als er wieder hereintrat, und erhob sich sofort.

»Meine Herren,« sagte er, »es ist Zeit, Ihnen den Zweck meiner Einladung mitzuteilen. Ich glaube, die Zeit wird Ihnen nicht lang geworden sein, aber ich gestehe, nicht Ihre Unterhaltung, sondern die Erfüllung einer egoistischen Absicht war das Ziel meiner Veranstaltung. Sie sind, dafür bürgt mir Ihre Erscheinung, sämtlich Ehrenmänner. Darum spreche ich mich unverhohlen aus. Ich bitte Sie um einen gefährlichen Dienst, bei dem Sie vielleicht Ihr Leben aufs Spiel setzen und dabei noch betreffs alles dessen, was Sie sehen und hören, strengste Verschwiegenheit würden beobachten müssen. Ich weiß wohl, das ist ein höchst sonderbares Begehren von einem Ihnen völlig Fremden, und sollte daher einer von Ihnen Bedenken tragen, sich weiter auf ein so abenteuerliches, gefährliches Unternehmen einzulassen, hier ist meine Hand: ich werde ihm ohne Groll Lebewohl sagen.«

Ein sehr langer Wann mit schwarzem Haar entsprach diesem Appell sofort und sagte:

»Ich lobe Ihre Offenheit und werde meinerseits gehen, denn ich leugne nicht, die Sache kommt mir recht bedenklich vor. Wie gesagt, ich gehe, und Sie werden vielleicht denken, ich hätte kein Recht, noch weitere Worte darüber zu verlieren.«

»Im Gegenteil,« versetzte Herr Morris, »ich bin Ihnen für alle Worte verbunden. Man kann meinen Vorschlag gar nicht ernst genug nehmen.«

»Nun, meine Herren, was sagen Sie?« wandte sich der Lange an die andern. »Wir haben einen vergnügten Abend gehabt. Wollen wir ruhig zusammen nach Hause gehen? Sie werden morgen mein Beispiel preisen, wenn Sie wieder in Unschuld und Sicherheit die Sonne sehen.«

Die letzten Worte sprach er mit erhobener Stimme und ergreifendem Ausdruck. Ein zweiter Gast sprang vor Hast und Unruhe auf und verließ mit dem ersten das Zimmer, so daß nur noch Brackenbury und ein alter rotnasiger Kavalleriemajor zurückblieben, die nach einem schnellen Blick gegenseitigen Einverständnisses mit gleichgültiger Miene dasaßen, als ginge sie die ganze Verhandlung nichts an.

Kaum hatte Herr Morris hinter den Ausreißern die Tür geschlossen, so redete er die Offiziere mit folgenden Worten an:

»Ich habe meine Leute ausgewählt wie Josua, und ich glaube, ich habe nun die Auslese von ganz London. Sie gefielen meinen Boten, Ihre Erscheinung gewann sofort mein Herz; ich habe Ihr Spiel und wie Sie Ihre Verluste trugen, scharf beobachtet, und jetzt haben Sie meine Erklärung aufgenommen, als handelte es sich um eine Einladung zu einem Schmause. Nicht umsonst bin ich seit Jahren der Schüler des tapfersten und weisesten Fürsten Europas gewesen.«

Nachdem der Major etwas über die jammervollen Hunde, die vor der Schlacht desertieren, gebrummt hatte, stellte er sich dem Leutnant als Major O’Rooke, einen Veteranen aus den indischen Feldzügen, vor und sprach sodann, zu dem Hausherrn gewandt:

»Und nun, was gibt es? Ein Duell?«

»Ein ganz besonderes Duell,« erwiderte Herr Morris, »ein Duell mit unbekannten und gefährlichen Feinden, und, wie ich glaube, ein Duell auf den Tod. Nennen Sie mich,« fuhr er fort, »nicht mehr Morris, sondern Hammersmith; meinen wahren Namen wie den einer andern Person, der ich Sie bald vorzustellen hoffe, bitte ich Sie noch zurückhalten zu dürfen. Vor drei Tagen verschwand dieser Freund plötzlich aus seiner Wohnung, ohne daß ich bis heute morgen irgendeine Ahnung von seinem Aufenthaltsort hatte. Sie werden sich meine Beunruhigung vorstellen, wenn ich Ihnen mitteile, daß er im Begriff ist, auf eigene Faust Gerechtigkeit auszuüben. Infolge eines unglückseligen Eides glaubt er sich verpflichtet, ohne den Beistand der Gesetze die Erde von einem tückischen und blutdürstigen Verbrecher zu befreien. Zwei von unsern Freunden, darunter mein eigener Bruder, sind dabei bereits zum Opfer gefallen, und er selbst ist, wenn ich mich nicht sehr täusche, in dieselben tödlichen Schlingen gefallen. Aber wenigstens lebt er noch, wie Sie aus dieser Mitteilung ersehen.«

Und der Sprecher, der kein anderer als Oberst Geraldine war, zog einen Brief hervor und las:

»Major Hammersmith, Mittwoch, um 3 Uhr morgens, wird Sie ein Mann, der durchaus in meinem Interesse handelt, durch eine kleine Tür in den Garten vom Rochester-Haus, Regents-Park, einlassen. Kommen Sie keine Sekunde später. Bringen Sie meine Degen und, wenn das möglich ist, einen oder zwei zuverlässige und verschwiegene Männer mit, die mich nicht kennen. Wein Name darf nicht genannt werden.

T. Godall.«

»Im übrigen,« fuhr Oberst Geraldine fort, »weiß ich ebensowenig über die Lage meines Freundes als Sie. Sobald ich dieses Lebenszeichen erhalten, beauftragte ich einen Unternehmer mit dem festlichen Aufputz dieser baufälligen Baracke. Mein Verfahren war zum mindesten originell, und ich freue mich nun meines Gedankens, der mir den Beistand zweier Männer wie des Majors O’Roote und des Leutnants Brackenbury Rich verschafft hat.«

Der Oberst sah nach seiner Uhr und bemerkte weiter:

»Es ist bald zwei Uhr. Wir haben eine Stunde vor uns, und ein schneller Wagen hält vor der Tür. Kann ich auf Ihre Hilfe rechnen?«

»Während eines ganzen langen Lebens,« versetzte der Major, »habe ich niemals die einmal dargereichte Hand wieder zurückgezogen.«

Auch Brackenbury gab seiner Bereitwilligkeit geziemenden Ausdruck, und nachdem sie noch ein Glas Wein getrunken hatten, gab der Oberst jedem einen geladenen Revolver, und alle drei stiegen in den Wagen und fuhren nach der angegebenen Adresse davon.

Rochester-Haus war ein prächtiges Gebäude am Themsekanal, das durch einen ungewöhnlich großen Garten von den Nachbarhäusern isoliert war. Von der Straße aus konnte man keinen Lichtschimmer an einem der zahlreichen Fenster bemerken, und das ganze Grundstück zeugte von Vernachlässigung, wie wenn der Hausherr lange Jahre fern gewesen wäre.

Der Wagen hielt, die drei Männer stiegen aus, und bald war auch die kleine Gartentür aufgefunden. Es fehlten noch zehn bis fünfzehn Minuten, und da es stark regnete, traten die drei unter herabhängende dichte Efeuranken und unterhielten sich leise von den Dingen, die da kommen sollten.

Plötzlich erhob Geraldine seinen Finger, wie um Stillschweigen zu gebieten, und alle drei lauschten auf das gespannteste. Durch das Klatschen des Regens hörte man von der andern Seite der Gartenmauer die Schritte und Stimmen zweier Männer, und Brackenbury, der ein besonders feines Gehör besaß, konnte sogar manches von ihrem Gespräch verstehen.

»Ist das Grab fertig?« fragte der eine.

»Ja,« antwortete der andere, »hinter der Lorbeerhecke. Wir können ihm dann noch ein Märtyrerkreuz daraufsetzen.«

Der erste Sprecher lachte und der Klang seines Lachens ging den Lauschern durch Mark und Bein.

»In einer Stunde,« sagte er.

Und aus dem Geräusch der Schritte merkte man, daß sich das Paar nach verschiedenen Richtungen entfernte.

Kurz darauf öffnete sich die Gartentür, ein weißes Antlitz spähte hinaus, und eine Hand winkte den dreien. Ohne jedes Wort traten sie durch die Tür, die sich sofort hinter ihnen schloß, und folgten ihrem Führer durch verschiedene Gartenwege zum Kücheneingang des Hauses. In dem großen, sonst ganz öden Küchenraum brannte eine Kerze, und als sie die Wendeltreppen hinanstiegen, ließ das raschelnde Geräusch zahlreicher davoneilender Ratten noch mehr auf die Unbewohntheit des Hauses schließen.

Der Voranschreitende war ein magerer, sehr gebückter, aber noch lebhafter Mann, der sich von Zeit zu Zeit umwandte und durch seine Handbewegungen zum Schweigen und zur Vorsicht mahnte. Der Oberst folgte ihm, den Kasten mit den Degen unter einem Arm und die Pistole in der andern Hand, auf den Fersen. Brackenburys Herz schlug heftig. Er merkte, daß sie noch zur rechten Zeit gekommen, schloß aber aus der behenden Eile des Alten, daß die entscheidende Stunde nahe war.

Oben angekommen, öffnete der Führer eine Tür und ließ die drei Offiziere in ein von einer rauchigen Lampe und der Glut eines kleinen Kaminfeuers erhelltes Zimmer vorangehen. Am Kamin saß ein Mann in der Blüte des Lebens von untersetzter, aber imponierender Gestalt. Seine Haltung und Miene drückten völlige Seelenruhe aus, und er schien seine Havanna mit großem Genuß zu rauchen.

»Willkommen!« rief er und streckte Oberst Geraldine seine Hand entgegen. »Ich wußte, daß ich mich auf Ihre Pünktlichkeit verlassen könnte.«

»Auf meine Ergebenheit,« sagte der Oberst, sich verneigend.

»Stellen Sie mich Ihren Freunden vor,« fuhr der erste fort; und nachdem dies geschehen, fügte er mit ausgesuchter Leutseligkeit hinzu: »Ich wünschte, meine Herren, ich könnte Ihnen ein angenehmeres Programm vorschlagen und müßte nicht unsere Bekanntschaft in so ernster Weise einleiten. Aber die Verhältnisse sind diesmal stärker als die Gebote der Höflichkeit. Ich hoffe fest, Sie verzeihen mir diesen unangenehmen Abend; Männern Ihrer Art wird das Bewußtsein genügen, mir eine große Gefälligkeit erwiesen zu haben.«

»Eure Hoheit,« sagte der Major, »muß meine Plumpheit verzeihen. Ich kann mich nicht verstellen. Schon der Major Hammersmith machte mich stutzig, aber Herr Godall läßt keinen Zweifel übrig. Es ist zu viel vom Zufall verlangt, wenn man zwei Männer in London sucht, die den Prinzen Florisel von Böhmen nicht kennen.«

»Prinz Florisel!« rief Brackenbury erstaunt.

Und er schaute mit größtem Interesse in die Züge der vielgepriesenen Persönlichkeit.

»Ich will den Verlust meines Inkognitos nicht beklagen,« sagte der Prinz, »denn ich kann Ihnen um so besser danken. Sie würden sicher für Herrn Godall ebensoviel wie für den Prinzen getan haben, aber der letztere kann vielleicht mehr für Sie tun. Der Gewinn ist mein,« fügte er mit höflicher Handbewegung hinzu.

Im nächsten Augenblick war er mit beiden Offizieren in ein lebhaftes Gespräch über indische Verhältnisse vertieft, über die er sich vorzüglich orientiert erwies.

Brackenbury konnte nicht umhin, die größte Bewunderung für einen Mann zu empfinden, der in der Stunde der höchsten Gefahr eine solche Selbstbeherrschung und Kaltblütigkeit zeigte.

Nach einigen Minuten erhob sich der Mann, der die drei eingelassen und der in einer Zimmerecke mit der Uhr in der Hand gesessen hatte, und flüsterte dem Prinzen etwas ins Ohr.

»Es ist gut, Dr. Noël,« erwiderte der Prinz laut und fügte hinzu: »Entschuldigen Sie, meine Herren, wenn ich Sie im Dunkeln lasse. Der Moment naht.«

Dr. Noël löschte die Lampe aus. Ein schwacher grauer Schein, der Vorbote der Dämmerung, drang durch das Fenster, konnte aber das Zimmer nicht erhellen; und als der Prinz aufstand, vermochte man seine Züge nicht zu unterscheiden, noch die Art der Erregung, die aus seiner Stimme herausklang, zu erkennen. Er bewegte sich nach der Türe zu und stellte sich mit der Haltung gespannter Erwartung auf einer Seite auf.

»Sie werden,« sagte er, »so freundlich sein, vollkommenes Schweigen zu bewahren und sich im dichtesten Schatten zu verbergen.«

Die Offiziere und der Arzt gehorchten, und zehn Minuten hörte man im Rochester-Hause nichts als das Nagen der Ratten am Holzwerk. Da ward die Stille jäh durch das Knarren einer Türangel unterbrochen, und kurz darauf hörte man jemand leise und vorsichtig die Küchentreppe heraufkommen. Der Eindringling schien nach jedem Schritte innezuhalten und zu lauschen, und während dieser Pausen, die den horchenden Männern ewig lang zu sein schienen, wurden diese von tiefer Unruhe ergriffen. Dr. Noël, dem doch die Aufregung der Gefahr nichts Neues war, empfand eine fast jammervolle physische Schwäche; sein Atem pfiff in den Lungen, seine Zähne knirschten, und es knackte hörbar in seinen Gelenken, wenn er nervös seine Lage änderte.

Schließlich legte sich eine Hand auf die Türklinke, der Bolzen hob sich mit leichtem Knacken. Es folgte eine neue Pause, in der sich der Prinz, wie Brackenbury bemerkte, leise etwas zusammenduckte, und eine Gestalt erschien auf der Schwelle und stand regungslos. Es war ein hochgewachsener Mann, der ein Messer in der Hand hielt. Selbst im Zwielicht sahen sie seine gefletschten Oberzähne schimmern, denn sein Mund war offen wie der eines sprungbereiten Hundes. Offenbar war er noch vor ein oder zwei Minuten bis über den Kopf im Wasser gewesen, und immer noch rannen Tropfen von seinen Kleidern auf den Boden.

Im nächsten Moment überschritt er die Schwelle. Ein Satz, ein erstickter Schrei, ein momentanes Ringen, und ehe noch Oberst Geraldine zu Hilfe springen konnte, hielt der Prinz den entwaffneten wehrlosen Wann an den Schultern.

» Dr. Noël,« sagte er, »seien Sie so gut und zünden wieder die Lampe an!«

Und nachdem er den Gefangenen Geraldines und Brackenburys Fürsorge überlassen hatte, schritt er durch das Zimmer und setzte sich mit dem Rücken nach dem Kamin. Sobald die Lampe brannte, bemerkten alle eine ungewohnte Strenge in den Mienen des Prinzen, der sich mit der Majestät eines Herrschers und mit tödlichem Ernste an den gefangenen Präsidenten des Selbstmordklubs wandte:

»Präsident,« sagte er, »Sie haben Ihre letzte Schlinge gelegt und sich selbst darin gefangen. Der Tag beginnt, mit ihm Ihr letzter Morgen. Sie sind eben durch den Kanal geschwommen; es war Ihr letztes Bad in dieser Welt. Ihr alter Genosse, Dr. Noël, hat mich so wenig verraten, daß er vielmehr Sie in meine Hände lieferte. Und das Grab, das Sie eben für mich graben ließen, soll Ihr eigenes verdientes Geschick vor den Augen der Menschheit verbergen. Knie nieder und bete; denn deine Zeit ist kurz, und Gott ist deiner Frevel satt.«

Der Präsident verharrte stumm und regungslos, mit gebeugtem Haupt und auf den Boden gehefteten Blicken, als wollte er den durchbohrenden Augen des Prinzen entgehen.

»Meine Herren,« fuhr Florisel in seinem gewöhnlichen Tone fort, »dieser Bursche hat meiner lange gespottet, aber endlich habe ich ihn nun, dank Dr. Noëls Beistand. Seine Missetaten sämtlich aufzuzählen, dazu reicht unsere Zeit nicht, doch wäre der Kanal nur vom Blute seiner Opfer erfüllt, glauben Sie mir, er wäre nicht trockener, als er jetzt ist. Aber selbst ihm gegenüber will ich die Gebote der Ehre nicht außer acht lassen. Jedoch Sie sind Zeugen, meine Herren, es handelt sich hier mehr um eine Exekution als um ein Duell, und es hieße die Etikette zu weit treiben, wollte ich ihm die Wahl der Waffen lassen. Ich kann mein Leben um seinetwillen nicht in die Schanze schlagen, und da eine Pistolenkugel oft den Weg des Zufalls geht und so manches Mal des zitternden Feiglings Kugel den Mann von Mut und Kraft trifft, so mag das Schwert entscheiden.«

Und damit wies er auf den Kasten mit den Degen und sagte zum Präsidenten: »Schnell, wählen Sie eine Klinge; es drängt mich, mit Ihnen für immer fertig zu werden.«

Zum ersten Male hob der Verbrecher wieder den Kopf, und offenbar wuchs ihm der Mut.

»Soll es ausgefochten werden?« fragte er eifrig, »und zwischen uns beiden?«

»Ich will Ihnen die Ehre antun.«

»Wohlan,« rief der Präsident. »In gleichem Kampf – wer weiß, wie der Würfel rollt? Und kommt’s zum Schlimmsten, so falle ich wenigsten von der Hand eines der tapfersten Männer Europas.«

Damit trat er zum Tisch und wählte sich nach peinlicher Prüfung eine Waffe. Er schien so hoffnungsvoll, als könnte ihm der Sieg nicht fehlen. Seine Zuversicht beunruhigte die andern, und sie beschworen den Prinzen, sich nicht der Gefahr auszusetzen.

»Es ist nur ein Possenspiel,« antwortete dieser, »und ich glaube, ich kann Ihnen versprechen, meine Herren, es wird bald zu Ende sein,« und zu Geraldine gewendet, »habe ich je versäumt, eine Ehrenschuld abzutragen? Ich bin Ihnen den Tod dieses Mannes schuldig, und Sie sollen ihn haben.«

Nachdem sich der Prinz sodann ebenfalls einen Degen gewählt hatte, fuhr er fort:

»Oberst Geraldine und Dr. Noël, erwarten Sie mich gefälligst in diesem Zimmer. Ich wünsche keinen persönlichen Freund hierbei beteiligt. Major O’Rooke, wollen Sie sich des Präsidenten annehmen? Leutnant Rich wird so gut sein, mir beizustehen; ein junger Mann kann nicht genug Erfahrung in solchen Sachen haben.«

»Eure Hoheit,« versetzte Brackenbury, »es ist für mich eine Ehre, die ich als die höchste schätze.«

»Hoffentlich,« entgegnete der Prinz, »kann ich Ihnen einmal meine Freundschaft in einer wichtigeren Angelegenheit beweisen.«

Mit diesen Worten ging er den andern voran die Küchentreppe hinunter.

Die beiden Zurückbleibenden öffneten das Fenster, lehnten sich hinaus und strengten alle Sinne an, um durch irgendein Zeichen den Verlauf des tödlichen Zweikampfes zu erkennen. Der Regen war vorüber, der Tag brach an, die Vögel fingen an zu singen. Der Oberst und der Arzt sahen die Männer im Gebüsch verschwinden, dann aber war alles totenstill.

»Er hat ihn zum Grabe geführt,« sagte Dr. Noël mit einem Schauder.

»Gott,« rief der Oberst, »stehe dem Gerechten bei!«

Und sie warteten, ohne weiter ein Wort zu sprechen, der Doktor zitternd vor Furcht, der Oberst von Schweiß bedeckt. Nach vielen Minuten quälendster Ungewißheit hörten sie endlich Schritte sich nähern, und bald sahen sie auch den Prinzen und die beiden indischen Offiziere zurückkehren.

»Ich schäme mich meiner Erregung,« sagte Prinz Florisel, »aber die Existenz dieses Höllenhundes nagte an mir wie eine Krankheit, und sein Tod hat mich mehr erfrischt als ein langer Schlummer. Sehen Sie, Geraldine,« fuhr er fort und warf seine Klinge auf den Boden, »da ist das Blut des Mannes, der Ihren Bruder tötete. Es sollte ein willkommener Anblick sein. Und doch, wie sonderbar sind wir Menschen! Noch ist es nicht fünf Minuten her, daß ich mir Genugtuung verschaffte, und schon frage ich mich, ob eine Genugtuung in diesem Leben überhaupt möglich ist. Das Adle, das er tat, wer kann es ungeschehen machen? Ist Geraldines Bruder weniger tot und sind tausend andere unschuldige Personen weniger ins Verderben gestürzt?«

»Der Gerechtigkeit ist Genüge geschehen,« versetzte der Doktor. »Soviel ist klar. Die Lehre war, Eure Hoheit, für mich eine grausame; und mit Bangen erwarte ich meinen Spruch.«

»Was sagte ich?« rief der Prinz, sich aus seinen Gedanken aufraffend. »Ich habe die Strafe vollzogen, und hier ist neben mir der Mann, der mir helfen kann, geschehenes Anrecht gutzumachen. Ja, Dr. Noël, Sie und ich, wir haben eine schwere und ehrenhafte Aufgabe vor uns; und vielleicht haben Sie, noch ehe wir damit zu Ende sind, Ihre früheren Irrtümer mehr als ausgeglichen.«

»Und inzwischen,« sagte der Doktor, »lassen Sie mich gehen und meinen ältesten Freund begraben.«